Kategorie: Mare Più

Von England nach Irland und Schottland (20): Islay, Laphroig, Lagavulin und Ardbeg. Eine Insel und der Whisky.

Meine diesjährige Segelreise führt mich seit Juni  

die englische Südküste vom Solent nach Westen zu den Scilly Isles und von dort über  Dublin und Nordirland an die schottische Westküste  zur Insel Islay.

Es war einmal eine Insel. Sie lag weit im Westen vor der schottischen Küste, war wunderschön und viel, viel fruchtbarer als all die anderen Inseln ringsherum. Schafe grasten drauf und kernige Kerle wohnten auf ihr, mit Bärten lang wie Teppichfransen und ungeschorenem Haupthaar, die karierte Faltenröcke trugen und aus Spaß Messer in der Socke stecken hatten. Und weil die Kerle auf der Insel so kernig waren, beschlossen sie, ihr Getreide nicht rauszurücken, damit daraus pappiges Supermarkt-Scheibenbrot hergestellt würde, sondern es zu mälzen, um mit dem Malz die Hefepilze zu mästen, damit die Alkohol produzierten, den man dann destillieren könnte. 

Doch weil nichts langweiliger ist reiner Apothekenalkohol drum beschlossen sie, das scharfe Zeug erst in gebrauchten Sherryfässern jahrelang wegzusperren, um nach einem Jahrzehnt oder so das ganze mit etwas torfigem Wasser aus den Gumpen der Gegend zu strecken. „Whisky“ nannten die kernigen Kerle das brennende scharfe braune Zeug, das dabei herauskam. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann machen sie das noch heute.

Die Insel, über die ich schreibe, heißt Islay. „Aaaailiiiii“ wird das gesprochen. Von der Marina Port Ellen aus, dem einzigen Hafen, kann man die Südküste entlangwandern. Das ist reizvoll, nicht nur wegen der Schafe, sondern weil hier im Abstand von zwei Kilometern gleich drei nahmhafte Whiskybrennereien liegen: Laphroig. Lagavulin. Und Ardbeg.

Eine Gruppe kerniger bayrischer Landsleute steht vor dem Visitor Center in der Destillerie Laphroig, ein paar Schritte südlich der Küstenstraße entlang der Felsküste der Insel Islay. Ich habe Levje am Morgen in der Marina von Port Ellen hinter den Getreidefrachtern geparkt und bin mit Sven und Ida von Port Ellen losgelaufen. Und 45 Minuten später stehen wir hier.

Meine bayrischen Landsleute strahlen, während sie vor dem Schild Visitor Center warten, als würden sie gleich zum Empfang beim wiederauferstandenen Franz Joseph Strauß vorgelassen. Sie sind Kenner der Materie, keine Frage. Auf das hier haben sie lange gewartet. Drinnen unter dem grünen Schild Visitor Center geht es nüchtern her. Bücher, Schürzen, Shirts und Kappen mit der Aufschrift LAPHROIG. Und natürlich die Flaschen in den aufwändig bedruckten Edelkartons. „Irgendwie siehts hier auch nicht anders aus wie im Duty Free von Palma de Mallorca“, denke ich mir. Nur dass die Frauen in Palma ganz wuschig werden wegen des Parfüms, aber die bayrischen Männer sind nicht wuschig, aber eben voller heiliger Vorfreude auf das was da gleich kommt. Die Führung.

Ich boxe mich durch die hoffnungsfrohe Gruppe an den Schalter. „You want me to book you in?“, fragt mich die Studentin hinter dem Tresen. Dabei weiß ich doch noch gar nicht, welche Tour es gibt. Eine Verkostung? In etwa 5 Stunden. Kostet 30 schottische Pfund pro Person, mit Klein-Ida, die sich 20jährig nichts aus Whisky macht, also schlappe 110 Euro für  uns drei und ein paar Stamperl Whisky, die sie hier offensichtlich „drums“ nennen. Aber mit der Führung wirds nichts. „Die nächste in vier Stunden um halb drei“, lässt mich die Studentin wissen.

Naja. Ab jetzt vier Stunden lang den Kleiderständer mit den LAPHROIG-Sweatshirts drehen und Baseballkappen probieren ist kein wirklicher Pausenfüller. Und wenn ich mich in die Bar neben den Sweatshirts setze, brauche ich spätestens in einer halben Stunde keine „drums“ mehr. Aber wir sind ja zu Fuß. Wandern wir doch einfach weiter. Eine halbe Stunde weiter liegt ja der kleine Weiler Lagavulin. So wollte ich mal mein Boot nennen, viele Jahre ist das her.

Gesagt. Getan. Lagavulin ist tatsächlich ein Weiler. Und das Betriebsgelände von Lagavulin sieht auch nicht anders aus wie das von Laphroig. Groß. Weiß. Mit ein paar Jaguars und großkalibrigen Range Rovers auf dem Firmenparkplatz. Und verlassen unter den beiden kirchturmartigen Mälzerei-Hauben, die an ein strenges Schweizer Karthäuserkloster erinnern.

Im Visitor Center sagt mir eine der beiden Studentinnen hinter dem Kassentresen, an dem man Lagavulin-Sweatshirts und -Baseballkappen kaufen kann, dass die nächste Tour bereits ausgebucht sei. Ich sehe zwar niemand, aber zum Glück gäbe es ja die nächste Tour. In viereinhalb Stunden wäre die.

Wir wandern ein bisschen auf dem Firmengelände herum. An den Wänden hängen Fotografien kerniger Kerle, mit Bärten lang wie Teppichfransen und ungeschorenem Haupthaar, die sich im Kilt um einen Mann im Kilt mit stahlhartem Blick scharen. Man hat es wenigstens schön gemacht bei Lagavulin, ein Raum ist noch so dekoriert, wie er zu Zeiten der kernigen Kerle auf den Fotos war, Feuer im Kamin und tiefe Sessel, ja, schön war die alte Zeit. Eine der Studentinnen empfiehlt uns, doch bis zur nächsten Führung die Bar aufzusuchen, aber wir sind noch nicht am Ende mit unserem Latein und wandern einfach eine halbe Stunde weiter. In der nächsten Bucht, da liegt ja Gottseidank der kleine Weiler Ardbeg. Weil das am weitesten von Port Ellen weg ist, kommt da bestimmt keiner so leicht hin.

Die Wanderung entlang der Küste ist wunderschön. Und wo kann man schon so herrlich an einem Inselufer auf einem durchgehend geteerten Wanderweg von Destille zu Destille wandern, während auf der winzigen Straße große Automobile und gewaltige Traktoren an einem vorbeirauschen? Auf Islay scheinen die Dinge wirklich gut zu laufen.

Die Schafe, sie haben jedenfalls nichts von ihrem Gleichmut verloren. „Hauptsache kauen“, denken sie, während ich dem Segler draußen vor der Küste zusehe. Eine halbe Stunde später, nach einer Wanderung über Hügel und durch Wälder und über torfige Flüsschen stehen dann vor der Destille am Meer.

Auch hier ist das mit der Führung nicht so leicht hinzubekommen, sagt mir die Studentin hinter dem Tresen bedauernd. Aber wir könnten doch inzwischen in die Bar gehen… 

Doch Ardbeg hat gegenüber den Anderen die Nase an einer Stelle vorn. Hier gibts ein Restaurant. Es kommt ungefähr so daher wie die Klosterwirtschaft von Andechs bei mir daheim um die Ecke. Groß, und viele Menschen werden hier von meist ahnungslosen jungen Leuten bedient, die halt in Teilzeit hier jobben. Aber das Essen ist mindestens so gut wie in Andechs. Ich entscheide mich erneut für Haggis – obwohl ich weiß, was für ecklige Sachen da drin sind (siehe meinen vorvorletzten Post) schmeckt das doch gar zu gut. Auch diesmal 

kommt der Haggis als kleines Törtchen daher: Unten Haggis. In der Mitte Steckrübenpüree. Oben drauf „Mash“, Kartoffelbrei. Was mich dann aber wirklich begeistert, ist das harmlos dreinschauende Glas mit Whisky links. Der haut mir mit seinen 56% am helllichten Tag alle Lichter raus. So langsam wird der Tag mein Freund.

Und die kernigen Kerle im Kilt? Die, die das Zeug destillieren? Gibt es die noch irgendwo hier auf dem Gelände?

Soweit es mein Zustand erlaubt, wandere ich auf dem Firmengelände herum. Alle Türen stehen offen, doch die Gebäude sind verwaist und stehen unbelebt herum wie ein Freilichtmuseum. Nur die riesigen Lagerhallen scheinen voll belegt.

Ich werfe einen Blick in die Mälzerei. Kein Mensch. Kein Geräusch. Ein paar Schritte weiter höre ich jemand arbeiten. Ja richtig. Da steht einer auf der Trittleiter und schleift das Türblatt ab. Und sonst? Macht denn hier keiner Whisky? 

Auch bei den übermannsgroßen Destillationskolben ist kein Mensch. Selbst der einzige Mann im Kilt zwischen den Whiskyfässern trägt etwas ratlos seine Wasserflasche hin und her, er entpuppt sich als Besucher, wie ich. Ich vermisse ein altes Gesicht auf dem Gelände. Ein Gesicht, das davon erzählt, wie es ist, in guten wie in schlechten Tagen für „seine“ Whisky-Destille jeden Morgen aufzustehen. Aber langsam bin ich mir sicher, hier in Ardbeg werde ich dieses ehrliche alte Gesicht so wenig finden wie in Lagavullin oder Laphroig. Und auch nicht in Caol Ila wenige Kilometer nördlich oder in Bowmore oder in Bruichladdich. Sie alle sitzen hier auf Islay.

Am Ende unseres Weges finde ich das ehrliche alte Gesicht dann doch, als ich mich mit Sven mit einem Sack Wäsche unter dem Arm zum Büro des Hafenmeisters aufmache. Ian heißt der Hafenmeister der kleinen Marina. Er ist Mitte sechzig, trägt eine Halskrause. Jeden Tag um 17 Uhr dreht er seine Runde um Hafen, um zuzusehen.

„Ich bin auf der Insel Lewis geboren, weit draußen auf den äußeren Hebrideninseln. Als junger Mann hab ich Arbeit gesucht und kam hierher nach Islay. 1986 war hier auf Islay alles am Hund. Leute, die weggingen. Häuser die verfielen, weil eine Destille nach der anderen hier dicht machte. Whisky wollte keiner mehr haben, Bitter Lemon und Gin Tonic waren angesagt. Ich war Telefontechniker hier, und wer von den Destillereibesitzern Glück hatte, der verkaufte, bevor er dichtmachten musste.

Und irgendwann ging das alles wieder los. Ich glaube ja, dass alles mit Fernost anfing, dort kam die Sache mit dem Whisky wieder ins Laufen. Aber von den alten Destillerien sind nur nur noch Namen geblieben. Aber seitdem gehts aufwärts in Islay.“

Ian grinst, als ich ihn frage, warum ich keine Arbeiter in den Destillerien sah.

„Die Mälzereien sind längst außer Betrieb, alles wird jetzt zentral hergestellt, was an gemälztem Getreide benötigt wird, hier in der Mälzerei von Port Ellen. Gebrannt wird in den Destillen immer noch, aber das wird alles zentral ferngesteuert, da kannst Du niemandem bei der Arbeit zusehen. In den einstigen Destillen wird vor allem wird der Brand in den großen Lagerhallen gelagert. Ich wünschte, Du hättest eine Führung mitgemacht. Aber ganz verkehrt sind Deine Beobachtungen ja nicht. Viel zu sehen? Gibts beim Whisky-Brennen wirklich nicht mehr.“

Und Islay?

„Die Insel ist heute wohlhabend, dank dem Whisky. Der brachte die Besucher zurück. Ohne Whisky keine Besucher. Ohne Besucher kein Geld. Viele Besucher wollen auch bleiben. Häuser sind auf Islay längst keine mehr zu kaufen, die Preise schossen enorm in die Höhe. Und ich? Ich träume, je älter ich werde, von dem Ort und der Insel, von der ich komme. Von Lewis und den äußeren Hebriden.“

Von England nach Irland und Schottland (19): Mull of Kintyre. Eine Halbinsel. Ein Song. Und die Whisky-Inseln.

Meine diesjährige Segelreise führt mich seit Juni  

die englische Südküste vom Solent nach Westen zu den Scilly Isles und von dort über Dublin und Nordirland zur Küste Süd-Schottlands.

Es ist, als hätten der Himmel und das Meer eine Pause eingelegt. Das Meer verharrt fast reglos unter einem dramatischen Wolkenhimmel, der noch nicht eins ist mit sich, ob er an diesem Spätnachmittag  noch einmal einen Eimer Sonne oder einen Eimer Regen über uns auskippen soll. 

Es ist Donnerstag, irgendwann kurz vor halb sechs. Der Wind, der eben noch da war, hat sich verzogen, wir liegen, wo wir liegen, wie in einer Pfütze. Nur noch ein schwacher Hauch fängt sich in dem großen gelben Schwachwind-Vorsegel über Levjes Bug, er treibt uns gerade mal mit eineinhalb Knoten weiter, ein schlendernder Passant wäre ein rasender Roland dagegen. Aber selbst unsere 1,5 Knoten sind nur graue Theorie. Der Strom, der vom Kap vor uns kommt, dem Mull of Kintyre, raubt uns die Fahrt. Die Logge zeigt 1,5, das GPS, das unsere Fahrt über dem Meeresboden anzeigt, sagt „0“. Wir segeln – aber auf der Stelle. Wenn das so weitergeht, sind es noch 8 Stunden bis zur Halbinsel Kintyre und ihrer südlichen Spitze, dem Mull of Kintyre.

Doch Geschwindigkeit ist nicht alles im Leben. Einfach nur sein in dieser Weite, sich spüren in diesem ungeheuerlichen Innehalten um uns herum, das ist schon viel. Mir bedeutet es in diesem Moment fast alles. 

Blicke ich nach vorn, sehe ich den Schwarm gänsegroßer Basstölpel in einer Linie majestätisch wie Schwäne über die Wasseroberfläche vor Levje ziehen und weit im Westen verschwinden, wo die Sonne hinter den Regenwolken steht und sie erleuchtet. Schaue ich hinter mich nach Südosten, sehe ich den Leuchtturm wie den Turm Isengarts einsam auf seinem Felskegel stehen. Neben Levje sitzen zwei Trottellummen auf dem Wasser, ein Elterntier und ein kleineres Jungvogel. Die pinguinähnlichen Vögel gemächlich wie die Entlein auf einem winzigen Dorfteich und nicht sechs Meilen, zehn Kilometer vom nächsten Land entfernt. Immer wieder habe ich Freude an den possierlichen Tieren, irgendein Ahnherr von ihnen muss einst Modell gestanden haben für Plastik-Badeentchen. In diesem Moment treibt der Strom sie zu nahe an Levjes Rumpf heran. Ein paar hektische Kopfwendungen, wenn Levje an sie herankommt, ein leicht beschleunigter Schlag mit den Schwimmfüssen, dann macht es ein leises „Pfluntsch“ auf dem Wasser und die beiden tauchen einfach Schnabel voraus in die Tiefe, wo sie sich für Minuten vor dem großen blauen Ungetüm in Sicherheit bringen. Abhauen kann wirklich kinderleicht aussehen.

Die Meeres-Landschaft, in der wir gerade windlos liegen, ist wie ein riesiges Amphittheater. Hinter mir der lange Schlauch des Loch Ryan, an dessen südlichem Ende wir die erste schottische Nacht im Hafen von Stranraer verbrachten. Im Osten die seltsam rundliche Insel Ailsa Craig, die sich aus dem Meer erhebt wie ein Totenschädel, der im nächsten Moment in voller Größe aus dem Wasser auftaucht. Im Norden die Meerenge, hinter der Insel Arran muss irgendwo der lange Loch Clyde mit den Häfen von Glasgow am Ende liegen.

Im Nordwesten voraus die Halbinsel Kintyre. Steile Felsen am Kap, die mit den sattgrünen Flächen ein seltsames Webmuster bilden, ein Ornament, eine Zeichenfolge, die ich so wenig deuten und lesen kann wie das Punktmuster, das der nächste Schwarm Basstölpel knapp über der Wasseroberfläche auf den Horizont vor mir tupft. Es gibt keinen Maler in diesem Moment, der die Ornamente malt, und keinen, der diese Schrift schreibt. Und doch ist es für mich in diesem Augenblick wie ein Text, dessen Bedeutung ich nur ahnen kann und in dem auch ich vorkomme als winziger Punkt.

Mull of Kintyre. Mull: Das gälische Wort für Vorgebirge. Der Name beschreibt das Gebirge an der Südspitze der Halbinsel Kintyre, die von hier aus mehr als 70 Kilometer weit aus dem Atlantik bis ins schottische Hochland in den Atlantik ragt. Der südlichste Punkt, an dem wir stehen, ist zugleich auch die engste Stelle Irland und Schottland die hier nur 17 Kilometer trennen. Irgendwo hier muss Paul McCartney seine Farm mit dem Studio gehabt haben, wo er den Song Mull of Kintyre aufzeichnete. Als der Song ein Millionenhit geworden, würde er sagen, er schrieb ihn aus keinem anderen Grund, als nur der Landschaft hier zu huldigen. Wenn es wahr wäre, könnte ich ihn beim Anblick der Landschaft gut verstehen, anders als damals, als ich den Ohrwurm zum ersten Mal hörte. Ich war 17, ich war mal wieder verliebt, und Paul McCartney lieferte die richtige Klangtapete für mein Lebensgefühl. Wäre nicht Ex-Beatle Paul McCartney der Sänger gewesen sondern Udo Jürgens, hätte man das mit Kintyre-Dudelsäcken unterlegte Stück als Schnulze abgetan. Aber so? War es einfach 1978 pure Sehnsucht auf schwarzem Vinyl, das sich als erste Schallplatte überhaupt in UK über zwei Millionen Mal verkaufte. Doch davon ist Mull of Kintyre gänzlich unbeeindruckt.

19.30 Uhr. Wir stehen vor Mull of Kintyre. Ganz links von mir sehe ich in der Ferne einen Tanker langsam vor der nordirischen Küste dahin schleichen. Immer mehr Schwärme von Basstölpeln ziehen langsam nach Norden, knapp an uns und knapp an der Wasseroberfläche vorbei. Was sie wohl dort vorne hinter dem Mull of Kintyre in der großen grauen Wand suchen?

Von Westen setzt leichter Regen ein, er zieht in Schlieren aus dem Grau über das grüne Webmuster des Vorgebirges, das eben noch grün leuchtete und jetzt hinter dem grauen Vorhang verschwindet.

Schlagartig ist Schluss mit dem Innehalten der Natur. Während die Regenfahnen über uns hinwegziehen, tauchen am Kap Seehunde nahe bei Levje auf. Sie schwimmen treuherzig wie Dackel um Levje. Erst drei. Dann fünf. Dann sind es zehn, die mit unverhohlener Neugier Kreise um das große blaue Teil ziehen. „Seid ihr was zum Spielen?“, scheinen die Schlappohren zu fragen. Ich bin wie Sven und Ida fasziniert von den Tieren, fotografiere wie ein Wilder und sehe nicht, was meine Kamera bereits sieht und rechts oben in der Ecke bereits festhält:

Races! Brechende Wellen! Stromschnellen! 

Urplötzlich setzen hackige Wellen ein, sie brechen, obwohl kein Wind weht, als würde hier der Meeresboden ansteigen und wir gleich auf eine Untiefe laufen. Levje kracht mit lauten Scheppern voran, doch es ist keine Untiefe, sondern das Wellental nach der ersten brechenden Welle. Um uns ist das Wasser tief genug, alles frei. Die Seehunde sind vergessen, wir geigen plötzlich durch die Wellen, das Schiff wird ungut hin und her geworfen, wir suchen Halt, um nicht umgeworfen zu werden im Cockpit. Die graue Regenwand vor uns hat uns und die eben noch vorhandene Weite in lichtloses Grau gepackt. Wir müssen hier irgendwie aus diesen windlosen Stromschnellen raus, ein Glück, dass ich stur war und darauf bestand, den großen Blister wegzuräumen, so ist wenigstens das Schiff seeklar für die Stromschnellen. Zehn Minuten brauchen wir, dann sind wir durch die Stromschnellen hindurch. Prasselnd setzt Regen ein, in dem das nahe Kap Mull of Kintyre hinter uns versinkt, als wäre es niemals da gewesen.

Hinter dem Mull of Kintyre ändere ich den Kurs. Unser Ziel ist Islay, „Aaailii“ gesprochen, eine der inneren Hebrideninseln im Nordwesten, 20 Seemeilen, 35 Kilometer weiter. Knapp vier Stunden geht es erst durchs große Grau, das wie Watte um uns liegt, bevor der Wind wieder da ist. Bis 23 Uhr ist es taghell, um Mitternacht tappen wir mit dem allerletzten Licht des Sonnenuntergangs entlang an Felsen und weißen und grünen Blinklichtern in die gut befeuerte Hafenbucht von Port Ellen und suchen nach einem Platz zum Ankern. Da, zwei Yachten vor uns vor Anker. Noch einen Kreis auf dem Wasser gedreht, den Anker fallen lassen, dann kann ich den Motor abstellen. Hundemüde und hellwach zugleich, bin ich aufgewühlt vom Mull of Kintyre und diesem Tag. Und neugierig auf Islay und Port Ellen. Namen, die nach schottischem Whisky schmecken.

Aber so neugierig mich die Lichter der still daliegenden Insel Islay machen: Mull of Kintyre wird mich weiter begleiten, nicht bloß als längst vergessener Song, sondern von jetzt als Ort, an dem der Himmel und das Meer eine Pause einlegten. Und mir einen besonderen Moment schenkten.

Von England nach Irland und Schottland (18): Das erste Mal Schottland. Das erste Mal Haggis.

Was tut man, wenn man den Tag auf seinem Boot im Nebel und Regen verbrachte und zum ersten Mal in einem schottischen Hafen festmacht? Man trabt durch den Regen und die Kleinstadt und sehnt sich nach einem gemütlichen Pub. Etwas Warmes braucht der Mensch.

Im südschottischen Stranraer ist das zunächst nicht so einfach. Die Stadt war bis vor wenigen Jahren Fährhafen hinüber ins nahegelegene Belfast, bis die Fährgesellschaft beschloss, den Hafen ein paar Seemeilen weiter nach Norden zu verlegen, weil der von Stranraer verlandete. Der Ort hat das bis heute nicht verwunden. So verwegen der Name immer klingt, so verwegen man ihn mit „Straanraaaaaar“ auch ausspricht: Die Hauptstraße der Kleinstadt ist verwaist, ein paar magere Schreibwarenläden und ein Plastik-Fingernagel-Studio, von guten Pubs ist nichts zu sehen. Nur Tripadvisor ist unerschütterlich und sagt, es gäbe Licht am Ende des Ortes. Wenn wir uns 20 Minuten durch den schottischen Nieselregen entlang der Bucht ostwärts kämpften, dann wäre da Henry’s Bay House Restaurant, dessen Küche immerhin 500 Leute zu viereinhalb von fünf Sternen hinriss. Wärme. Whisky. Wohlbefinden.

Tatsächlich liegt Henry’s Bay House dort, wo Stranraers Wohnhäuser enden. Und eigentlich sieht es auch so unscheinbar aus wie ein Wohnhaus. Aber das einstige Wohnzimmer ist voll, ein Tisch mit Meerblick ist noch frei. „Haggis ’n Blackpudding“ steht auf der Speisekarte, als Antipasto, na dann los. Das verstehe ich wenigstens, wenn ich schon kein Wort verstehe von dem, was die Kellner mir zu sagen versuchen.

Es ist pure Neugier, die mich reitet. Jener derbere Teil meiner bayrischen Küche, Schlachtplatte, Blut und Leberwürste, Kesselfleisch und saures Lüngerl sind mir zutiefst zuwider, vor rotem Preßack laufe ich bis heute schreiend davon. Meine Begegnung mit „Trippa a la Fiorentina“, gekochtem Kuhmagen in Streifen mit Tomaten- soße, dem florentinischen Traditionsessen, hat die Sache eher noch verschlimmert. Auch das, was wir heute als gehobene typisch mediterane Küche begreifen, war einst nichts anderes als „Arme-Leute“-Küche, für die verwertet wurde, was sich kein anderer auf den Teller legen mochte. „Spaghetti allo Scoglio“ ist das Gericht, für das aus dem Meer in den Topf kam, „was am Felsen hängengeblieben“ war. Spaghetti Bolognese waren, bevor man dafür bestes Hack verwendete, auch mal eher kleingehackte Schlachtabfälle. Die „Roba Vieja“ in Spanien, „alte Klamotten“, bringt heute restaurantmäßig die Leftovers von gestern auf den Tisch und der Pfälzer Saumagen verkocht zerkleinert, was keiner wirklich essen mag.

Da kommt mein Haggis mit Blackpudding. Schön sieht er aus, unter einer Whisky-Sahne-Sauce mit Pilzen. Eine Art Lasagne aus Haggis- und Blackpudding-Schichten, Blutwurst. Ein erster zaghafter Stich mit der Gabel. Konsistenz eines heimatlichen Fleischpflanzerls, einer Bulette, wie man auch dazu sagt.

Aaaaaaaah. Der Geschmack einer gekochten Bratwurst-Füllung entfaltet sich am Gaumen, ein leichter Duft nach Majoran und Muskatnuß. Konsistenz von lange im Bratgut mitgekochtem Getreidekörnern. Nein, das ist ja phantastisch. Ich denke, Haggis werde ich jetzt öfter essen. Auch Sven und Ida, die mit mir segeln, sind mit meiner Wahl durchaus einverstanden. Begeistert vom schottischen Essen und Haggis im Besonderen traben wir später durch den Nieselregen. Ich beschließe, fortan ein Haggis-Fan zu sein, fast wie der schottische Nationaldichter Robert Burns singe ich auf dem Heimweg zu Levje das Loblied des schottischen Haggis.

Doch so einfach ist das alles nicht. Essen findet im Kopf statt, und zunächst mal eine Etage oberhalb  des Gaumens, mit dem Denken. Als ich nach meinem zweiten Mal Haggis nachlese, was das denn eigentlich ist, sehe ich die Dinge anders. Wikipedia zitiert ein schottisches Kochbuch, daß das folgende Rezept für Haggis „nichts für schwache Nerven“ sei. Weniger, weil man als „Kochbehälter“ einen tierischen „Behälter“ den Magen eines Schweins nimmt. Auch nicht, weil man dafür Herz, Leber und Lunge in einer leichten Fleischbrühe kocht, sondern weil der Autor dezent darauf hinweist, dass beim Kochen die an der Lunge hängende Luftröhre unbedingt über den Topfrand hängen muss.

Ist  alles feingehackt und zerkocht, kommt das dann mit Pfeffer, Muskat, Nierenfett und Hafermehl in den umgedrehten Schweinemagen und wird stundenlang gekocht.

Nach der Lektüre bin ich mir nicht mehr soooooo sicher, ob ich noch mal Haggis essen oder gar ein Gedicht wie Robert Burns auf Haggis schreiben werde, das die Schotten am nationalen Burns-Feiertag Ende Januar zusammen mit Haggis angeblich genießen. 

Was ich aus meinem Haggis-Erlebnis lerne, ist die immer gleiche Erfahrung mit dem Essen: „Seelig sind die geistig Armen.“ Oder: Ein bisschen Ahnungslosigkeit brauchts, will der Mensch glücklich sein. Oder will ich jetzt wirklich genau wissen, was denn jetzt alles in heutigen Brotbackmischungen meines braven Dorfbäckers, einer Pizza beim Lieblingsbäcker oder einem simplen Semmelknödel alles drinsteckt? Und selbst der fortschrittlichste Veganer wird zugeben müssen, dass er auch nicht weiß, was immer drinsteckt in Tofu und Fermentiertem.

Nein. Der Haggis ist nur ein Beispiel. Abgesehen davon: Haggis gibt es nicht nur nach dem angegeben Rezept. Es gibt ihn – selbstverständlich – auch nach „Original Recipe“ Glutenfrei. Und auch vegetarisch, auf dem Foto ganz rechts.

Aber will ich wirklich wissen, was in der ersatzhalber statt Lunge verkochten Möhre wirklich drinsteckt?

Von England nach Irland und Schottland (17): Von tauchenden Trottellummen und Basstölpeln. Wo Irland und Schottland sich nahekommen.

Meine diesjährige Segelreise führt mich seit Juni  

die englische Südküste vom Solent nach Westen zu den Scilly Isles. Von dort kam ich in einem langen Schlag nach Irland und bin nun über Dublin 
Richtung Nordirland.

Früh am Morgen haben wir uns auf den Weg gemacht. Sven und ich sind meist um sechs Uhr auf den Beinen, Svens Tochter Ida nutzt die Zeit, um auszuschlafen, während wir rumpelnd den Anker vom Grund heraufholen, Levjes rumpelnden Motor starten und mit der ersten Strömung hinausmotoren aus dem Loch Strangford, die Küste Nordirlands entlang, die links von uns im Morgenlicht liegt. Man ist hier allein mit sich, nur ein Fischer teilt den morgendlichen Frieden vor der Mündung des großen Sees, der fast bis nach Belfast hinaufreicht. 

Doch kaum ist links am späten Vormittag die irische Küste  verschwunden, taucht rechts  aus Regen und Nebel die schottische Küste auf. Irland und Schottland liegen an dieser Stelle gerade mal 35 Kilometer auseinander, ein Stück weiter nördlich, vor der schottischen Halbinsel Mull of Kintyre, sind es noch weniger, gerade 17 Kilometer.

Langsam schleichen wir uns ran an die Küste. Grenzen, schrieb ich einmal, existierten auf dem Meer nicht, man kann keine Linien ins Meer ritzen oder Mauern darauf betonieren. Grenzen sind

in unserem Kopf, und die erstmalige Ansteuerung an eine nebelverhangene verregnete Küste, wenn man am Morgen im Sonnenlicht lossegelt, weckt das Gefühl, eine magische Grenze überschritten zu haben, irgendwohin, wo noch nie ein Mensch vorher war, das winzige eigene Ich sowieso nie.

Es regnet. Ich sitze unter der Sprayhood und blicke hinüber zum Ufer, das im Grau irgendwie trostlos wirkt. Schottland scheint ein einsames Land zu sein. Am Ufer das erste Gehöft seit Stunden. Eine steinerne Säule im Meer, die eine Untiefe markiert, kein Ort nirgendwo, so scheint es.

Vor der Steinsäule tummeln sich in Scharen Trottellummen, sie sehen niedlich aus. Anders als ihr Name es sagt, sind sie alles andere als trottelig oder gar niedlich. Eine hat einen silbrig glänzenden Fisch im Maul, sie hat ihn halb hinuntergewürgt und kann sich nicht entscheiden, ob sie erst schlucken oder besser fliehen soll. Mit hektischen Kopfbewegungen schwimmt sie weg vom herannahenden blauen Rumpf, Gier oder Furcht ringen in dem kleinen pinguinartigen Vogel miteinander, ich blicke ihr lange nach, ihr und ihrem silbern gefüllten schwarzen Schnabel, bis sie sich zu dem entschließt, was Trottellummen nun mal mit Angreifern von oben machen:

Sie breitet die Flügel, zeigt mir ihren Hintern – und taucht einfach weg in die Tiefe. Ein Vogel, der sein Heil nicht in der Luft sucht, wenn es eng wird?

Tatsächlich sind die Trottellummen hervorragende Taucher. An Land stehen und watscheln sie aufrecht und plattfüßig herum wie Pinguine. Wenn sie fliegen, sehen sie aus wie Akku-Staubsauger mit drangeschraubten Flatterflügeln. Doch das Wasser ist ihr Element. Bis zu 180 Meter (!) in die Tiefe treiben ihre Flügel sie auf ihrer Unterwasserjagd nach Heringen und Sprotten, auf ihren Tauchgängen flügeln sie unter Wasser mit geöffnetem Schnabel durch Schwärme von Fischen hindurch, wie tief die auch sein mögen. Fliehen sie, haben sie als einzige Vögel die Wahl: Vor dem, was von unten nach ihnen schnappt, steigen sie in die Luft. Und kommt ein dicker Brummer an wie Levje von oben, dann tauchen sie einfach weg, vor uns abgetauchte Trottellummen sehe ich minutenlang nicht mehr.

Die Vogel scheinen die mir fremde steinerne Säule im Meer zu lieben. Auch die Vogelwelt ist hier vor Schottland plötzlich eine andere. Die Witzfiguren der schwarzen Kormorane sind plötzlich verschwunden, als hätte es sie nie gegeben. Stattdessen steigen die gelbköpfigen Basstölpel nahe beim Boot auf, um sich im Regen wie ein Pfund Wurst aus großer Höhe ins Wasser platschen zu lassen auf der Jagd nach Fischen. Ungelenk sieht es jedenfalls von Ferne aus – aber da sollte ich mich mächtig täuschen.

Irgendwie griesgrämig sehen sie aus, schlechtgelaunt, mit stechendem Blick neben den possierlichen Trottellummen. Nur sind Basstölpel größer, fast wie Gänse sind ihre Flügel weiter hinten am Körper angeschraubt als bei den lieb-netten Lummen. In welchen der Vögel ich mich mehr widererkenne? Natürlich in den griesgrämigen Basstölpeln, sie neigen zu murrigem Einzelgängertum, während die Trottellummen meist zu zweit auftreten: eine große, das Elterntier, neben einer kleinen.

Ob niedliche Trottellummen oder griesgrämig dreinschauende Basstölpel: Allesamt sind sie miserable Starter aus dem Wasser. Ich könnte sie stundenlang beobachten, vor allem die unbeholfenen Basstölpel, denen man spätestens beim schwerfälligen Abheben die Gänse-Verwandschaft ansieht.

Auch ein Regentag auf dem Meer kann faszinierend sein. Der markante Leuchtturm von Corsewall Point erinnert mit seinem gewaltigen Nebelhorn vor dem Turm daran, dass das Wetter in Schottland öfter mal schlecht ist. Noch zwei Stunden haben wir um das Kap mit dem Leuchtturm herum, dann erreichen wir Stranraer. Ich bin gespannt, was ich da finden werde.

Von Irland und England nach Schottland (16): Lough Strangford, Nordirland.

Meine diesjährige Segelreise führt mich seit Juni  

die englische Südküste vom Solent nach Westen zu den Scilly Isles. Von dort kam ich in einem langen Schlag über die irische See in Irland an und segle nun 
die irische Ostküste hinauf.

Bis hierher war alles friedlich. Ein windstiller Tag, an dem wir von Howth und der Insel Irelands Eye heraufmotoren. Ein beschauliches Gleiten entlang der sanften Hügel- Landschaft Nordirlands, die nur Hin- und wieder von einer Ruine oder einem Bauernhaus unterbrochen wird.

Und dann zeigt das GPS plötzlich 10 Knoten Geschwindigkeit über Grund an. Doppelt soviel wie üblich. Und doppelt soviel, wie der Geschwindigkeitsmesser als Fahrt durchs Wasser anzeigt. Wie eine geheime Kraft zieht uns der Strom, der gerade herrscht, mit satten fünf Knoten in den Strangford Lough, den See, der sich links von uns öffnet. Wir sind in der Einfahrt in den 26 Kilometer langen Einschnitt an der Nordostküste Nordirlands, der fast bis zu den Vorstädten von Belfast ganz im Norden reicht.

Mitten im breiten Mündungstrichter steht ein weißer Turm auf einer Sandbank, die wie ein Riegel vor der Einfahrt liegt. 10 Knoten Speed. Das ist viel, wenn uns jetzt etwas in die Quere kommt wie die Sandbank, wird Ausweichen zum hastigen Manöver, bei dem wir selbst mit Levjes starkem Motor in der schnellen Strömung Schwierigkeiten haben werden, uns freizuhalten. Uns ist unheimlich, die Kormorane, die auf dem weißen Turm ihre Flügel zum Trocknen ausbreiten, scheinen wie Geier, die auf Beute warten. Der Turm ist oben rot bemalt, eine Markierung, dass sich die eigentliche Einfahrt irgendwo rechts von dem Turm befindet, dort wo das Wasser merkwürdige Wirbel und Kreise an der Oberfläche bildet und Zipfelmützen, kleine brechende Wellen. Anomalien, die man dort findet, wo das Wasser schnell strömt.

Eigentlich sagt der REEDS ALMANACH, das große Telefonbuch, das die Küsten um Großbritannien in einem Sammelsurium voller Namen, Zahlen und Abkürzungen beschreibt, dass in diesem Moment Hochwasser sein müsste – der höchste Stand der Flut, an dem das ewige Hin und Her der Gezeiten zu einem Stillstand kommt. „Slack“ heißt der englische Ausdruck, wenn kein Strom mehr setzt und das Boot irgendwo hin treibt. Aber hier ist gerade nicht „slack“, sondern das Gegenteil. Unsere Fahrt durchs Wasser scheint normal, nur wenn ich zum Ufer hinüberblicke, kann ich erkennen, wie schnell Levje gerade über den Grund dahinschießt. 

Und an den Bojen im Fluss sehe ich es. Bojen, die Fischer ausgelegt haben, um ihre Reusen, ihre „Fish-Traps“ wiederzufinden, die sie auf 30, 40 Meter Tiefe versenkten. Sie wissen, dass sich dort, wo das nährstoffreiche Wasser des Sees aus dem Strangford Lough auf das hereinströmende Meerwasser trifft, sich die Tiere des Meeres wie zum Dinner an einer Tafel versammeln. Die ganze Nahrungskette ist hier an einem Ort versammelt: Kleintiere, die den Fischen ins Maul gespült werden. Kleinere Räuber, die von größeren geschluckt werden oder Möwen und Seeschwalben, die einfach nur ihre Schnäbel kurz in die Wasserwirbel hineinpicken wie einen Zahnstocher, um an Meeresgetier von der Wasseroberfläche aufzulesen, was sich von unachtsam im eigenen Fresswahn zur Meeresoberfläche wirbeln lässt.

Vor der alten Burgruine liegen die Rotoren eines gelben Gezeitenkraftwerks zur Wartung vertäut. Weil die Strömung hier Jahr und Tag beständig setzt, hat man bereits vor zehn Jahren begonnen, in der Strömung des Strangford Lough Türme zu installieren, mit zwei Rotoren, die sich unter Wasser vom Tidenstrom angetrieben wie Flugzeugpropeller drehen und Generatoren antreiben. Mehr als ein Megawatt soll die Anlage bringen.

Eben hat sich unsere Geschwindigkeit auf acht Knoten verringert. Aber nur für einen kurzen Moment, in den Strudeln vor der rotweißen Untiefenmarkierung und dem Wachturm sind wir wieder mit zehn Knoten unterwegs. Große Blasen aufsteigenden Meerwassers, die Levje in voller Fahrt aus dem Kurs drehen, trügerisch glatte Flächen aus der Tiefe kommenden Wassers, die an ihren Rändern kleine Strudelkinder ausbilden. Ob man eine Chance hätte, hier durchzuschwimmen, wenn man ins Wasser fiele? Ich weiß es nicht. Ich bin mir aber sicher, dass der Strom mit seinen 5 Knoten mit einem Schwimmer macht, wozu er lustig ist. Im Herbst in der Bretagne schwamm ich meinem Bootshaken hinterher, als er ins Wasser gefallen war. Schnell hatte ich ihn erreicht, dann aber mehr als eine halbe Stunde gebraucht, um die 100 Meter wieder flussaufwärts zu kommen. Damals waren es nur 0,5 Knoten Strom gewesen, ein Zehntel dessen, was jetzt gerade dort herrscht.

Hinter der Wegmarkierung tut sich der Hafen von Portaferry auf. Von dort kreuzt die Fähre nach Strangford über den See. Malerisch sehen die beiden Orte ja aus, doch der Hafen von Portaferry liegt mitten im Strom am Flussufer. Ob es hier ein Pub gibt, um Abends die Beine auszustrecken, Musik zu hören und ein Bier zu trinken? Sieht nicht so aus. Ein Segelclub am Ufer, ein Hotel, das eine liegt so verlassen da wie das andere. Als wir im Internet nachsehen, gibt es in Portaferry und Strangford gerade mal zwei Kneipen, der Rest sind Cafes, die jetzt um sieben längst geschlossen sind. Ungewisse Aussichten also auf Entspannung. Gewiss ist nur, dass wir beim Anlegen bei drei Knoten Strom ein heikles Manöver vor uns haben, im fliessenden Wasser treibend genau in die Lücke zwischen den anderen Booten zu treffen.

Es wird also nichts mit einem Bier und dem Blick aus einem Pub auf den schnellströmenden Fluss.

Dann lieber ankern vor der Villa mit Park und dem Herrenhaus auf dem Hügel, wo hohe Nadelbäume stehen, die alles andere überragen als wären sie hohe Zedern, die einst ein Reisender vom Ufer des östlichen Mittelmeeres zurückbrachte in seine Heimat, als hätte er gewusst, dass hier im Golfstrom die Bäume des Mittelmeers Wurzeln schlagen.

Wir lassen uns noch ein Stück flussaufwärts treiben vom Strom, in den See hinein, dann drehen wir um und ankern vor dem Hügel mit dem Herrenhaus  und dem Gezeitenkraftwerk. Zwei Stunden später, als Sven, Ida und ich über heißen Kartoffeln mit salziger Butter im Cockpit sitzen, hat sich der Strom beruhigt. Levje liegt nun träge im See wie die Schiffe vor dem Hafen. Aber es wird nicht lange dauern, dann wird der Strom in Gegenrichtung einsetzen, aus dem Inneren des Strangford Lough heraus, während wir tief schlafen, wird er wieder kentern und mit gleicher Kraft wieder in den See hineinspülen.

Morgen Früh, wenn sich das Spiel gegen 7.00 Uhr morgens ein weiteres Mal umkehrt und der Strom wieder aus dem See hinaus ins Meer setzt, wollen wir los. Uns auf dem windstillen Wasser vorbei an Strangford und den Fischern hinaus aufs Meer spülen lassen und von dort zur schottischen Küste übersetzen.

Sie ist ja nicht weit von hier, gerade mal die Distanz von München nach Augsburg, 50 Minuten Autofahrt wären es, wenn man ein Auto benutzen könnte. 

Aber noch braucht man ein seetüchtiges Schiff dafür. So eins wie Levje.

Von England nach Irland und Schottland (15): Dublins Norden: In Howth und auf der Insel Irelands Eye.

Meine diesjährige Segelreise führt mich seit Juni  

die englische Südküste vom Solent nach Westen zu den Scilly Isles. Von dort kam ich in einem langen Schlag im River Suir in Waterford an und segle nun von Dublin 
an der irischen Küste entlang langsam nordwärts, 
Richtung Nordirland und Schottland.

Was macht man eigentlich an einem x-beliebigen Donnerstag in Dublin? 

Man könnte sich das BOOK OF KELLS ansehen. Oder durch eines der Dubliner Museen treiben lassen. Oder sich einfach mal hinsetzen und alle Gedanken aufschreiben, die einem an diesem Donnerstag durchs Hirn schießen. Vom Ersten bis zum Letzten. Alle nacheinander. Den ganzen Strom eines Bewusstseins aus Assoziation, Erinnerung, Vorurteil.

Aber halt. Das hat doch schon einer gemacht? Ausgerechnet hier in Dublin, und ausgerechnet ein Ire. James Joyce beschreibt in seinem ULYSSES einen einzigen Tag, den Donnerstag, den 16. Juni 1904, an dem er seine Helden auf ihren Gängen und ihren Gedanken kreuz und quer durch Dublin begleitet. Den Anzeigenverkäufer Leopold Bloom ebenso wie den jugendlichen Stephen Dedalus. Was diesen Tag den Iren so prominent macht, dass sie nur wegen dieses Buches aus dem 16. Juni einen Feiertag machten, den Bloomsday, der ihnen genauso wie der St. Patricks Day einen Eintrag im Kalender wert ist.

Man könnte aber auch hinauffahren in den Nordosten Dublins an die Küste und an die Strände von Howth und Malahide, wo man eben hinfährt wie die Dubliner es an einem Wochenende tun. Howth liegt eigentlich auf einer Halbinsel, die nur über eine schmale Sandbank oben im im Foto mit dem Festland verbunden ist. Howth heute ist vor allem ein Fischereihafen, 

was nicht weiter bemerkenswert wäre, denn Fischer gibt es wirklich in jedem irischen Hafen. 

Aber unter den vielen Berufsständen, die ich mir im Leben genauer ansah, was denn nun der Richtige für mich wäre, beeindruckten mich Fischer, weil es einfach der wandlungsfähigste und anpassungsfähigste Berufsstand ist. Vielleicht, weil es einer der ältesten ist? Wenn wir das Wort Fischer hören, denken wir an jemanden, der halt einen kalten Fisch aus dem kalten Wasser zieht. Schon richtig. Aber es ist ein Unterschied, ob jemand netzweise Sardinen oder Makrelen in Dosen schaufelt. Oder ob er sich auf Krabben und Hummer und Seeteufel und Austern spezialisiert hat. Für die, die eben gerne sowas essen.

In Howth haben sie sich auf Letzteres spezialisiert, und das mit ungeheurem Raffinement. Die „Fishmonger“, die Fischhändler sind hier einer neben dem anderen, man wähnt sich im Paradies. Natürlich gibts bei ihnen auch Cod oder Haddock, den Kabeljau für „Fish ’n Chips“. Aber neben Hummer, Langusten und Austern entdecke ich im Regal der Fischhändler ebenso Brie de Meaux, erlesenen Roquefort oder Stilton. Mit der in Butter geschwenkten und leicht mit Pfeffer bestreuten Hammelniere wie James Joyce‘ Held Leopold Bloom gibt sich in Howth keiner mehr zufrieden, hier ist schlemmen angesagt. Und die Zeilen auf dem Fischrestaurant lassen den genußsüchtigen Segler natürlich juchzen, es könnte kein schöneres Motto geben für einen Tag unter Segeln:

„Where there’s always a breeze and there’s never a gale
and the fish jump on board with a swish in their tail
and lie at your leisure, there’s nothing to do
and the captain is below making tea for the crew.“

Nein, auf die britische Küche ist auch kein Verlass mehr. Sie ist weit besser als der miese Ruf, der ihr vorauseilt, jedenfalls verblüfft sie mich manchmal heftig. Howth ist ein kulinarisches Paradies. Und ein

landschaftliches dazu, denn vor der Küste liegt die unbewohnte Insel Ireland’s Eye, vor der wir ankern und den Strand hinauf laufen nach oben, auf den Gipfel von Irelands Eye, wo man eine herrliche Aussicht hat. Auf Howth, den Fischerort. Aber auch auf die einzigen 

beiden Gebäude auf der Insel oder das, was von ihnen übrig geblieben ist. Den Ruinen des kleinen Kirchleins aus dem 8. Jahrhundert. Und dem Genuesenturm, einem der vielen „Martello-Towers“ auf einem Felsvorsprung, der die irische Küste einst vor der Landung napoleonischer Truppen bewachen sollte.

Martello-Tower gibt es viele vor Dublin. Und eigentlich kam ich ja nur nach Howth, weil hier zwei von ihnen stehen, der eine eben auf der unbewohnten Insel und der andere in Howth selber. Ich bin auf der Suche nach dem einen Martello-Tower, auf dem das erste Kapitel des ULYSSES spielt, in dem sich der unnachahmliche Buck Mulligan im Morgenmantel auf ebenso unnachahmliche Weise rasiert.

Nein, gelesen haben muss man den ULYSSES nicht. Aber dies Dublin lieben, dies Dublin mögen, das fällt einem schon ungemein leichter, wenn man Abends an Bord mit dem ULYSSES in der Hand nach Austern aus Howth und einem Absacker-Bier einschläft. 

Man kann seine Tage auf jeden Fall unnützer verbringen als in Dublin. 
Vor allem x-beliebige Donnerstage.

Von England nach Irland und Schottland (13): Dublins Kneipen. Dublins Straßen.

Meine diesjährige Segelreise führt mich seit Juni  
die englische Südküste vom Solent nach Westen zu den Scilly Isles. Von dort kam ich in einem langen Schlag nach Irland und im letzten Post in Dublin an.


„What a lovely pub!“

Der Satz kommt vom Mann am Nebentisch. Sven und seine Tochter Ida, die seit heute da sind, nippen andächtig an ihrem Cider, dem perlenden Cidre, und schielen aufs Etikett ihrer Gläser. Sie sind besser im Errichten einer unsichtbaren Mauer und lassen mich allein mit dem Mann am Nebentisch, der nur zu mir spricht. Ich verstehe ihn kaum. Ob es damit zu tun hat, dass er mit seinem Glas Guinness erheblichen Vorsprung vor mir mit meinem hat? Er sitzt vermutlich schon seit Nachmittag bei der Arbeit hier im Pub in der Pearse Street, gleich bei der Pearse Train Station. Es hat vor allem mit der eigentümlichen Aussprache zu tun, in der der Mann den Satz bringt.

„Whuddd u luffffly pub!“

Ein zweites Mal fällt der Satz. Was für ein Land, dessen Sprache nur einen einzigen Vokal braucht, um auszudrücken, dass die Welt gerade richtig Klasse ist. Wir Deutschen haben  fünf Vokale, aber selbst mit denen schaffen wir das im Alltag nur ausgesprochen selten. Der Mann hat sichtlich Schlagseite, während seine Hand wie die eines Schöpfers huldvoll über das Innere des Pearse Pub  weist und seine Augen von mir Beifall für seine Schöpfung fordern. 

Wie bin ich nur hierher geraten? Zuhause trinke ich ja nie Bier. Aber seit ich vor drei Wochen vor der Isle of Wight aufgebrochen bin, trinke ich ausschließlich Bier. Jene dunkle Biersorte, die hier irgendwo in Dublin ein paar Kilometer weiter flussaufwärts am rechten Flussufer von Arthur Guinness erfunden wurde. Und weil irgendein durchtriebener Marketingmann die trotzige Behauptung in die Welt setzte, Guinness würde mit jedem Meter besser schmecken, den man sich der Brauerei am Liffey nähere, drum sitze ich jetzt hier im Pearse. Meine Testreihe in Dublin.

Der Marketingmann hat jedenfalls nicht mal unrecht. Das scheint auch mein Tischnachbar so zu sehen mit seiner Äußerung. Nur bei dem Adjektiv „lufffly“, da stimme ich meinem Nachbarn nicht zu. Viele Adjektive treffen auf das Pearse zu, aber „lovely“ am wenigsten. „Trotzig“ erscheint mir angemessener. Liebenswert trotzig, wie die Iren es sind. Als ich gestern auf dem Weg in die Stadt zum ersten Mal an dem kleeblattgrün bemalten Gebäude vorbeikam, verwarf ich den Gedanken, den ersten Test mit dem Guiness und den Kilometern hier zu beginnen. Wenn ich wo reingehe, egal ob Hotel oder Kneipe, will ich auch wissen, wie ich da wieder rauskomme. Das war mir beim Pearse nicht unbedingt klar. „Ireland. The only people that fought an empire.“ prangt stolz außen auf der Hauswand zwischen dreiblättrigen Kleeblättern, Harfen und dem Konterfei eines artig und trotzig zugleich blickenden Mannes in Anzug und grüner Krawatte, der nicht nur der Kneipe, sondern auch der ganzen Straße und dem danebenliegenden Bahnhof den Namen gab. 

Padraig Pearse war ein braver Lehrer hier in Dublin. Aber das Leben wollte es, dass er nicht nur Schulklassen auf Wanderungen auf die Dingle Halbinsel führte, sondern Iren in den Aufstand gegen die Briten. „Ein unfreies Irland wird niemals friedlich sein!“ wurde sein Wort, das die Losung war. Als der Osteraufstand 1916 fehlschlug, wurde er noch im selben Jahr von den Briten in Dublin hingerichtet. Solcherart ist also der Geist, der über dem Pearse Pub schwebt und webt.

„Whuddd u luffffly pub!“

Der Mann am Nebentisch ist jedenfalls richtig glücklich hier. Toll! Ein kleines Volk, das das „u“ zum allerschönsten Buchstaben der Welt erklärt hat! Ich signalisiere dem Mann am Nebentisch Zustimmung, schließlich ist das ja heute nicht das erste Bier in meiner Testreihe. Meine Reise begann ein paar Schritte weiter im Kennedys, das ist gleich hinterm Trinity College und nahe dort, wo dieses Dublin gegründet wurde. Es waren Wikinger, die mit ihren Langschiffen den Liffey heraufgerudert kamen und hier irgendwo auf dem Boden unter meinen Füssen eine Siedlung gründeten, nahe einer Stelle, die „schwarzer Teich“, „Duib Leann“ oder „schwarze Brühe“ heißt. Es konnte ja keiner ahnen, dass Arthur Guinness ein Jahrtausend später am selben Ort die Sache mit der „schwarzen Brühe“ derart perfektionieren würde, dass es dem Mann am Nebentisch und mir eine reine Freude ist.

Wikinger also. Natürlich waren sie Totschläger und Sklavenhändler, aber ebenso begnadete Händler und Handwerker, die ihre Stadt am Liffey zum Blühen brachten. So sehr, dass zwei verfeindete irische Großkönige ihr gieriges Auge auf die Stadt warfen. Der eine aus dem Süden. Der andere aus dem Norden. Brian Boru, der aus dem Süden, siegte in der Schlacht von Clontarf gegen den aus dem Norden, der sich mit den Wikingern verbündet hatte, gegen seinen Schwager Mael Sechnaill und Sigtrygr Seidenbart. Und weil Brian Boru siegte über die Wikinger und nur seine Harfe das Gemetzel überlebte, darum ist die Harfe das Symbol irischen Trotzes, das stolz überall prangt, wo Iren sind: Auf jeder Guiness-Dose. Auf der Heckflosse jedes Ryan-Air-Fliegers. Und außen auf dem Pearse. Bryan Borus Harfe steht heute inmitten des Trinity Colleges im ältesten Lesesaal, dem großen unter dem  

Tonnengewölbe. Was macht es denn schon aus, dass die Harfe vermutlich erst 500 Jahre nach seinem Tod in der Schlacht von Clontarf gebaut wurde? Sie ist und bleibt die Ahnherrin aller irischen Harfen. 

Leutselig wendet sich der Mann am Nebentisch wieder mir zu.

„Whuddd u luffffly pub!“

„Ja, ich hab das „u“ auch sehr, sehr lieb.“, antworte ich ihm im Geiste. „Genauso lieb wie Du.“ 

Was ein Guinness so alles mit einem anstellt mit jedem Meter, den man der Brauerei näher kommt. Oder liegts daran, dass ich beim dritten Glas bin? Der Mann am Nebentisch hält sich aber nicht lang auf, er will mir erklären, was es mit dem Gemälde über seinem Kopf auf sich hat. Ein junger Mann ist drauf zu sehen, ein Dreißigjähriger mit zwei Jahreszahlen. 

„Sie haben ihn erschossen. Hier vorn an der Straßenecke.“ Der Mann am Nebentisch sagt die Sätze erstaunlich klar. Die Ulster Volunteer Force aus dem Norden hat hier viele Morde auf dem Gewissen. Und Martin kurz vor dem Friedensschluß 1998 war eines der letzten. War ein netter Bursche.“

Der Mann blickt in sein Glas. Wieder einmal begreife ich, was dieses Europa eigentlich alles erreicht hat. Den Friedensschluss in Nordirland. Frieden im Baskenland. Eine der Leistungen ist es, Frieden in die Regionen gebracht zu haben, die sich vorher bitter bekämpften.

Vielleicht haben die Iren ja recht. Mit ihrem Trotz, an ihrer Sprache festzuhalten. An ihrem Trotz, in der EU ihren Schutz zu sehen vor dem großen, jahrhundertealten Nachbarn im Osten. Vielleicht haben sie mit all dem Recht. Ich denke daran, als ich am nächsten Tag vor dem GPO stehe in Dublin, das für die Dubliner mehr ist als nur das General Post Office, wo die Busse enden, sondern der Ort, an dem sie für ihre Unabhängigkeit kämpften.

Ich denke daran, als ich vor dem alten Holzbriefkasten des GPO mit den irischen Worten stehe. Anders als der Mann und ich kommt dieses Gälisch mit vielen Vokalen aus, sie machen die Schönheit dieser Sprache aus. 

Aber den Zustand, in dem man nur noch ein „u“ braucht, um die Schönheit der Welt zu erkennen: Den möchte ich trotzdem nicht missen.

Von England nach Irland und Schottland (12): In Dublin. Bei Cathy in der Poolbeg Marina.

Meine diesjährige Segelreise führt mich seit Juni  

die englische Südküste vom Solent nach Westen zu den Scilly Isles. Von dort kam ich in einem langen Schlag im River Suir und in Waterford irische Ostküste hinauf bis Dublin.

Nach vier Wochen auf See: Dringend fälliger Waschtag in der Poolbeg Marina Dublin. LEVJE ist nicht das große Schiff, nein, sondern das mit der flatternden Bettwäsche.

Mein Abend vor Sorrento Point kurz vor Dublin war traumhaft gewesen. Eine ruhige Nacht fast auf offener See vor einer Kulisse wie in Neapel. Doch alles hat ein Ende, das Leben ist kein Ponyhof, als die Sonne aufgeht, wirft mich starke Dünung aus Südost aus meiner Koje. Ich koche eine Tasse Tee, hole den Anker und breche auf nach Norden, zwischen der Insel mit dem Genuesenturm und den Villen am Ufer in Richtung Dublin.

Ich schrieb bereits, dass die Ostküste Dublins arm an brauchbaren Häfen sei. In Dublin ist das anders, es gibt drei große Marinas. Die größte mit dem unaussprechlichen Namen Dun Laoghaire in der breiten Bucht von Dublin. Dann Howth im Norden. Und dann die Poolbeg Marina, mitten zwischen Containerterminals und Fährhäfen am Liffey gelegen.

Während Levje langsam durch Kreuzsseen nach Norden motort, bereite ich meine Ankunft vor. Poolbeg antwortet auch beim achten Anruf nicht, Howth ignoriert meine Funksprüche. Dun Laoghaire antwortet sofort, und weil der Name ganz einfach „Dann Liiirii“ ausgesprochen wird, weil der sagenhafte König Lear hier seine keltische Ringwallfestung, seinen „Dun“ hatte und sich hier sein großes Drama abspielte, scheint mir alles unkompliziert und die Suche nach einem Liegeplatz erledigt. 

Doch als ich näherkomme, ist mir die Marina zu groß, 1.000 Schiffe liegen hier. Das ist sicher ok. Doch weil ich 2001 an Bord eines Containerfrachters als einziger Passagier in Dublin gewesen war, habe ich nur eines im Sinn: Auf dem River Liffey zu liegen, und mitten im Hafen, in der Poolbeg Marina.

Doch Poolbeg antwortete einfach nicht.

Eines Menschen Herz ist ein rätselhaftes Ding und seine Stimme ebenso. Man braucht, um der Stimme seines Herzens zu folgen, manchmal vor allem eins: Hartnäckigheit. 

Vor der Einfahrt in den Kanal funke ich Dublin Port Control an. Bitte um Erlaubnis, die Großschifffahrtsstraße den Liffey hinauf benutzen zu dürfen bis zur Poolbeg Marina. Als ich  Freigabe habe, steuere Levje am roten Leuchtturm mit der Nase, dem Nebelhorn, in den Liffey hinein und den Fluss hinauf.

Ich liebe die großen Häfen. Das hautnahe Mittendrin sein auf dem eigenen Boot neben den turmhohen Stahlwänden von Containerfrachtern und wendenden Kreuzfahrtriesen, dem Dröhnen kraftvoller Schlepper, dem Schlagen von Stahl auf Stahl, wenn Container von riesigen Kränen im Buch von Containerschiffen verschwinden, dem Fiepen der kleinen Container-LKWs, dem Sirren, den Tausenden Geräuschen, die ein echter Hafen mit sich bringt, in dem man am Steuer seines Schiffes steht. Normalerweise bin ich lärmempfindlich, bloß ein dudelndes Radio auf einem Nachbarboot kann mich schon auf die Palme bringen, aber der selbst nachts niemals endende Lärm eines richtigen Hafens, den stecke ich einfach weg und schlafe seelig grinsend ein. Ich bin auf dem Weg genau dorthin, wo ich hinwill: Zur Poolbeg Marina. 

Hinter dem letzten Containerkran und dort, wo rechts die großen Docks für die Kreuzfahrtschiffe liegen, liegt links die kleine Marina. Nicht mehr als vielleicht 60, 80 kleinere Segler sind an den Stegen vertäut, vor die ich Levje steuere, während vor mir gerade  ein Schlepper ausgerechnet die DEUTSCHLAND im Fahrwasser dreht. Ausgerechnet das Traumschiff aus der gleichnamigen Serie, mit der so viele ihr Fernweh verbinden.

Zum x-ten Mal greife ich zum Telefon. Rufe die Nummer der Poolbeg-Marina. Plötzlich ist jemand dran, eine Frauenstimme, ich sage mein Sprüchlein auf. „Klar hab ich einen Liegeplatz für Dich“, sagt die Frauenstimme in Dubliner Akzent. „Schau hier rüber, über den Wellenbrecher. Ich stehe hier oben vor dem Gebäude und winke. Mach am Wellenbrecher fest. Ich schicke Dir Damian runter, er hilft Dir beim Anlegen.“

Tatsächlich steht da oben eine ältere Frau in Blond und winkt heftig. Na dann los. Dann steht auch schon ein älterer Mann auf dem Steg, er nimmt mit zittrigen Fingern meine Leinen an, die ich ihm zuwerfe. Während ich Levje an den Steg bugsiere, hält er die Leine in der Hand. Ein Segler ist er jedenfalls nicht, ungewöhnlich in einem Hafen, kein Segler würde das so machen, ich bitte ihn mehrfach, den Festmacher schnell um die eiserne Klampe auf der Pier zu legen. Ein Windstoß, und Levje würde den Mann mir nichts, Dir nichts ins Wasser ziehen. Dann bin ich da. Schiff fest. Alles gut.

Damian grinst. Und Cathy steht vor mir. Wenn es das lebende Denkmal einer Frau gibt, für die Männer Aufstände vom Zaun brechen, weil eine Frau sie anführt, dann ist es Cathy. Cathy O’Connor, die einfache Hafenmeisterin der Poolbeg Marina. In ihr sind sie widergeboren, die Molly Pitcher aus New Jersey, die Maria Pita, die A Coruna vor der Eroberung durch Drake bewahrte, die unbekannte Frau, die vorneweg den Sturm auf die Bastille anführte. 

„Du brauchst eine Waschmaschine?,“ fragt sie. „Du hast Glück. Vorgestern kam die neue Waschmaschine, Damian hat sie mir gestern installiert. Du wirst der erste sein, der Sie benutzt. Nein, Waschpulver brauchst Du keins. Damian geht mit Dir und zeigt Dir, wie das Ding funktioniert.“

Und während Damian vorangeht, mir den kleinen Anbau zeigt, in dem ich ihm mit meinem dicken Packen Schmutzwäsche folge, während Damian mit bebender Hand einen Halbliterbecher voll Waschpulver großzügig auf sämtliche verfügbaren Fächer der Schublade verteilt, denke ich über Cathy nach.

Sie hat viel gesehen in ihrem Leben. Vielleicht nicht von der Welt, aber ganz sicher vom Leben. Ihre Augen verraten es, erzählen von einem harten Leben, von nie vermisstem Reichtum, von einem Stall voller allein erzogener Kinder, von harten Zeiten und davon, dass sich doch alles gelohnt hat, weil das Herz am rechten Fleck sitzt.

„Dein Boot ist 11,30 Meter lang? Ich schreib hier 11 Meter rein, ja? Das ist fünf Euro günstiger pro Nacht als wenn ich 12 Meter schreibe. Zahlen? Kannst Du wenn Du gehst. Hier hast Du den Schlüssel für den Steg. Und wenn Du abends ein Bier trinken willst, wir haben bis Mitternacht geöffnet.“ Sie deutet auf John, den grinsenden Farbigen, der an der Theke Gläser spült.

Die Männer, die Cathy umgeben. Damian und noch ein älterer, Tommy mit dem klaren Blick aus tiefblauen Augen, den Cathy gerade an der Bar einweist. Ich bin vorsichtig geworden, deren Alter zu schätzen, seit ich feststelle, dass Männer, die für mich steinalt aussehen, sich hinterher als zehn Jahre jünger als ich entpuppen. Damian, ein einfacher Mann im sauberen Shirt, der Cathy hilft, wo er nur kann, obwohl er niemals ein Boot besaß. Tommy mit dem blitzenden Blick. John. Die Männer lieben Cathy, da mag ihr Gesicht noch so voller Falten und ihre zittrigen Hände noch so abgearbeitet sein: Die Männer tun für sie, was sie tun können. 

Drei Waschmaschinen voll wasche ich an diesem Tag und hänge sie auf der Wäscheleine auf, die rings um Levje gespannt habe. Ich lasse sie flattern im Wind, bis sich am Abend das nächste Kreuzfahrtschiff an die Pier vor Levje legt. MEIN SCHIFF heißt es. „Wohlbefinden“, „Harmonie“, „Ruhe“ haben Marketingleute mit schöner Schreibschrift mannshoch auf die blauen Bordwände malen lassen. Ich denke mir nur, während ich mich auf den Weg in die Stadt mache: Obs ein wirklich ein Kreuzfahrtschiff wie die MEIN SCHIFF braucht, um all das zu finden, wonach unser Herz oft sucht? Ich glaube nicht. Es braucht einen Ort, ganz sicher. An diesem Ort aber vor allem Menschen wie Cathy O’Connor, die ihren Männern Sinn und ein Zuhause gibt. 

Aber vielleicht ist gerade das das Schwierige, genau diesen einen Ort zu finden. 

Von England und Irland nach Schottland (11): Die irische Westküste bis Dublin

Meine diesjährige Segelreise führt mich seit Juni  
die englische Südküste vom Solent nach Westen zu den Scilly Isles. Von dort kam ich in einem langen Schlag im River Suir und in Waterford an will nun weiter nach Dublin die irische Ostküste hinauf.

Morgens um 5 bin ich hellwach. Das liegt nicht nur daran, dass hier in Irland es ab drei bereits zu dämmern beginnt und die Dunkelheit keine sechs Stunden dauert. Es liegt auch daran, dass ich mir Sorgen mache.

Gestern war ich fünf Seemeilen durch Untiefen und Sandbänke hindurch der Mündung des River Slaney bis zur Stadt Wexford gefolgt. War zweimal auf Grund gelaufen und hatte die Stadt mit knapper Not erreicht. Heute Morgen um 7.20 Uhr will ich mit der ersten Flut auslaufen. Anders als mit der Flut komme ich nicht hier raus, über die Sandbände durch den engen Kanal.

Es ist ein grauer Tag. Doch diesmal geht alles leichter. Im Fischereihafen, wo ich im mitten im Fluss vor der Stadt und der Pier mit den großen Trawlern liege, ist alles ruhig. Nur ein paar wildgewordene kleinere Fischerboote röhren wie wildgewordene Mopeds Richtung Flussmündung, während ich den Anker hole, der als Mitbringsel vom Flussgrund ein zwei Meter langes verrostetes Kabel mit raufbringt. Mein Bootshaken schickt es schnell wieder in die Tiefe, ich gehe zurück ins Cockpit und gebe Gas. Vorbei an den gelbvioletten Flaggen, vorbei an der Insel mit der Ruine, hinein ins flach.

Ich folge diesmal der Linie, die Navionics vorgibt und die für diesen Fluss erstaunlich präzise ist. Zwei mal kratze ich mit Levjes zwei Meter Kiel über den Sand in zwei Meter Tiefe, es sind bange Momente, jeden Augenblick rechne ich damit, dass der Tiefenmesser plötzlich wie gestern gnadenlose 1,80, dann 1,70 anzeigt, gefolgt von einem Rumms. Aber alles geht gut. Die Seehunde, die genauso wie gestern neugierig die Köpfe aus dem Wasser heben, was der Trottel da über ihren Sandbänken, bekommen heute anders als gestern kein Hafenkino geboten. Als ich draußen bin, atme ich tief auf. Nur die Frage, warum ich derlei riskanten Unfug treibe, beschäftigt mich. Das Leben will gelebt sein. Der Mensch ist ein überaus neugieriges Wesen. Und wenn ich auch ein Trottel bin, der sein Schiff gestern auf die Sandbank setzte, so habe ich doch etwas gewagt und das Leben gespürt mit all seiner Furcht und dem Jubel, es doch geschafft zu haben.

Draußen ist die Welt herrlich. Die Weite der See an diesem Morgen, der Anblick eines roten Fischers im großen Grüngrau, der mir die Weite noch bewusster macht, als er vor uns vorbeizieht. Geborgen in der Weite, getragen von der Grenzenlosigkeit.

Nach Norden hin wird die Landschaft bergiger, die Lagunenlandschaft am Ufer verschwindet. Die Wicklow Mountains, ein großes Naturschutzgebiet, schicken ihre Ausläufer bis ans Meer. Der Leuchtturm von Wicklow Head mit seinem typischen roten Geländer markiert Irlands östlichsten Punkt.

Eigentlich will ich ja nur bis Arklow, eine kleine Stadt am Fluss Avoca, die ich am frühen Nachmittag erreiche. Aber die Einfahrt in den Fluss ist so eng, die verfallenden Industriegebäude vom Meer her so trostlos, dass ich weiterfahre. Nein, heute nicht noch einmal in einem flachgehenden Fluss aufsetzen. Heute Nacht will ich sicher schlafen. Dann fahre ich lieber noch die 80 Kilometer weiter bis Dublin.

Überhaupt ist die Südwestküste Irlands reich an verfallenden Fabriken und arm an brauchbaren Häfen. Auf dem 45 Seemeilen langen Stück zwischen Wexford und Dublin gibt es gerade drei Häfen, nur eine davon ist eine Marina. Die anderen beiden, Arklow und Wicklow, scheinen mir eher Arbeitshäfen an schmalen Flussläufen zu sein, in denen ich mich mit den 1,60 Meter meiner alten Levje weit wohler fühlen würde. 

Noch immer fahre ich ohne irische Gastlandflagge herum. Das geht so gar nicht. Ich krame meinen prallen Flaggensack hervor und hole mir einfach eine Italienische. Grün, weiß, rot ist die italienische Flagge. Und grün, weiß, orange die irische. Grün für die Katholiken, und orange für die Protestanten? Ich werde das Nachlesen. Jedenfalls tuts eine verwaschene italienische Flagge in Irland auch. Oder bin ich Trottel jahrelang Italiens Küsten mit einer irischen Flagge rauf- und runtergefahren? Vielleicht ist dieses Europa einander näher, als wir denken.

Noch drei Stunden bis Dublin. Am Spätnachmittag ist das Meer und der Himmel darüber in seinen schönsten Farben: Am Himmel ein zartes Leuchten, das Meer ein stahlblaues Glänzen. Als ich zum Ufer hinüberblicke, sind die verfallenden Fabriken verschwunden. Stattdessen sehe ich Baukräne, die direkt am Meer Bürohochhäuser hochziehen. Ist dies das wirtschaftliche Geheimnis des „Keltischen Tigers“, wie man die boomende irische Wirtschaft respektvoll nannte: Nichts mehr produzieren. Aber dafür Bürogebäude hochziehen, die die Europazentralen von AMAZON und GOOGLE und sonstiger Megakonzerne beherbergen? Ist Irland wie Manhattan oder Hong Kong eine Insel, auf der nichts mehr produziert, aber dafür umso eifriger Rechnungen geschrieben werden nicht für Dinge, sondern für Dienstleistungen? Ich werde es herausfinden.

Am Abend ist der Wind jedenfalls verschwunden. Das Meer liegt wie ein Stück Seidentuch, fast reglos. Ein Containerfrachter, der zwischen den beiden Inseln vor der Bucht von Dublin hervorkriecht, er hat es nicht eilig, und sich irgendwo in der Weite des Leuchtens verliert.

Und dann sind es tatsächlich die Inseln vor Dublin, an denen ich buchstäblich hängenbleibe, Dalkey und in der Ferne im Norden Howth. Auf Dalkey steht, als könnte es an diesem Abend mit seinem italienisch roten Leuchten nicht anders sein, ein Genueserturm, der jedem Kap auf Korsika zur Ehre gereichen würde. Eine allererste Ahnung überkommt mich, dass dies Dublin mehr mit dem Mittelmeer gemeinsam haben könnte, als der Breitengrad das hergibt.

Als ich in der Karte nachsehe, heißt das Kap – Sorrento Point, nach dem Sorrent in der Bucht von Neapel. Ich kann nicht anders, mein Vorsatz, diese Nacht unbedingt ruhig schlafen zu wollen schwindet, ich muss hier ankern in dieser herrlichen Bucht und den Abend genießen, mag der Schwell mich heute Nacht auch noch so quälen.

Die großen Kiefern am Ufern, die vereinzelt wie Pinien dastehen. Das alte rosa Gebäude, stehengeblieben scheint es mir seit den Tagen von James Joyce, ausgerechnet ein Ire war es, der ein Buch nach dem größten Seehelden des Mittelmeers benannte, ULYSSES. Das rote Haus, es könnte 

ebensogut auf den Klippen von Piran oder Portoroz stehen. Die alte Villa. Die Gärten. Die in den Fels gehauene Helling für ein Ruderboot. Die Steilklippen. Der Strand. Dies alles sind Requisiten aus einem anderen Stück, das Mittelmeer heißt. Und doch heißt diese Stadt, vor der ich liege: Dublin.

Viele Städte weben an einem Mythos. Palermo, die Stadt der Staufer. Athen, die Stadt der Antike. Ich bin vor Jahren viele Tage den Liffey hinaufgeschlendert und hinunter: Doch der Mythos Dublin, dem kam ich nicht auf die Spur. Aber hier am Sorrento Point an diesem Abend verstehe ich: Es ist der Mix, der Dublin an dieser Stelle ausmacht. Der Mix aus irisch, britisch und italienisch, der über meinem Abend liegt in dieser Bucht, während ich hinausschaue in die Bucht, die südlich liegt. 

Als wäre ich in der Bucht von Sorrent. Und nicht vor Dublin.

Von England nach Irland und Schottland (10): Wexford. Gefangen zwischen Untiefen und Seehunden.

Meine diesjährige Segelreise führt mich seit Juni  
die englische Südküste vom Solent nach Westen zu den Scilly Isles. Von dort kam ich in einem langen Schlag im River Suir und in Waterford an will nun weiter nach Dublin die irische Ostküste hinauf.

Von Waterford und der breiten Mündung des River Suir im Südosten Irlands bis nach Dublin ist die Küste auf 100 Seemeilen reich an Abwechslung. Und arm an Häfen für ein Boot mit zwei Meter Tiefgang wie Levje.

Die Landschaft ist schön anzuschauen, erst Kilmore hinter den Insel Saltee-Inseln, Little Saltee und Great Saltee, aber was heißt schon „great“ in Irland, unbewohnt sind sie beide, dafür mit schönen Ankerbuchten.  Hinter Irlands Südostspitze liegt der Fährhafen von Rosslare – aber der ist in der Hauptwindrichtung nach Norden vollkommen offen, was dicken Fähren nichts ausmacht, kann für unsereins schnell zur ungemütlichen Falle werden. Tatsächlich frischt vor Rosslare der Wind auf 15 Knoten auf, es ist 18.00 Uhr, Zeit nach einem geschützten Platz für die Nacht zu suchen.

Aber da ist nichts. Nur Wexford. Die Stadt mit dem kleinen Fischereihafen liegt etwa fünf Seemeilen tief in einem ausgedehnten Flachwassergebiet voller Sandbänke und Untiefen. Schwierig zu manövrieren. Eigentlich sagt mein Handbuch, der Reeds Nautical Almanach, das große Telefonbuchartige Sammelsurium, man solle das ausgedehnte Flachwassergebiet des Wexford Estuary ab einem Tiefgang von 1,30 Meter meiden. Levje hat zwei Meter.

Aber weil gerade die Nächte des Neumonds sind und damit die Tide stärker ausfällt, und weil gerade jetzt gerade das Hochwasser am höchsten steht, versuche ich mein Glück. Ich kann ja umkehren, denke ich mir, der Mensch ist blöde gelegentlich. Und mit Lagunen und Rias, den von Ebbe und Flut ausgewaschenen Flussmündungen wie der vor mir, kenne ich mich seit den Lagunen von Venedig und den Rias Portugals und Nordspanien aus. Denke ich. Also los.

Reeds Almanach sagt auch, dass es bis Wexford nur einen betonten Kanal gibt, aber der würde so oft seine Richtung ändern und versanden, so dass die beigefügte Seekarte längst nicht mehr richtig sei. Da sitzt der Segler dann allein auf der Kante mit dem tollen Telefonbuch in der Hand. Allerdings finde ich im Internet unter Wexford Harbour eine kleine App, die den Verlauf des aktuellen Kanals und die aktuelle Lage der circa 25 Bojen anzeigt. Zumindest mal etwas. Und Navionics, so zuverlässig es auf See sein mag, ist in Lagunen zu ungenau. Also los. Ich vertraue auf mein Boot und die Bojen.

Die erste Tonne, da ist sie. 5 Meter Wassertiefe, na wer sagts denn. Ich motore mit Speed in die Bucht, ich habe seitlichen Gegenwind von 15 Knoten, wenn ich die fünf Seemeilen schaffen will in einer Stunde, bevor das Wasser fällt, muss ich da auch mit 5 Knoten Speed durch. Gas heißt die Devise. Weil Hochwasser ist, sieht ja alles wunderbar wie ein See aus. Nur links von mir die im Wind abwehenden Gischtfahnen zeigen, dass dort eine Sandbank ist, an der ich mich knapp vorbeilaviere. Gruselig ist das ja schon, so nah an 30 cm Wassertiefe vorbeizusteuern.

4 Meter Wassertiefe. Dann ein Stück weiter drinnen sogar 6,50 Meter. Hier könnte ich sogar ankern, der Tidenhub beträgt 2 Meter, also hätte ich an dieser Stelle bei Ebbe immer noch 4 Meter unter mir. Aber wer weiß schon, wie breit der Kanal ist, immerhin müssten 30 Meter Kette raus, da brauche ich schon ein halbes Fußballfeld Platz. Das geben die Untiefen hier ringsum nicht her.

Und weiter gehts mit 5 Knoten. Die Gegenströmung hat eingesetzt, verflixt, das wird zeitlich eng. Das Wasser ist bereits am Fallen, 10 cm weniger Wassertiefe können jetzt entscheidend sein, „mach hinne, Junge“, wenn Du hier zwei Stunden in der Bojengasse rumtrödelst, ist das Wasser vielleicht 50 Zentimeter tiefer.

„Go, Wexford, go!“ rufe ich mir zu. Aber das auf die Sandbank geworfene Boot ist mir eine Warnung, dass Mut allein nicht jeden nach Wexford brachte, der auch dahin wollte.

3,50 Meter. Wie gut, dass das Telefonbuch doch den hilfreichen Tipp bringt, ich solle die „rhumb line“ zwischen den Bojen laufen. Als ich nachschlage, finde als Übersetzung „Loxodrome“ und „Isoazimutallinie“, der Verfasser muss da gerade einen lustigen Abend gehabt haben. Aber besoffen kann ich auch. Weil die Wassertiefe auf 3 Meter fällt, laufe ich jetzt wie ein Besoffener Schlangenlinie zwischen den Bojen, um nur ja die tiefste Stelle des unsichtbaren Kanals zu finden.
Nur: Das kostet Zeit. Viel Zeit. Zeit, die ich nicht habe.

„Go, Wexford, go!“ 2,70 Meter Wassertiefe. Die Gegenströmung wird stärker. Ich habe jetzt 70 Zentimeter unter mir. Ich kann doch hier nicht mit 5 Knoten durchrauschen, also nehme ich vor der nächsten Engstelle Fahrt raus.

Und keine Sekunde zu früh. 2,50 sagt der Tiefenmesser. Dann in rascher Folge 2,30. 2,20. 2,00. 1,90. 1,80 Meter. Mit einem sanften Rummms sitzen wir auf der Sandbank, Levje schob sich wie ein Wahl hinauf. Die analytische Hälfte meines Hirns freut sich noch, dass mein Schiff offensichtlich doch 10 Zentimeter weniger 1,90 Tiefgang hat als angenommen, während die klügere Hälfte meines Hirns erst ab da jenes widerwärtige Schaben und sich Wölben des ganzen Schiffskörpers wahrnahm, mit der der Kiel bei Grundberührung den Mast nach oben treibt.

Tausend Gedanken schießen durchs Hirn: Komm‘ ich hier wieder runter? Oder liegt Levje hier in drei Stunden, wenn das Wasser weg ist, auf der Sandbank? Wen könnte ich anrufen? Der Hafenmeister ging vor vier Stunden schon nicht ans Telefon?

Ich gebe rückwärts Gas. Erst locker. Dann fester. Und preise den Konstrukteur meiner Levje, den knorrigen, kantigen Manfred Schöchl, dass er mal wieder alles richtig gemacht und Levje einen 50 PS-Motor spendierte. Mit mageren 20 PS? Wärs jetzt vorbei.

Ich habe mehr Glück als Verstand, im Rückwärtslaufen finde ich sofort den Kanal wieder. Ahh, da sind sie ja, die 2,50 Meter. Nichts um sich drauf auszuruhen, aber 2,50 Meter sind verglichen mit 1,80 Meter ja noch Gold. Verdammt. Wo geht das hier lang? Die Tonnen sind jedenfalls nur eine bedingte Hilfe, und meine „rhumb line“ auch nicht. 

„Go, Wexford, go!“ 2,70 Meter jetzt unter mir, da wächst das Selbstvertrauen, da schwillt der Kamm. Das geht doch, 3,50 Meter jetzt, ich „rhumbe“ wieder hin und her, das funktioniert ganz gut. Da vorn ist die Stadt, das muss doch zu schaffen sein, auch wenn das Wasser fällt, es kann nicht mein Schicksal sein, mit Levje auf einer Sandbank vor Wexford zu enden.

„Go, Wexford, go!“ Ich gebe alles und stelle den Gashebel auf 5 Knoten. Das ist zu schnell, aber ich muss machen, dass ich hier rauskomme. Warum haben die denn nun statt grüner und roter Bojen nun auch manchmal nur eine rote? Nehm ich die jetzt rechts, wie sichs gehört?? Fahrbahnmitte??? Oder links???

2,50. 2,30. 2.00. 1,80. 1,70. Langsam schiebt sich Levje den Sandhang unter mir hinauf. Und diesmal richtig. Verflixt. Ich gebe rückwärts Gas. Nichts geht. So ein Miiiiiiist.

Aus dem Wasser sehen mir zwei Seehunde mit treuem Dackelblick interessiert zu, wie ich auf meiner Sandbank rummache und hilflos hantiere. „Herrchen sitzt nun fest. Hundilein kann da gar nichts machen.“

Ich versuch es noch mal. Mehr Gas. Auf und ab Hüpfen auf dem Deck hats auch schon gebracht, allerdings ist das Gehoppse meiner 90 Kilo für meine 8 Tonnen Levje geradezu lachhaft und amüsiert eher die Seehunde. Plötzlich ein Rutsch. Sie kommt! Sie kommt runter von der Sandbank!! Und rauscht mit Karacho rückwärts. Jetzt nur gleich aufstoppen, dass wir mit Levjes Ruder nicht irgendwo dagegendonnern und ihr empfindlichstes Teil lädieren.

Danke, lieber Gott, danke. Wir schwimmen wieder! Und wie gehts jetzt weiter? Da vorne ist das nächste Tonnenpaar. Soll ich umkehren? Nein, das Wasser ist am Fallen, hier komme ich nicht mehr raus, es geht nur nach vorn. Das muss doch zu machen sein, die dreiviertel Seemeile. Also weiter, bevor das Wasser hier vollends weg ist.

„Go, Wexford, go!“ Ich „rhumbe“ mich vorsichtig auf das nächste Tonnenpaar zu. Aus dem Augenwinkel entdecke ich in der Seekarte, dass ich immer auf Grund lief, wenn ich mich zu weit von der Kurslinie entfernte, die mir Navionics vorschlug. Navionics? Das führte in den Lagunen der Adria immer in die Irre, es hat sich mir tief eingeprägt: „Navionics auf See super. Sobald Du in Landnähe kommst: Nicht mehr Navionics.“ Aber hier in England und Irland scheint das anders zu sein, die Kartendaten scheinen selbst in einer Ria wie der von Wexford auf allerneuestem Stand zu sein.

Tatsächlich. Ich folge der Kurslinie, auch wenn mich der Wind immer wieder wegdrückt. Navionics zeigt tatsächlich in diesem Gebiet die ideale Kurslinie. 3,50 Meter. Ich sehe die drei Segelboote dort vorne an der Boje hinter der Insel, mit der Ruine, um die ich rum muss.

„Go, Wexford, go!“ 4,00 Meter. Vielleicht habs ich tatsächlich gleich geschafft? 7 Meter. Die ersten Häuser von Wexford. Auf der Insel hat jemand eine Fahne aufgepflanzt, zwei Farben erkenne ich, gelb und violett. Ein nautisches Warnzeichen vielleicht?

Ich laufe auf die Brücke zu. Der Strom setzt jetzt mit zwei Knoten. Das war aber richtig knapp, hier noch reinzukommen, nicht auszudenken, wie ich mich jetzt fühlen würde, 3 Seemeilen weit draußen auf einer Sandbänke liegend. Grausame Vorstellung.

Auf der Pier überall die gelbvioletten Fahnen. Die Bojen, an denen drei marode Yachten hängen, sehen schimmlig aus, und nichts für über zwei Knoten Strom. Lieber Ankern. Das Telefonbuch sagt, ich muss bis 50 Meter zur Brücke ran, davor gäbe es soliden Ankergrund auf 7 Meter, der auch die Strömung abkann. Tatsächlich. Ich drehe meine zwei Kreise, um den Ankergrund abzutasten. Alles ok. Dann fällt der Anker und hält sofort. Ich habs tatsächlich geschafft, hier reinzukommen.

Eine Weile schaue ich Levje zu, wie sie sich in der Strömung verhält. Das Loggenrädchen lärmt mit über 2 Knoten, aber mein Schiff liegt ruhig so allein im Fluss in der Abenddämmerung.

Es heißt, dass Guiness Bier mit jeder Kneipe besser schmeckt, die man der Brauerei am Liffey näherkommt. Wexford scheint mir ein ideales Terrain, um meine allabendliche Testreihe in dieser Sache fortzusetzen. Ich rudere an Land, klettere die Kaimauer zwischen den Trawlern hoch. Auf der Pier kaum Menschen, aber dafür überall die gelbvioletten Fahnen.

Ich gehe langsam in die Stadt. Autos rollen durch, mit gelbviolleten Fahnen, ich finde eine Kneipe, sie ist vollbesetzt mit jungen Leuten in Gelbviolett und Frauen, die sich Gelbviolett auf die Wangen gemalt haben. Am Thresen zwei Männer in Karl Valentin-Kostümen, zwischen denen hindurch ich mir mein Pint hole. 

Was ist hier los? Hat Wexford beim Football gewonnen? Liegt Wexford beim Windhundrennen vorn? Die Kneipe ist voller johlender Iren, ich trage mein Bier vor die Tür. Am Nebentisch geht es hoch her, sie haben mit ihrer Testreihe bereits deutlich Vorsprung vor mir. Plötzlich steht einer der jungen Männer auf, er schwankt leicht im Wind, hebt sein Glas zusammen mit den anderen und röhrt plötzlich, so laut es geht:

„Go, Wexford! Go!“

Wenn die wüssten.

Von England nach Irland und Schottland (9): Einhand über die irische See. Warum ich segle.

Meine diesjährige Segelreise wird mich von Juni an 
die englische Südküste nach Westen und von dort über Irland nach Schottland führen.
Anfang Juni Wochen bin vom Solent aufgebrochen und über die Needles, Dartmouth 
und Falmouth Harbour zu den Scilly-Isles gesegelt, um dort eine Front mit Starkwind abzuwettern. Danach sollte es in einem 24-Stunden-Schlag an die irische Südküste gehen.

Langsam verschwinden die Scilly Isles am Nachmittag am Horizont hinter mir. Von den 145 Inseln, Riffen, Felsen und Eilande der Inselgruppe sind erst all ihre Erhebungen zu sehen, eine Stunde später später sind die Inseln wie eine Herde ruhender Dromedare am Horizont. Und wieder eineinhalb Stunden später gleichen die Scilly Isles nur mehr einem Strich am Horizont, mit faserigem grauen Marker gezogen, der sich langsam auflöst. Ich hatte zwischen den Inseln Tresco und Bryher geankert und war am Vormittag noch schnell zur Insel Bryher gerudert, um in dem kleinen Inselladen zehn sandige Gehminuten vom Strand in der Inselmitte einzukaufen, der die rund 83 Inselbewohner  versorgt. Wie auf den Scilly-Islands üblich, fand ich hier, was in Südengland in keinem noch so guten Lebensmittelmarkt zu bekommen war: Frisches Brot vom Bäcker und nicht das in Scheiben geschnittene, plastikverpackte „Ewig-haltbar-Brot“. Und frisches Gemüse, um einen Topf mit Gemüsesuppe für die Überfahrt zu kochen.

Der Wetterbericht sagt bis zum Abend Windstille voraus. Dann ab 20 Uhr Wind aus Südwest, genau wie ich ihn für eine rasche Fahrt übers offene die 150 Seemeilen, 250 Kilometer nach Norden brauchen kann. Erst bis Mitternacht zunehmend auf 5 Windstärken, am Morgen vor der irischen Küste bis Mittags zunehmend auf 7 Windstärken. So, wie ich ihn nach einer schlaflosen Nacht nicht brauchen kann.

Tatsächlich ist das Meer bis zum Spätnachmittag unbewegt. Vier Stunden später nördlich der Inseln belohnt es mich, als die Sonne schräg durch die Wolken bricht. Plötzlich ist das Meer tiefblau, es scheint zu leuchten aus sich heraus, ich könnte jubeln über diese Farbe, über die Schönheit dieses Blau. Ich bin verblüfft. Selbst ein Meer, das meist grau erscheint, kann tiefblau leuchten, immer wieder bin ich verblüfft, dass die Farbe des Meeres niemals seine Farbe ist, sondern nur die Farbe des im Wasser brechenden Lichts, das einen bestimmten Farbton generiert.

Und weil heute Samstag ist und 17 Uhr, beschließe ich, dass heute Badetag ist, wie früher in meiner Kindheit. Badetag – jetzt gleich. Ich stelle Levjes Motor ab. Rolle das Großsegel ein und warte, bis Levje steht. 

Nach Stunden des Motorens ist allein die Stille hier draußen perfekt. Nur der Baum klappert etwas, ein beginnender Südwest läßt Levje leicht im Meer geigen. Aber sie bleibt brav liegen,  im leichten Wind, abhauen sollte sie ja nicht, wenn ich im Wasser bin. Ich hole meine Sachen, klappe die Badeleiter aus und steige ins Wasser. Ganz schön frisch, aber nicht kalt. Und herrlich prickelnd. Die irische See ist nicht tief, gerade mal 90 Meter ist es an dieser Stelle. Irland, England, die Scilly Isles, sie sind allesamt bergige Erhebungen auf dem großen Plateau des europäischen Festlandsschelfs. Die Länder ragen wie Gipfel über die Ebene, über die unsere Vorfahren einst wanderten, als der Meeresspiegel noch 100 Meter tiefer lag. Die Scilly Isles sind so besiedelt worden in der Steinzeit durch wandernde Jäger und Sammlerstämme.

Anders als im Mittelmeer auf 2.000 Meter zu baden, ist das hier auf 90 Meter Wassertiefe ein fast schon überschaubares Vergnügen. Während mir bei zwei Kilometern Wassersäule nicht mehr ganz geheuer ist, was da unter mir lebt und schwebt, ist das bei 90 Metern nicht ganz so gruselig. Statt eines bösartigen Tiefseerochens liegt da, wo ich jetzt gerade schwimme, am Grund bestenfalls irgendein steinzeitliches Kammergrab oder eine Steinsetzung. Viele der auf den Scilly-Isles entdeckten Steinzeit-Denkmäler sind nur bei Ebbe sichtbar.

Ich schwimme ein wenig von der Badeleiter weg. Ganz wohl ist mir dabei nicht mehr, ich bleibe brav in Levjes Nähe, selbst eine schnelle Runde schwimmend ums Schiff ist mir zu riskant, denn Levje läuft leicht mit der südwestlichen Strömung. Ich plantsche, tauche, pruste hinten um die Badeleiter herum und schaue unter Wasser den Sonnenstrahlen nach, die in der Tiefe Muster bilden.

Dann raus. An Deck. Schnell duschen. Und dann rein in frische Klamotten.  Jetzt noch ein Teller heiße Suppe, dann ist mein Badetag perfekt.

20 Uhr. Aus der leichten Dünung von Südwest werden Wellen. Ich sehe sie, wenn ich unter Deck gehe und aus dem Salonfenster nach draußen blicke, dann habe ich die Wellen auf Augenhöhe, etwa einen Meter dürften sie hoch sein. Das dürften die Vorboten des Südwest sein, den die Wetterberichte ankündigten. Levje läuft jetzt ruckiger und nicht mehr so sauber durch die Wellen wie noch heute Nachmittag. Ich habe jetzt 35 Seemeilen hinter mir. Und noch 110 vor mir. Noch 20 Stunden auf See.

Als die Sonne hinter einer Wolkenbank verschwindet, ist es kurz vor zehn. Als wollte es mich daran erinnern, jodelt im selben Moment mein Radar los. Es hat wenige Meilen voraus ein Schiff entdeckt und gibt nun Alarm. 10 Minuten später ist das Schiff nähergekommen und läuft vor der grauen Wolkenbank durch, die wie ein Vorhang die untergehende Sonne verbirgt. Eine Fähre ist es, wohl aus dem irischen Cork in die Bretagne unterwegs, die PONT AVEN der Reederei BRITTANY FERRIES. Ihr Steuermann ist freundlich und fährt in weitem Bogen um Levje herum, es ist selten, dass ein großes Schiff so weit ausholt und seiner Pflicht nachkommt, jedem Schiff unter Segeln, auch einem winzigen, Vorfahrt einzuräumen. Das 100 Meter lange Containerschiff, das gleich hinter der Fähre kommt, tut sich damit schon schwerer und passiert so nah, dass ich lieber nachgebe und ausweiche. 

Die Nacht ist da. Der Wind hat auf 15 Knoten aufgefrischt, eine nette Brise, wir kommen gut voran, Levje rennt mit 6, 7 Knoten Richtung Irland. Im Nordosten ist es noch hell, wo die Sonne unterging, wird es die ganze Nacht über nie dunkel werden. Und vier Stunden, nachdem die Sonne knapp links vom Mast unterging, wird sie knapp rechts vom Mast wieder aufgehen. Ich bin nun soweit nördlich, dass es um diese Jahreszeit nie ganz dunkel wird.

Überhaupt ist diese Nacht auf dem Meer eine Nacht der Lichter. Die Sonne, deren Helligkeit im Norden nicht verschwindet. Ein helles Licht weit im Westen, das mich über Stunden begleitet, vermutlich ein grell erleuchteter Schleppverband. Der große Wagen über mir, wenn ich nach hinten schaue am Morgen, leuchtet der hellste Stern am Himmel. Ich bin allein und doch nicht allein. Plötzlich begleiten mich in der Dunkelheit Delphine. Ich sehe sie nicht, das Meer ist schwarz, doch immer wieder sehe ich rechts von mir drei Blasenbahnen wie die Garben heller Leuchtspurmunition durchs Wasser schießen. Erst bin ich erschrocken. Als ich mit der Taschenlampe leuchte, kann ich nichts erkennen. Noch drei Mal wiederholt sich das Spiel mit den Blasenbahnen, die unter dem Heck knapp unter der Wasseroberfläche in elegantem Bogen nach vorn zum Bug schießen und dann schnell verschwinden. Dann sind die Tiere weg, was immer sie auch gewesen sein mögen. Diese Welt hier draußen ist für mich immer noch voller Rätsel.

Als die Dämmerung im Nordosten einsetzt, bin ich müde. Der Wind ist jetzt bei 20 Knoten, der Autopilot arbeitet wie der Radaralarm zuverlässig. Ich lege mich im Salon kurz schlafen. Als Einhandsegler lebt man da in einem Dilemma. Eigentlich muss beständig jemand wach sein und Wache gehen. Das ist Vorschrift. Andererseits bin ich nun seit fast 18 Stunden wach, ich muss zusehen, dass ich weiter funktioniere. Dafür brauche ich eine Mütze voll Schlaf. Also lege ich mich im Salon auf die Bank, um gleich wieder oben zu sein, wenn der Alarm wieder losgehen sollte. Doch mit Schlafen wird es nichts. Die Schiffsbewegungen sind mittlerweile so ruppig, dass sie mich nach einigen Minuten aus dem Schlaf reißen. Ich gehe wieder an Deck und stelle mich in der Dunkelheit vor das Stoffdach. Lange schaue ich fasziniert hinaus, in das, was ich alles sehe, während mein Schiff seine Arbeit macht und allein Richtung Irland segelt.

Als es hell wird, zeigt der Windmesser 25 Knoten. Gute Windstärke sechs, fast schon eine sieben. Ich erkenne es, weil die Meeresoberfläche beginnt, sich in Streifen zu legen. Es ist wie ein Spiel. Die Wellen rollen von links hinten an, drücken das Heck aus dem Kurs und kommen dann auf der anderen Seite rauschend und gischtend wieder zum Vorschein.

Ich habe die Segelfläche verkleinert. Nicht zum ersten Mal in dieser Nacht. Von Norden, von Irland her ziehen Wolkenbänke Richtung Deutschland, bin ich unter einer, dann legt der Wind um mehr als fünf Knoten zu. Zehn Minuten später ist die Wolkenbank durch, und ich kann wieder ausreffen.

Trotz allem ist mir das hier nie über. Ich kann stundenlang beobachten, was sich in dieser fremdartigen Umgebung tut. Am Morgen hat der Wind weiter zugenommen. Ich habe jetzt fast die 100 Seemeilen hinter mir. Noch etwa acht Stunden, dann sollte den River Suir erreicht haben, mein Ziel vor der südirischen Stadt Waterford. Ich konnte trotz der harten Schiffsbewegungen unter Deck schlafen, vielleicht zehn, vielleicht dreißig Minuten. Dann weckte mich das Radar, ich musste raus, nachsehen. Nur ein Schiff weit an backbord. Ich bin danach jedenfalls erholt, hangle mich nach hinten zum Holzsitz im  Heck und lasse mich von der frischen Brise durchpusten. Ich habe oft befürchtet, dass es mich hier im Norden im Gegensatz zum Mittelmeer frieren würde, doch ich liebe diese frische Brise, sie ist nicht kalt, nur „pfefferminzfrisch“.

Hinten am Heckkorb kann ich die Seevögel beobachten. Sie kurven wie die Wilden knapp über der Wasseroberfläche. Folgen einem Wellental. Stürzen sich kurz ins Wasser, sobald sich ein Fisch zeigt. Steigen in die Luft. Kurven weiter, als wäre dies bewegte Meer nichts 

anderes als eine Wiese, die man einfach nur abweiden muss. Wo sie wohl schlafen? Vermutlich treibend auf dem Meer. Sie kennen keine Stadt, wir sind hier 70 Kilometer vom Land entfernt, es ist mir ein Rätsel, wo diese Vögel ihr Nest bauen, um ihre Jungen aufzuziehen. Alles kann man auf dem Wasser, aber die Brut warmhalten und füttern? Diese Welt hier draußen ist voller Rätsel. Ich wundere mich immer wieder, wie anders hier alles ist, wieder einmal denke ich über den anderen Kosmos hier draußen nach.

Gegen acht Uhr bläst es mit dreißig Knoten. Die Möwen kann das nicht abhalten, auf die Suche nach Frühstück zu gehen. Ich gehe kurz unter Deck, mich hübsch machen. Viel ist nicht drin. Mir die Müdigkeit aus den Augen waschen, Zähne putzen in Levjes Bad. Alles geht einhändig, mit der anderen Hand muss ich mich festhalten, das Schiff wird jetzt heftig hin- und hergeworfen. Luxuriös reisen könnte man auf einem Schiff, das noch einmal 3-5 Meter länger ist, aber das hätte seinen Preis. Es wäre für mich, der ich meistens allein unterwegs bin, nicht mehr handlebar, ganz andere Kräfte wären da am Werk.

Ich koche mir Tee. Auch das passiert einhand, vielleicht kommt ja der Begriff „Einhand-segler“ daher, dass man bei Verhältnissen wie diesen zum Teekochen und für alles übrige nur eine Hand freihat. Ich hole mir zur Belohnung die Kekse, die ich im kleinen Laden von Bryher entdeckte. Ein Keks, etwas Schokolade, über deren Geschmack man sagen kann, dass sie aus Zucker besteht und dann noch weiterer Zucker in die Rezeptur gemengt wurde, um das ganze noch mit Zucker etwas anzudicken. Genau das richtige an einem verkaterten Morgen, „Morgenstund hat Gold im Mund.“ Wer das wohl erfunden hat.

Ich hangle mich nach oben ins Cockpit. Land in Sicht. Aber das wird jetzt keine leichte Nummer, bei diesem auflandigen Wind in die Bucht zu steuern. Ich habe mir die Bucht mit der größten Flussmündung und dem tiefsten Wasser ausgesucht, im Flachwasser wäre die Gefahr zu groß, dass die brechenden Wellen Levje einfach mitreißen und wir uns überschlagen – deshalb die breiteste und tiefste Flussmündung, die ich bei der Vorbereitung finden konnte. Der River Suir hat ein kilometerbreites Mündungsdelta, ich muss mich jetzt nur noch irgendwie da hineinspülen lassen. Ich stelle mich hinter das Steuer.

Als ich den Leuchtturm passiert habe, geht die Wassertiefe unter 20 Meter. Dafür bleibt der Wind bei über 30 Knoten. Ich versuche, die Mitte der Einfahrt zu nehmen, tatsächlich sind die Wellen hier richtig groß. Am schlimmsten ist es, wenn sie neben der Bordwand brechen, denn geht Levje hart auf die Seite und dreht sich. Ich habe alle Hände voll zu tun, von unten aus dem Salon knallt es zwei Mal hart. Hoffentlich ist der Suppentopf auf dem kardanisch aufgehängten Herd stehengeblieben, aber der Wumms lässt mich das Schlimmste fürchten.

Noch eine harte Welle. Dann bin ich drinnen. Nur nimmt der Wind hier in Böen auf 35 Knoten zu. Er kommt über die Hügel vom Meer und wirft Gischt auf. Wird Zeit, dass ich hier rauskomme und irgendwo auf dem Fluss eine ruhige Ecke finde. Nein, heute bloß kein Hafen. Ich will noch draußen bleiben und die Geräusche des Flusses hören.

Es sollte noch bis zum frühen Abend dauern, und den ganzen River Suir hinauf und hinunter, bis ich endlich einen ruhigen und sicheren Ankerplatz mitten im Fluss gefunden habe.

Ob ich nach diesen 24 Stunden weiter segeln will? Natürlich. Diese unbekannte Welt weit draußen auf dem Meer zieht mich immer wieder an, ihre Andersartigkeit, aber auch die Entspannung, die sie mir schenkt. Es gab nur einen Moment, an dem ich daran dachte, mein Boot zu verkaufen und dem Segeln jetzt sofort ein Ende zu setzen. Das war, als der Anker im Flussgrund endlich hielt, ich Schwimmweste und Klamotten auszog und endlich Zeit hatte, nach unten zu gehen, um zu schlafen. Es war tatsächlich der halbvolle Suppentopf gewesen, der in dem harten Brecher seinen Platz verlassen und zu Boden gegangen war – mit allem, was drin war.

Vor einigen Tagen las ich im Buch einer britischen Schriftstellerin sinngemäß, der Reiz des Fahrtensegelns wäre schnell erklärt. Es bestünde lediglich aus zwei Vergnügen: Dem Vergnügen, aus einem sicheren Hafen in die unbändige Weite hinauszugehen. Und dem Vergnügen, aus der ungebändigten Weite zurück in einen sicheren Hafen zu kommen. Dem ist nichts hinzuzufügen. Bis auf den Suppentopf.

Von England nach Irland und Schottland (8): "Biete Windstärken. Suche Temperatur." Oder: Sturm über den Scilly Isles.

Meine diesjährige Segelreise wird mich von Juni an 
die englische Südküste nach Westen und von dort über Irland nach Schottland führen.
Vor zwei Wochen bin vom Solent aufgebrochen und über die Needles, Dartmouth 
und Falmouth Harbour zu den Scilly-Isles gesegelt,
um hier zwei Tage Starkwind mit angekündigten 30-40 Knoten abzuwettern.

In der Nacht weckt mich ein Geräusch. Es kommt von vorne am Bug, ich höre das Fauchen des Windes über dem Boot, eindeutig bläst es jetzt stärker, als noch am Abend, bevor ich einschlief.

In mein langsames Wachwerden dringt das schnelle Auf- und Abebben des Windes. Im Halbschlaf erinnert mich das Fauchen draußen an ein unbändiges, wildes Tier, ein Tiger, der wild fauchend in seinem Käfig hin und her springt, bebend vor Zorn. Als das Geräusch ein drittes Mal vom Bug kommt, zwinge ich mich aufzuwachen. Das Geräusch klingt, als würde jemand die Festmacher, mit denen das Schiff an der Boje  hängt, mit übermenschlicher Kraft wie einen nassen Lappen auswringen.

„Steh auf. Geh nachsehen.“ Es ist kurz nach vier. Ich tappe schlaftrunken durchs Boot, ziehe mir über den Schlafanzug eine warme Hose und den Wollpullover. Dann stülpe ich wie ein Bergmann die Stirnlampe über den Kopf und gehe nach draußen und durch die Dunkelheit nach vorn. Ich habe Mühe, der Wind kommt kraftvoll genau von vorn. Tatsächlich. Das Boot schwingt im Wind so stark hin und her, dass sich die beiden Festmacher zur Boje links und rechts unter dem Anker verklemmt haben. Im Schein der Stirnlampe sehe ich, wie die Spannung das merkwürdige Geräusch erzeugt.

Ich versuche in der Dunkelheit über dem Bugkorb hängend, die Festmacher zu entwirren. Der Wind ist frisch in der Dunkelheit, „pfefferminzfrisch“ nannte ich es in einem der letzten Posts, doch wärmer als ich dachte. Und stärker. Ich muss irgendwie versuchen, den 20-Kilo-schweren Anker anzuheben, damit die Leinen unter ihm durch frei laufen können. Nicht gerade meine Lieblingssportart, an einem Donnerstag Morgen um vier im flatternden Schlafanzug  einen 20-Kilo-Anker in die Höhe zu wuchten. Er wehrt sich, dafür ist er ja auch gebaut. Er verklemmt sich. Es kostet mich eine Viertelstunde fruchtlosen Rumprobierens, bis ich endlich den Dreh raushabe, ihn wie eine schlafende Muräne aus seiner Höhle ziehe und oben am Bugkorb festbinde. Jetzt laufen die Festmacher frei unter ihm durch, während das Boot in den Böen hin und her schwingt. Gut gemacht. Meine Freude darüber, eine Lösung für mein Problem gefunden zu haben, ist weit stärker als die berechtigte Frage, warum ich mir das alles antue und nicht wie andere vernünftige Menschen zuhause in meinem Bett liege. Zufrieden gehe ich nach unten und bin auch gleich weg. Wer derartige Übungen absolviert, kommt ohne Schlaftabletten aus.

Am Morgen steigert sich der Wind. Der Windmesser zeigt zwischen 20 und 25 Knoten an, sechs Windstärken. Laut Wetterbericht soll er gegen 16 Uhr von sechs auf neun gehen, für den Rest der folgenden Nacht dann acht Windstärken. Es ist ein kalter Wind am Morgen, und vor allem ungewöhnlich böig, gefolgt von Pausen der Windstille. Ostwind. Er erinnert in seinem Charakter sehr an die Bora in der Adria, kalt und klar und ungewöhnlich böig und hart wehend nah an der Küste.

Ich frühstücke gerade, als Adam in seinem Boot vorbeikommt. Adam ist der Hafenmeister auf Tresco, einer der sechs bewohnten von den 146 Inseln, die zu den Scilly Isles gehören. Adam hat mir gestern einen Zettel mit Informationen über seinen Hafen dagelassen. Er ist Anfang 30 und freut sich, dass bei diesem Wetter alle seine Bojen vermietet sind. „Hochsaison im Juni“, sagt Adam, „das haben wir auf Tresco selten. „Aber das Beste ist, dass ich dem Wind die nächsten zwei Tage nicht raus muss, denn bei diesem Wind legt keiner freiwillig ab.  Meine Frau erwartet gerade ihr zweites Kind, und weil bei dem Wind eh keiner rausgeht und alles hier unverändert ist, muss ich nicht nachsehen gehen.“ Einen Moment beneide ich Adam um seinen Job. Hafenmeister auf Tresco, einer Insel, auf der 200 Menschen leben. „Ich war Segellehrer in Southampton. Dann hab ich Leute zum Yachtmaster ausgebildet im Solent, war Instructor. Als ich meine Familie gründete, suchte ich dann was Festes und fand diese Stelle auf Tresco. Ich bin ganzjährig angestellt, im Sommer die Boote, die von Cornwall aus hierherkommen und anlegen, im Winter kümmere ich mich um die Boote der Bewohner von Tresco. Mache Antifouling, repariere.“ Ob ihm denn nie einsam sei, hier auf der Insel. „Das gibt sich“, meint Adam. „Im August ist hier Hochsaison, da wünscht Du Dir, dass es endlich wieder leerer wird und Ruhe einkehrt auf Tresco. Und Ende Februar denkst Du dann, jetzt könnte es aber langsam mal wieder vorbeisein mit der Ruhe und losgehen.“

Es ist gegen elf, als Adam sich verabschiedet und zum nächsten Boot weiterfährt. 29 Knoten zeigt der Windmesser jetzt für die Böe, die Levje zur Seite drückte, als Adam weiterfuhr. Levje neigt sich jetzt stark auf die Seite, der „30-Knoten-Knicks“ zur Seite, der anzeigt, dass die Böen jetzt um die 30 Knoten stark sein müssen. Ich gehe nach unten und kümmere mich um meinen kleinen Haushalt. Betten neu überziehen. Den Gasherd mal richtig schrubben. Soll keiner Denken, das mit dem Segeln wäre Urlaub.

Vier Stunden später, gegen 15 Uhr. Die Böen kommen jetzt nicht mehr in Abständen, sondern folgen schnell aufeinander. Der Windmesser im Masttop zeigt in der Spitze jetzt fast 34 Knoten. Windstärke sieben, ich hoffe, dass es dabei bleibt. Halte ich das Handwindmeßgerät in die Luft, ist es sofort auf 31 Knoten. Ich gehe zum x-ten Mal nach vorn, um die Festmacher an der Boje zu kontrollieren. Auf dem Rückweg muss ich mich festhalten, der Wind schiebt mich schnell übers Deck. Die Festmacher vorne sahen gut aus. Auch das Dinghi am Heck eiert brav an seiner Reepschnur im Wind.

Dann hole ich mir Edelstahl-Putzzeug und poliere den Gasherd, weil mir das ergebnis noch nicht gefällt. Zur Belohnung gibts dann ein Stück Bitterschokolade mit karameliserten Orangenstückchen, die ich gestern für sündhaft teure 4 Pfund im Supermarkt auf Tresco fand. Sie ist jeden Penny wert, genauso wie der offene Parmesan dort, die Kalamata-Oliven oder das ofenfrische Brot aus der Bäckerei, dessentwegen ich gestern vor dem Sturm noch an Land ruderte. Von allen Supermärkten, die ich zwischen hier und dem Solent besuchte, ist der Supermarkt für die 200 Einwohner von Tresco mit weitem Abstand der qualitativ Hochwertigste. Mit dem Essen ist es in England wie vor 40 Jahren: Entweder ein kapitaler Absturz oder Oberliga, England scheint, was Essen angeht, immer noch eine ausgesprochene Klassengesellschaft.

18 Uhr. Die Böen kommen jetzt ohne Unterlass, auf dem Wasser bilden sich keine 50 Meter vom Ufer entfernt Schaumkronen. Das Fauchen ist jetzt immer über dem Boot, es steigert sich und bringt die Reffleine des eingerollten Groß in Schwingung, obwohl ich sie straff gespannt habe. Fast 35 Knoten zeigt der Windmesser, das Boot beginnt zu vibrieren in heftigen Böen. 35 Knoten ist, als würde jemand in einem Raum arglos den Knopf eines Handtrockners betätigen und im Bruchteil einer Sekunde beschleunigt die Luft in diesem Raum von 0 auf 60 Stundenkilometer, eine Geschwindigkeit, bei der sich der mesnchliche Körper gegen die Luftmassen stemmen muss, will er nicht umfallen.

Halb zehn. Langsam senkt sich die Sonne über Hangman’s Island, der Insel hinter mir, auf der oben ein Galgen steht und irgendetwas baumelt. Ich glaube nicht, dass der Galgen noch aus alter Zeit ist, aber Namen von Orten haben nunmal ihre Bedeutung. Ich werde jetzt noch eine Runde übers Deck drehen. Vorne nach den Festmachern sehen und hinten nach dem Dinghi. Ich hoffe, dass der Wind über Nacht etwas abflaut. Aber immer wenn ich denke, dasss er schwächer wird, weil die Böen eine Pause machen, belehren sie mich eines besseren und zerren und rütteln am Boot. Bevor wieder ein Moment Ruhe einkehrt.