Kategorie: Mare Più

1 Abend am Meer. 5 Fragen ans Leben. Und 1 mögliche Antwort auf die Frage nach dem richtigen Leben.

Sonntag Abend, Hafenmole Marano, Norditalien: Verlagsleiterin Susanne Guidera und ich brainstormen darüber, wie wir unseren gemeinsamen Verlag millemari. im nächsten Jahr ausrichten. Nicht, dass wir nicht viel auf die Beine gestellt hätten in den vergangenen zwei Jahren. 14 Bücher sind entstanden. 2 Kino-Filme. 1 DVD. Im Vorbeigehen mal eben 8-10 Kalender. Ich habe in den vergangenen drei Jahren drei Bücher geschrieben – das letzte, eben abgegeben, wird im Frühjahr 2018  bei PENGUIN als Spitzentitel erscheinen. 

Ein kleiner unabhängiger Verlag ist entstanden, der Bücher und Geschichten über Menschen am Meer verlegt. Über berühmte Weltumsegler. Über unbekannte Segler, die entweder ganz jung oder wie ich nach Jahren „im Geschirr“ aus Lust am Neustart aufs Meer gegangen sind, um irgendwie eine andere Seite ihres Lebens und unseres Planeten zu entdecken. 

Man könnte sich eigentlich zurücklehnen. Und den lauen Abend am Meer in Marano genießen. Wenn man das könnte. Ich kann’s aber nicht. Drum sitzen wir am Meer. Und brainstormen, wie es im Frühjahr 2018 weitergeht. Projekte werden gewälzt. Ideen werden gesponnen, während sich langsam die Nacht über die Fischkutter und die Pier vor der Hafenbar IL MOLO senkt. Ich ertappe mich dabei, wie ich immer wieder an den polnischen Segler denke, dessen propperes kleines Stahlschiff gestern noch an dieser Pier in den Wellen der Lagune leise schaukelte. Und den ich beneidete.

Drei ausgeheckte Projekte und eine Nacht auf LEVJE später erreicht mich morgens um sieben ein Mail meines besten Freundes Andal aus Berlin. Er ist noch voll im Geschirr, führt eine Firma. Aber seit 27 Jahren funktioniert unsere Freundschaft, weil wir uns gegenseitig mit Fragen bombardieren. Eigentlich kreisen wir mit unseren Fragen immer wieder wie in der Strömung eines reißenden Flusses treibende junge Hunde, die nach einem roten Ball schnappen. Der kleine rote Ball: Die Frage nach dem richtigen Leben.


Heute morgen um sieben ragen Andals Fragen vor mir so hoch auf wie der Bug der COSTA LUMINOSA über dem kleinen Japaner auf der Pier in Triest. Aber Freundschaft besteht auch aus richtigem Timing. Seine Fragen kommen mir, der ich mich wirklich wie der kleine Japaner mit dem Rucksack vor dem großen Bug des Lebens fühle, gerade recht. Deshalb, weil Andals Fragen sich ja mal wieder ums richtige Leben drehen, beantworte ich sie jetzt mal öffentlich. Denn schließlich drehen sich Andals Fragen ja auch darum, ob es sich gelohnt hat, nach 28 Jahren deutlich mehr Abende am Meer statt am Schreibtisch zu verbringen.

„Denkst Du, dass ein Fischer, der jeden Morgen losfährt, einer der glücklichsten Menschen ist?“

Unbedingt. Du erinnerst Dich sicher an den Satz, mit dem Dein unvollendeter Roman begann? „Kluge Menschen leben dort, wo Ihre Sehnsüchte genährt werden.“ 
Deine Romanheldin damals zog es an den Schrottplatz, immerhin. Dein Satz ist wichtig. Sehr wichtig. Ich bin letzte Woche auf einem Bagerschiff auf dem Tagliamento mitgefahren, um den zwei Männern, die tagein, tagaus die Flüsse der Lagunen und die Kanäle Venedigs ausbaggern, eine ähnliche Frage zu stellen. Ob sie nie die Wärme eines geheizten Büros vermissen würden. Nein, sagten sie. Der wochenlange Nebel im Winter wär nervig. Aber der Sommer würde sie voll entschädigen. Da wollten sie mit keinem tauschen.

„Um wieviel Prozent ist auf’s Meer losfahren besser als auf die Autobahn?“

90%. Ich habe irgendwann nachgerechnet und festgestellt, dass ich in meinen 28 Berufsjahren etwa 1,5 Millionen Dienstwagen-Kilometer zurückgelegt habe. Ich schäme mich still für meinen schauderhaften ökologischen Fussabdruck, der überwiegend dadurch entstand, dass mein Schreibtisch 67 Kilometer von meiner Behausung entfernt stand. 

Die zweite Erkenntnis: Irgendwo las ich mal, dass ein Mensch beim Fahren auf der Autobahn etwa demselben Stresspegel ausgesetzt ist wie ein Bomberpilot. Ich fürchte, die jüngeren, die kaum mehr Interesse am Besitz eines KFZ haben, haben instinktiv die Nachteile dessen begriffen, worunter wir noch Freiheit verstanden.

Die restlichen 10%? NOCH kommt man nicht ums Auto rum. Der Hafen in San Giorgio liegt 7 Kilometer außerhalb des Ortes. Ich hab noch kein Fahrrad auf der LEVJE. OHNE Auto gehts halt nicht. 

„Sollte man alle großen Einrichtungen abschaffen? Autobahnen? Frachter? Fähren? Shopping Center? Amazon? Gott?“

Ich finde nicht. Von uns beiden bist Du derjenige, der nachdrücklich daran glaubt, dass die Welt in den letzten 10, 20 Jahren eine bessere geworden ist.

Ich finde, am allerwenigsten sollte man Gott abschaffen. Die Menschheit hat dreieinhalb Jahrhunderte hingebastelt, um dessen Einfluss auf unser Leben zu verringern. Sie hats geschafft. Sich unabhängig gemacht. Leider bekommt uns das mittelmässig. Seit Gott bei den meisten aus dem Kopf ist, haben wir die Erdogans und Kacinskis und Orbans und Trumps. Ich habe den Eindruck, unser Wertesystem ändert sich gerade, und nicht zufällig, seit das Internet alle erreicht. Und alle alles sagen können. Das machen sich ein paar Leute zunutze. Da es ein weltweites Phänomen ist, hat es irgendwie mit sich verändernden Werten zu tun.

„Ist mit Kielschaden in San Giorgio festsitzen nicht wie gefeuert werden?“

Also: Das ist gut! Naja, ist schon Frust dabei. Und ich merke, wie ich den polnischen Segler beneidete, der sein kleines Schiff genau hierher nach Marano an die Pier steuerte. Nein, weil ich finde, ich muss einfach jetzt was draus machen. Man muss einfach nur was tun. Es ist eine spannende Übung, etwas, das einen frustet, in etwas Positives zu drehen. Im Büro leidet man eher darunter, dass man den Dingen nicht entkommen kann. Aber hier? Mach ich halt einfach was anderes…

Danke, mein Kleiner, für die Fragen. Und wenn ich jetzt noch die Nachteile meines freieren Daseins auflisten müsste:
– Selbständig sein ist nach Jahren fast drei Jahrzehnten „angestellt sein“ ungewohnt. Das Geld ist eben nicht am 30. jeden Monats auf dem Konto. 
– Nicht mehr in der „Firma“ sein, in einer Hierarchie oben, zwickt manchmal in der Seele. Ist aber gute Übung.
– Das Finanzamt kommt in meinem Leben nicht mehr einmal im Jahr, sondern 12 x vor.

Trotz alldem: Wenn man die Freiheit liebt und irgendwie ständig was machen will: Sind mehr Nächte am Meer genau das Richtige.

1 Abend am Meer. 5 Fragen ans Leben. Und 1 mögliche Antwort auf die Frage nach dem richtigen Leben.

Sonntag Abend, Hafenmole Marano, Norditalien: Verlagsleiterin Susanne Guidera und ich brainstormen darüber, wie wir unseren gemeinsamen Verlag millemari. im nächsten Jahr ausrichten. Nicht, dass wir nicht viel auf die Beine gestellt hätten in den vergangenen zwei Jahren. 14 Bücher sind entstanden. 2 Kino-Filme. 1 DVD. Im Vorbeigehen mal eben 8-10 Kalender. Ich habe in den vergangenen drei Jahren drei Bücher geschrieben – das letzte, eben abgegeben, wird im Frühjahr 2018  bei PENGUIN als Spitzentitel erscheinen. 

Ein kleiner unabhängiger Verlag ist entstanden, der Bücher und Geschichten über Menschen am Meer verlegt. Über berühmte Weltumsegler. Über unbekannte Segler, die entweder ganz jung oder wie ich nach Jahren „im Geschirr“ aus Lust am Neustart aufs Meer gegangen sind, um irgendwie eine andere Seite ihres Lebens und unseres Planeten zu entdecken. 

Man könnte sich eigentlich zurücklehnen. Und den lauen Abend am Meer in Marano genießen. Wenn man das könnte. Ich kann’s aber nicht. Drum sitzen wir am Meer. Und brainstormen, wie es im Frühjahr 2018 weitergeht. Projekte werden gewälzt. Ideen werden gesponnen, während sich langsam die Nacht über die Fischkutter und die Pier vor der Hafenbar IL MOLO senkt. Ich ertappe mich dabei, wie ich immer wieder an den polnischen Segler denke, dessen propperes kleines Stahlschiff gestern noch an dieser Pier in den Wellen der Lagune leise schaukelte. Und den ich beneidete.

Drei ausgeheckte Projekte und eine Nacht auf LEVJE später erreicht mich morgens um sieben ein Mail meines besten Freundes Andal aus Berlin. Er ist noch voll im Geschirr, führt eine Firma. Aber seit 27 Jahren funktioniert unsere Freundschaft, weil wir uns gegenseitig mit Fragen bombardieren. Eigentlich kreisen wir mit unseren Fragen immer wieder wie in der Strömung eines reißenden Flusses treibende junge Hunde, die nach einem roten Ball schnappen. Der kleine rote Ball: Die Frage nach dem richtigen Leben.


Heute morgen um sieben ragen Andals Fragen vor mir so hoch auf wie der Bug der COSTA LUMINOSA über dem kleinen Japaner auf der Pier in Triest. Aber Freundschaft besteht auch aus richtigem Timing. Seine Fragen kommen mir, der ich mich wirklich wie der kleine Japaner mit dem Rucksack vor dem großen Bug des Lebens fühle, gerade recht. Deshalb, weil Andals Fragen sich ja mal wieder ums richtige Leben drehen, beantworte ich sie jetzt mal öffentlich. Denn schließlich drehen sich Andals Fragen ja auch darum, ob es sich gelohnt hat, nach 28 Jahren deutlich mehr Abende am Meer statt am Schreibtisch zu verbringen.

„Denkst Du, dass ein Fischer, der jeden Morgen losfährt, einer der glücklichsten Menschen ist?“

Ok. Ich werde einen Fischer suchen. Und ihn befragen. Ein Fischer weiß das sicher am besten.

Ansonsten: Du erinnerst Dich sicher an den Satz, mit dem Dein unvollendeter Roman begann? „Kluge Menschen leben dort, wo Ihre Sehnsüchte genährt werden.“ 
Deine Romanheldin damals zog es an den Schrottplatz, immerhin. Dein Satz ist wichtig. Sehr wichtig. Ich bin letzte Woche auf einem Bagerschiff auf dem Tagliamento mitgefahren, um den zwei Männern, die tagein, tagaus die Flüsse der Lagunen und die Kanäle Venedigs ausbaggern, eine ähnliche Frage zu stellen. Ob sie nie die Wärme eines geheizten Büros vermissen würden. Nein, sagten sie. Der wochenlange Nebel im Winter wär nervig. Aber der Sommer würde sie voll entschädigen. Da wollten sie mit keinem tauschen.

„Um wieviel Prozent ist auf’s Meer losfahren besser als auf die Autobahn?“

90%. Ich habe irgendwann nachgerechnet und festgestellt, dass ich in meinen 28 Berufsjahren etwa 1,5 Millionen Dienstwagen-Kilometer zurückgelegt habe. Ich schäme mich still für meinen schauderhaften ökologischen Fussabdruck, der überwiegend dadurch entstand, dass mein Schreibtisch 67 Kilometer von meiner Behausung entfernt stand. 

Die zweite Erkenntnis: Irgendwo las ich mal, dass ein Mensch beim Fahren auf der Autobahn etwa demselben Stresspegel ausgesetzt ist wie ein Bomberpilot. Ich fürchte, die jüngeren, die kaum mehr Interesse am Besitz eines KFZ haben, haben instinktiv die Nachteile dessen begriffen, worunter wir noch Freiheit verstanden.

Die restlichen 10%? NOCH kommt man nicht ums Auto rum. Der Hafen in San Giorgio liegt 7 Kilometer außerhalb des Ortes. Ich hab noch kein Fahrrad auf der LEVJE. OHNE Auto gehts halt nicht. 

„Sollte man alle großen Einrichtungen abschaffen? Autobahnen? Frachter? Fähren? Shopping Center? Amazon? Gott?“

Ich finde nicht. Von uns beiden bist Du derjenige, der nachdrücklich daran glaubt, dass die Welt in den letzten 10, 20 Jahren eine bessere geworden ist.

Ich finde, am allerwenigsten sollte man Gott abschaffen. Die Menschheit hat dreieinhalb Jahrhunderte hingebastelt, um dessen Einfluss auf unser Leben zu verringern. Sie hats geschafft. Sich unabhängig gemacht. Leider bekommt uns das mittelmässig. Seit Gott bei den meisten aus dem Kopf ist, haben wir die Kacinskis und Orbans und Trumps und die Erdogans. Die gabs zwar immer. Es ist aber kein Zufall, dass sie gerade jetzt mehr werden. Ich habe den Eindruck, unser Wertesystem ändert sich gerade, und nicht zufällig, seit das Internet alle und jeden erreicht. Und alle alles sagen können. Das machen sich ein paar Leute zunutze. Da es ein übernational verbreitetes Phänomen ist, hat es irgendwie mit sich verändernden Werten zu tun.

„Ist mit Kielschaden in San Giorgio festsitzen nicht wie gefeuert werden?“

Also: Das ist gut! Naja, ist schon Frust dabei. Und ich merke, wie ich den polnischen Segler beneidete, der sein kleines Schiff genau hierher nach Marano an die Pier steuerte. Nein, weil ich finde, ich muss einfach jetzt was draus machen. Man muss einfach nur was tun. Es ist eine spannende Übung, etwas, das einen frustet, in etwas Positives zu drehen. Im Büro leidet man eher darunter, dass man den Dingen nicht entkommen kann. Aber hier? Mach ich halt einfach was anderes…

Danke, Anderle, für die Fragen. Und wenn ich jetzt noch die Nachteile meines freieren Daseins auflisten müsste:
– Selbständig sein ist nach Jahren fast drei Jahrzehnten „angestellt sein“ ungewohnt. Das Geld ist eben nicht am 30. jeden Monats auf dem Konto. 
– Nicht mehr in der „Firma“ sein, in einer Hierarchie oben, zwickt manchmal in der Seele. Ist aber gute Übung. Es zwingt dazu, den Gedanken der eigenen Unwichtigkeit zuzulassen.
– Das Finanzamt kommt in meinem Leben nicht mehr einmal im Jahr, sondern 12 x vor.

Trotz alldem: Wenn man die Freiheit liebt und irgendwie ständig was machen will: Sind mehr Nächte am Meer genau das Richtige.

Menschen am Meer: Bei der Köchin des Winzers Livio Felluga. Oder: Wie man im Friaul Risotto macht.

Weil mein Schiff am Kiel undicht ist, bin ich anders als geplant nicht losgesegelt. 
Und werde ich auch die nächsten vier Wochen nicht segeln. 
Stattdessen werde ich Geschichten erzählen, die zu erzählen ich 
den Winter über keine Zeit fand. Geschichten aus den Häfen. 
In und um San Giorgio di Nogaro im Friaul, der nordöstlichsten Ecke Italiens.


Es gibt Abende, die beginnen unscheinbar wie das Knarzen einer Stiege, die man schon tausendmal betrat. Und enden fulminant wie der wirbelnde Bolero Ravels. Ein bisschen liegt es schon vom Meer weg, das Haus, in dem der Winzer Livio Felluga lebte. Ein altes Haus, irgendwo auf einem der Hügel des Friaul, im Collio, den sanften Hängen an der Grenze zu Slowenien.


Es ist eine Weingegend. Und sie bauen hier allerhand an. Den friulischen Tocai, der so hieß, bis die EU sagte, so dürfe er nicht mehr heißen, wegen des Tocai der Ungarn. Also tauften sie ihn um in „Friulano“, so heißt er jetzt und ist doch immer noch, was er einst war: ein ausgezeichneter Fischbegleiter, der mich nie enttäuschte. Aber auch an richtige „Rockertypen“ von Rebsorten wagten sie sich hier heran. Livio Felluga, der einer – wenn nicht DER – bekannteste Winzer des Friaul war, getraute sich sogar an die Refosco-Rebe, den Refosk, ein rauer Geselle, den die Slowenen hinter der Grenze servieren und der jeden braven Italiener schon beim ersten Schluck schmerzhaft das Gesicht verziehen lässt.


Aber mit Refosk begann der Abend im Haus des Winzers nicht. Sondern mit den Polpette oben. Kleinen Bällchen aus – ja was denn nun eigentlich? Fleisch wars keins. Fisch auch nicht. Aber umwerfend lecker wars, zusammen mit etwas Prosciutto crudo und dem Käse und der Quiche (die italienischen Leser werden sich jetzt entrüstet abwenden, weil es natürlich nicht Quiche, sondern irgendwie anders heißt.)

Jedenfalls waren die Polpette so beschaffen, dass der riesige Teller mit den gebackenen Kugeln sofort weg war. Ich nahm mir jedenfalls vor, die Köchin zu fragen, die plötzlich mitten im Raum und inmitten der Gesellschaft stand. Sie verstummte, die Abendgesellschaft und folgte augenblicklich der befehlsgewohnten Stimme der Köchin, die weiter Polpette auf Teller lud.


Leda sei ihr Name, sagte die Köchin mir, als ich mich später von der großen Tafel weg in ihre Küche schlich, um sie nach dem Geheimnis ihrer Polpette zu fragen. Aber als Leda begann, von sich zu erzählen, da vergaß ich, warum ich zu ihr in die Küche geschlichen war. Eigentlich dachte ich ja: Gleich wirft sie mich raus, die resolute Leda. Stattdessen erzählte sie mir Eindringling geduldig, was es als nächstes auf die Teller käme: Gratinierter Spargel. Die trug sie auf die Teller auf. Und ich, der ahnte, dass da ein Gedicht auf warmen Tellern daherkommen würde, schlich schnell hinaus auf meinen Platz am anderen Ende der langen Tafel.


Er war natürlich der Hammer, der gratinierte Spargel. Ich war platt, schon allein weil er schon nicht so fahl und bleich dem kochenden Wasser entstiegen war, wie er das oft in Deutschland tut, bemitleidenswert bleich und schlabberig, sondern in seiner vollen Kraft und mit Kräutern und Butter bedeckt. Leda wusste da etwas, was den meisten von uns abhanden gekommen war: Dass sich nämlich das Auge nicht täuschen lässt, schon gar nicht bei dem, was auf dem Teller liegt. Und dass man selbst dem Spargel seine Würde in seinem Aussehen lassen muss, will man ihn richtig geniessen. 


Kaum war das mit dem Spargel vorbei, ließ ich schnöde meine Tischnachbarn Tischnachbarn sein. Und schlich zu Leda in die Küche. Sie erinnerte mich an meine Großmutter im Gebrodel ihrer Küche, wie sie da im Risotto rührte. Und gleichzeitig die sattgelbe Polenta, die auf dem hinteren Gasbrenner riesige Blasen warf, nicht aus den Augen ließ. Was das denn für ein Risotto sei, fragte ich Leda ehrfürchtig, die mich gar nicht wahrnahm vor lauter Risotto-rühren und Risotto-kosten und -rühren und -kosten. Sie zu fragen, ob ich wohl auch mal dürfe, das traute ich mich dann doch nicht. Zu erhaben war der Moment, ich war zu ehrfürchtig, einer Meisterin des Risotto bei der Arbeit zuzuschauen. „Ich bin jetzt 73“, erzählte Leda. „Mit 18 kam ich hier ins Haus zu Livio Felluga und seiner Familie. Und seitdem habe ich für ihn gekocht. Meine Eltern hatten eine Trattoria hier im Dorf – da hab ich alles gelernt. Auch das hier.“ Was das wohl für ein Risotto sei, frage ich Leda.


„Sklobet“, sagte sie ungerührt. Und deutete auf die grünen Kräuter im Risotto, während sie beiläufig ein großes Stück Butter ins Risotto wirft und mit dem großen Holzkochlöffel weiterrührt, den ich aus der Küche meiner Großmutter kannte. „Sklobet???“, fragte ich Leda wie ein Trottel. 

„Eehhh, Sklobet, eben,“ sagte sie. „Non so la parola tedesca“ – „Ich kenne das deutsche Wort nicht, aber lateinisch heißt es ‚Silene vulgaris’“. Sprachs und rührte. Und kostete. „Aha“, sage ich, der ich mich immer wie ein König fühlte, wenn ich ‚Taraxacum officinalis‘ von ‚Anemone Silvestris‘ unterscheiden konnte. Wiki half weiter, ein bisschen jedenfalls. Aber nicht so richtig. „Taubenkopf-Leimkraut“ stand da. „Aha“. Schon mal gehört? Oder gar gegessen?? „Ist ein typisch friulanisches Gericht, man kann es nur machen, wenn die Pflanze noch nicht blühte – ich hab heute einen ganzen Eimer davon gesammelt“, erzählte Leda, während sie mit einer Hand nach der Parmesan-Reibe griff. Und gleichzeitig im Risotto immer weiter rührte. Und kostete.


Irgendwie war sie immer noch nicht zufrieden. Trotz der Berge Parmesan, die sie wieder und wieder zwischen die Risottokörner rührte. „Noch nicht richtig“, sagt sie zu sich selber, als wäre ich ein Geist und gar nicht die da, so versunken war Leda auf der Jagd nach dem richtigen Geschmack. „Muss genügen für heute“, schüttelte sie gleichmütig den Kopf, als wäre sie ein Golfer, der Tag um Tag einsam seine Runden auf dem Golfplatz dreht, auf der Jagd nach dem eigenen Rundenrekord, der heute eben wieder nicht gelang. 

Nur widerstrebend verlasse ich Leda in ihrer Küche. Eigentlich will ich ja gleich wieder zu ihr zurück in die Küche. Aber über ihrem Risotto kann ich bloß die Augen verdrehen vor Wonne. Ich zwinge mich zum langsam essen. Aber irgendwann ist „Schluss mit lustig“ und „Alles hat ein Ende“ – aber mich hält es nicht auf meinem Platz, ich bin ein schlechter Gast an der Tafel und sause wieder zu Leda in die Küche. Da ist Leda schon beim nächsten Gang. „Gleich gibts Perlhuhn mit dunkler Polenta“, schnurrt sie, als hätte sie auf mich gewartet. Perlhuhn also. Und an meinem inneren Auge ziehen meine Erfahrungen mit staubtrockenen Perlhuhn-Beinchen vorbei. In jedem meiner Lebensjahrzehnte etwa eines. Aber ich vertraue Leda – vielleicht, weil ihre zerarbeiteten, verbogenen Hände mich an die Hände meiner Großmutter erinnern. „Weißt Du, ich hab das Perlhuhn diesmal anders gemacht als sonst. Ich wollte mal etwas neues ausprobieren. Ich habe es mit Essig gewaschen. Und einen Tag mit etwas Knoblauch eingelegt – nicht viel. Und jetzt habe ich es einfach mit einem Salbeiblatt in eine Scheibe frischen Lardo gewickelt, Bauchspeck. Und bei niedriger Temperatur im Ofen geschmort.“

Ob sie denn in den 55 Jahren, die sie für Livio Felluga gekocht hat, den Winzer, nicht öfter mal Lust hatte, etwas anderes zu machen?

„Das schon. Aber mir hat einfach Livio Felluga gefallen. Ich hab heimlich anderes ausprobiert. Aber es hat mir nicht gefallen. In Versuchung war ich öfter. Aber ich bin bei Ihm und seiner Familie geblieben.“

Was denn ihr Lieblingsessen sei?

„Lieblingsessen? Hab ich keins. Wenn ich allein bin, ess ich Brot mit Marmelade. Und Salat. Ich mag nicht für mich kochen. Aber wenn ich FÜR jemanden koche: dann bringe ich Höchstleistung“, sagt sie, während Flavia ihr die Teller für das Perlhuhn reicht. Flavia, die so jung aussieht. Und doch auch schon 27 Jahre neben Leda im Haushalt der Familie Felluga arbeitet.

„Ich probiere auch immer etwas neues aus – so wie heute, mit dem Perlhuhn. Das alte zu wiederholen – ist langweilig. Das Neue reizt mich – aber bei den Sachen, die ich ausprobiere, bleibe ich innerhalb der Tradition.“

„Und die Moderne?“, frage ich, während sie dem Geschmack auf ihrem Löffel nachsinnt.

„Die mag ich nicht. Schäumchen und so. Bah. Nein. Mich reizt die Tradition – und neues mit den alten Rezepten zu machen. Manches verstehe ich auch nicht. Und den Hype um die ‚Barbabietola‘, die Rote Beete, den verstehe ich ja überhaupt nicht.“

Ledas Perlhuhn? Es ist vielleicht das wundervollste Geflügel, das ich je aß. Zart und voll Geschmack und von überirdischer Art. Danach? Ganz schnell zu ihr in die Küche.

Was ich denn für ein Sternzeichen sei, fragt sie mich. „Sagittario – Schütze“, antworte ich. Da lächelt sie nur wissend, Leda della Rovere, die 55 Jahre für den Winzer Livio Felluga arbeitete. Ihr Lächeln bleibt ihr Geheimnis – so wie sie das der einfachen Polenta für sich behält.

Und sie? „Ich bin Sternzeichen Löwe“, und lacht. Da wundert mich nichts mehr – denn Löwe ist mein Aszendent.

Livio Felluga, der Winzer, für den Leda kochte, starb vergangenes Jahr am Weihnachtstag im Alter von 102 Jahren. Leda della Rovere wünsche ich ein mindestens ebenso langes Leben. Und wenn ich Glück habe: Dann stehe ich eines Tages noch einmal neben ihr, in ihrer Küche, und darf zusehen, wie sie kocht. Vielleicht erzählt ihr einer der friulanischen Freunde von diesem Post. Denn etwas hat Leda in ihrem Leben ganz sicher noch nie probiert. Internet.

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unter millemari.de/Ein-sommer-lang-sizilien.

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Menschen am Meer: Bei der Köchin des Winzers Livio Felluga. Oder: Wie man im Friaul Risotto macht.

Weil mein Schiff am Kiel undicht ist, bin ich anders als geplant nicht losgesegelt. 
Und werde ich auch die nächsten vier Wochen nicht segeln. 
Stattdessen werde ich Geschichten erzählen, die zu erzählen ich 
den Winter über keine Zeit fand. Geschichten aus den Häfen. 
In und um San Giorgio di Nogaro im Friaul, der nordöstlichsten Ecke Italiens.


Es gibt Abende, die beginnen unscheinbar wie das Knarzen einer Stiege, die man schon tausendmal betrat. Und enden fulminant wie der wirbelnde Bolero Ravels. Ein bisschen liegt es schon vom Meer weg, das Haus, in dem der Winzer Livio Felluga lebte. Ein altes Haus, irgendwo auf einem der Hügel des Friaul, im Collio, den sanften Hängen an der Grenze zu Slowenien.


Es ist eine Weingegend. Und sie bauen hier allerhand an. Den friulischen Tocai, der so hieß, bis die EU sagte, so dürfe er nicht mehr heißen, wegen des Tocai der Ungarn. Also tauften sie ihn um in „Friulano“, so heißt er jetzt und ist doch immer noch, was er einst war: ein ausgezeichneter Fischbegleiter, der mich nie enttäuschte. Aber auch an richtige „Rockertypen“ von Rebsorten wagten sie sich hier heran. Livio Felluga, der einer – wenn nicht DER – bekannteste Winzer des Friaul war und der noch mit 90 im Geländewagen durch seine 155 Hektar Weinberge fuhr, um Reben zu kontrollieren, traute sich sogar an die Refosco-Rebe ran, den Refosk, ein rauer Geselle, den die Slowenen hinter der Grenze servieren und der jeden braven Italiener schon beim ersten Schluck schmerzhaft das Gesicht verziehen lässt.


Aber mit Refosk begann der Abend im Haus des Winzers nicht. Sondern mit den Polpette oben. Kleinen Bällchen aus – ja was denn nun eigentlich? Fleisch wars keins. Fisch auch nicht. Aber umwerfend lecker wars, zusammen mit etwas Prosciutto crudo und dem Käse und der Quiche (die italienischen Leser werden sich jetzt entrüstet abwenden, weil es natürlich nicht Quiche, sondern irgendwie anders heißt.)

Jedenfalls waren die Polpette so beschaffen, dass der riesige Teller mit den gebackenen Kugeln sofort weg war. Ich nahm mir jedenfalls vor, die Köchin zu fragen, die plötzlich mitten im Raum und inmitten der Gesellschaft stand. Sie verstummte, die Abendgesellschaft, und folgte augenblicklich der befehlsgewohnten Stimme der Köchin, die weiter Polpette auf Teller lud.


Leda sei ihr Name, sagte die Köchin mir, als ich mich später von der großen Tafel weg in ihre Küche schlich, um sie nach dem Geheimnis ihrer Polpette zu fragen. Aber als Leda begann, von sich zu erzählen, da vergaß ich, warum ich zu ihr in die Küche geschlichen war. Eigentlich dachte ich ja: Gleich wirft sie mich raus, die resolute Leda, aus ihrer Küche. Stattdessen erzählte sie mir Eindringling geduldig, was als nächstes auf die Teller käme: „Asparagi gratinati.“ Gratinierter Spargel. Die trug sie auf die Teller auf. Und ich, der ahnte, dass da auf warmen Tellern ein Gedicht daherkommen würde, huschte schnell hinaus auf meinen Platz am anderen Ende der langen Tafel.


Er war natürlich der Hammer, der gratinierte Spargel. Ich war platt, schon allein weil er nicht so fahl und bleich dem kochenden Wasser entstiegen war, wie er das oft in Deutschland tut, bemitleidenswert leblos und schlabberig, sondern in seiner vollen Kraft. Und mit Kräutern und Butter bedeckt. Leda wusste da etwas, was den meisten von uns abhanden gekommen war: Dass sich nämlich das Auge nicht täuschen lässt, schon gar nicht bei dem, was auf dem Teller liegt. Und dass man selbst dem Spargel seine Würde in seinem Aussehen lassen muss, will man ihn richtig geniessen. 


Kaum war das mit dem Spargel vorbei, ließ ich schnöde meine Tischnachbarn Tischnachbarn sein. Und schlich zu Leda in die Küche. Sie erinnerte mich an meine Großmutter im Gebrodel ihrer Küche, wie sie da im Risotto rührte. Und gleichzeitig die sattgelbe Maismehl-Polenta, die auf dem hinteren Gasbrenner riesige Blasen warf, nicht aus den Augen ließ. Was das denn für ein Risotto sei, fragte ich Leda ehrfürchtig, die mich gar nicht wahrnahm vor lauter Risotto-rühren und Risotto-kosten und -rühren und -kosten. Sie zu fragen, ob ich wohl auch mal dürfe, lag mir auf der Zunge. Aber ich traute mich nicht. Zu erhaben war der Moment, ich war zu ehrfürchtig, Leda beim Risotto zuzuschauen. „Ho 73 anni – Ich bin 73“, erzählte Leda. „Mit 18 kam ich hier ins Haus zu Livio Felluga und seiner Familie. Seitdem habe ich für ihn gekocht. Meine Eltern hatten eine Trattoria hier im Dorf – da hab ich alles gelernt. Auch das hier.“ Was das wohl für ein Risotto sei, frage ich Leda.


„Sklobet“, sagte sie ungerührt. Und deutete auf die grünen Kräuter im Risotto, während sie beiläufig ein großes Stück Butter ins Risotto wirft und mit dem großen Holzkochlöffel weiterrührt, den ich aus der Küche meiner Großmutter kannte. „Sklobet???“, fragte ich Leda wie ein Trottel. 

„Eehhh, Sklobet, eben,“ sagte sie. „Non so la parola tedesca“ – „Ich kenne das deutsche Wort nicht, aber lateinisch heißt es ‚Silene vulgaris’“. Sprachs und rührte. Und kostete. Und rührte. „Aha“, sagte ich, der ich mich immer wie ein König fühlte, wenn ich ‚Taraxacum officinalis‘ von ‚Anemone Silvestris‘ unterscheiden konnte. Wiki half weiter – ein bisschen jedenfalls. Aber nicht so richtig. „Taubenkopf-Leimkraut“ stand da. Leimkraut. „Aha“. Schon mal gehört? Schon mal gesehen?? Oder gar gegessen??? „Ist ein typisch friulanisches Gericht, man kann es nur machen, wenn die Pflanze noch nicht blühte – ich hab heute einen ganzen Eimer davon gesammelt“, erzählte Leda, während sie mit einer Hand nach der Parmesan-Reibe griff. Und gleichzeitig im Risotto immer weiter rührte. Und kostete.


Irgendwie war sie immer noch nicht zufrieden. Trotz der Berge Parmesan, die sie wieder und wieder zwischen die Risottokörner rührte. „Noch nicht richtig“, sagt sie zu sich selber, als wäre ich ein Geist und gar nicht da in ihrer Küche, so versunken ist Leda auf ihrer einsamen Jagd nach dem richtigen Geschmack. „Muss genügen für heute“, schüttelt sie gleichmütig den Kopf, als wäre sie ein Golfer, der Tag um Tag einsam bei Sonne und Regen seine Runden auf dem Golfplatz dreht, auf der Jagd nach dem eigenen Rundenrekord, der heute eben wieder nicht gelang. 

Nur widerstrebend verlasse ich Leda in ihrer Küche. Eigentlich will ich ja gleich wieder zu ihr zurück in die Küche. Aber über ihrem Risotto kann ich bloß die Augen verdrehen vor Wonne. Ich zwinge mich zum langsam essen. Aber irgendwann ist „Schluss mit lustig“ und „Alles hat ein Ende“und der Teller mit dem Risotto und dem Leimkraut ist leer – aber mich hält es nicht auf meinem Platz, ich bin ein schlechter Tischnachbar und sause wieder zu Leda in die Küche. Da ist Leda schon beim nächsten Gang. „Gleich gibts Perlhuhn mit dunkler Polenta“, schnurrt sie, als hätte sie auf mich gewartet. Perlhuhn also. Und an meinem inneren Auge ziehen meine Erfahrungen mit staubtrockenen Perlhuhn-Beinchen vorbei. In jedem meiner Lebensjahrzehnte waren es ein bis zwei solcher trockener Erfahrungen. Perlhuhn. Das will was. Aber ich vertraue Leda – vielleicht, weil ihre zerarbeiteten, verbogenen Hände mich an die Hände meiner Großmutter erinnern, denen Kässpatzen und Käsekuchen in unnachahmlichem Geschmack entsprungen waren.

Da reißt mich Leda aus meinen Gedanken: „Weißt Du, ich hab das Perlhuhn diesmal anders gemacht als sonst. Ich wollte mal etwas neues ausprobieren. Es dauerte einen Tag. Ich habe es mit Essig gewaschen. Und einen Tag mit etwas Knoblauch eingelegt – nicht viel. Und jetzt habe ich es einfach mit einem Salbeiblatt in eine Scheibe frischen Lardo gewickelt, Bauchspeck. Und bei niedriger Temperatur im Ofen geschmort.“

Ob sie denn in den 55 Jahren, die sie für Livio Felluga gekocht hat, den Winzer, nicht öfter mal Lust hatte, etwas anderes zu machen? Einfach woanders zu arbeiten?

„Das schon. Aber mir hat einfach Livio Felluga gefallen. Ich hab heimlich anderes ausprobiert. Hab Gelegenheitshalber auch für andere gekocht. Aber gefallen hat es mir nie. In Versuchung war ich öfter. Aber ich bin bei Ihm und seiner Familie geblieben.“

Warum?

„Mir hat Livio Felluga gefallen.“

Was denn ihr Lieblingsessen sei?

„Lieblingsessen? Hab ich keins. Wenn ich allein bin, ess ich Brot mit Marmelade. Und Salat. Ich mag nicht für mich kochen. Aber wenn ich FÜR jemanden koche: dann bringe ich Höchstleistung“, sagt sie, während Flavia ihr die Teller für das Perlhuhn reicht. Flavia, die so jung aussieht. Und doch auch schon 27 Jahre neben Leda im Haushalt der Familie Felluga arbeitet.

„Ich probiere auch immer etwas neues aus – so wie heute, mit dem Perlhuhn. Das alte zu wiederholen – ist langweilig. Das Neue reizt mich – aber bei den Sachen, die ich ausprobiere, bleibe ich innerhalb der Tradition.“

„Und die Moderne?“, frage ich, während sie mich scheinbar vergisst, weil sie dem Geschmack auf ihrem Löffel nachsinnt und einen Moment ganz weit weg ist.

„Die mag ich nicht. Schäumchen und so. Bah. Nein. Mich reizt die Tradition – und neues mit den alten Rezepten zu machen. Manches verstehe ich auch nicht. Und den Hype um die ‚Barbabietola‘, die Rote Beete, den verstehe ich ja überhaupt nicht.“

Ledas Perlhuhn? Es ist vielleicht das wundervollste Geflügel, das ich je aß. Zart und voll Geschmack und von überirdischer Art. Ich wusste nicht, dass ein Perlhuhn so schmecken kann. Danach? Ganz schnell zu ihr in die Küche.

Was ich denn für ein Sternzeichen sei, fragt sie mich, als ich neben ihr stehe und ihr beim Verteilen des Desserts zusehe. „Sagittario – Schütze“, antworte ich. Da lächelt sie nur wissend, Leda della Rovere, die 55 Jahre für den Winzer Livio Felluga arbeitete. Ihr Lächeln bleibt ihr Geheimnis – so wie sie das der einfachen Polenta für sich behält.

Und sie? „Ich bin Sternzeichen Löwe“, und lacht. Da wundert mich dann gar nichts mehr. Nicht mehr, warum die Tischgesellschaft auf Leda hört. Nicht mehr Livio Fellugas Sohn Marco, der mir lachend später erzählt „Leda – oh ja, sie ist der Chef im Haus.“ Nicht mehr, warum Leda ausgerechnet mich still in ihrer Küche duldet. Denn Löwe ist mein Aszendent. Als ich es ihr erzähle, lacht sie schallend. Und wir nehmen uns in den Arm.

Livio Felluga, der Winzer, für den Leda kochte, starb vergangenes Jahr am Weihnachtstag im Alter von 102 Jahren. Leda della Rovere wünsche ich ein mindestens ebenso langes Leben. Und wenn ich Glück habe: Dann darf ich eines Tages noch einmal neben ihr stehen, in ihrer Küche. Und darf ihr zusehen, wie sie kocht. Vielleicht erzählt ihr einer der friulanischen Freunde von diesem Post. Denn eines hat Leda in ihrem Leben ganz sicher noch nie ausprobiert. Internet.

Hunger bekommen?
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Eine Vollmondnacht im Hafen. Oder: Warum kann’s eigentlich nicht immer so sein?

Weil mein Schiff am Kiel undicht ist, bin ich anders als geplant nicht losgesegelt. 
Und werde ich auch die nächsten vier Wochen nicht segeln. 
Stattdessen werde ich Geschichten erzählen, die zu erzählen ich 
den Winter über keine Zeit fand. Geschichten aus den Häfen. 
In und um San Giorgio di Nogaro im Friaul.

Es ist Mai in der Marina San Gorgio di Nogaro am Fluss Corno. Waren die letzten Nächte zuhause noch regenreich und kühl, so ist es hinter den Alpen warm geworden. Selbst jetzt, weit nach Mitternacht, bin ich ohne Jacke unterwegs durch den Hafen, der im Licht des Vollmonds liegt. Auf der Jagd nach guten Fotos. Auf der Jagd nach guten Gedanken.

Das eine ist dabei so schwer wie das andere. Und doch: Seit ich seit ein paar Stunden am Meer bin, am Wasser, ist alles federleicht und alle Schwere abgefallen. So, als wäre im Wasser in minimaler Dosierung ein Botenstoff enthalten, irgendein Pheromon, das aus dem Wasser aufsteigt, das ich in feinster Dosierung hier am Meer inhaliere. Und das mein Leben leicht macht, sobald ich auch nur ein Millionstel davon einatme. Wenn ich nur wüsste, was es ist? 


Vielleicht Vielleicht ist es der Anblick des für einen Moment still daliegenden Flusses, der nur für einen Wimpernschlag verharrt in dieser Nacht zwischen Ebbe und Flut? Vielleicht ist es der Gesang einer Nachtigal, der vom anderen Ufer des Corno zum Hafen herüberdringt? Die sich wiederholenden Refrains, die kehligen Lieder des kleinen Vogels, der so klein und unscheinbar auf Fotografien wirkt, dass ich mich jedes Mal wundere, woher er die Stimmkraft nimmt und singt, eine ganze Nacht lang, von Sonnenuntergang bis Sonnenaufgang. Ein Lied nach dem anderen.

Vom Westen die Wolken, in lockeren Haufen. Mal lassen sie den Mond hell über dem Hafen scheinen. Und dann ist alles auch gleich wieder abgedunkelt. Und der Mond ist hinter einer dichten Decke verschwunden. Ich schlendere durch den Hafen, bin müde, und kann mich trotzdem nicht entschließen, auf Levje endlich ins Bett zu kriechen. Die Nacht im Hafen unter dem Vollmond ist zu schön. Zu außergewöhnlich. Warum kann es eigentlich nicht immer so sein?

Ja: Warum eigentlich nicht? Es ist Mitternacht – und keine andere Tageszeit ist besser dafür geschaffen, um ehrlich zu sein. Ehrlich zu sein seinem besten Freund. Ehrlich zu sein zu seinem Partner. Und: Ehrlich zu sein zu sich selber. Versuchen wir es also, wo der Vollmond gerade leuchtet. Vielleicht ist zweierlei dafür verantwortlich. Zum einen: Äußere Zwänge. Dinge, die von außen an uns herangetragen werden. Ein „Funktionieren müssen“ im Beruf, ein „Funktionieren müssen“ im Eingespanntsein in unsere Doppelt-, Drei- und Vierfachfunktionen, irgendwo auf der Landkarte zwischen „Wollen“ und „Müssen“. Da gerät manches unter die Räder.


Aber noch wichtiger ist das zweite: Dass wir einfach oft verkennen, wer der einzige Mensch ist, der uns helfen kann. Nämlich wir selber. Wie oft deuten wir reflexartig auf irgendjemand, um ihm die Verantwortung zuzuschieben für unser Unglücklichsein? Ein Boss. Ein Kollege. Unser Partner. Ein fieses Gesicht aus der weltweiten Politik, das gerade Schlagzeilen macht. Dabei sind jedes Mal wir der einzige Mensch, der tatsächlich etwas ändern könnte.

Ob die Welt ein besserer Ort wäre, wenn wir versuchen würden, uns zu ändern, statt sinnlos auf unserer Umgebung herumzuhacken? 

Ich weiß es nicht. Aber dass diese Nacht mit dem Vollmondnacht über dem Hafen von San Giorgio einmalig ist; dass ich sie missen würde, wenn ich nicht hierher aufgebrochen wäre, mich auf den Weg gemacht hätte: Das weiß ich ganz sicher.

Wenn Ihnen dieser Post gefiel: Liken Sie ihn – mit einem Klick hier drunter ins Kästchen bei „Tolle Geschichte“.

Eine Vollmondnacht im Hafen. Oder: Warum kann’s eigentlich nicht immer so sein?

Weil mein Schiff am Kiel undicht ist, bin ich anders als geplant nicht losgesegelt. 
Und werde ich auch die nächsten vier Wochen nicht segeln. 
Stattdessen werde ich Geschichten erzählen, die zu erzählen ich 
den Winter über keine Zeit fand. Geschichten aus den Häfen. 
In und um San Giorgio di Nogaro im Friaul.

Es ist Mai in der Marina San Gorgio di Nogaro am Fluss Corno. Waren die letzten Nächte zuhause in Deutschland regenreich und kühl, so ist es hinter den Alpen warm geworden. Selbst jetzt, weit nach Mitternacht, bin ich ohne Jacke unterwegs durch den Hafen von San Giorgio, der im Licht des Vollmonds liegt. Auf der Jagd nach guten Fotos. Auf der Jagd nach guten Gedanken.

Das eine ist dabei so schwer wie das andere. Und doch: Seit ich nun ein paar wenige Stunden am Meer bin, am Wasser, ist alles federleicht. Und alle Schwere abgefallen. So, als wäre im Wasser in minimaler Dosierung ein Botenstoff enthalten, irgendein Pheromon, das aus dem Wasser aufsteigt, das ich in feinster Dosierung hier am Meer inhaliere. Und das mein Leben leicht macht, sobald ich auch nur ein Millionstel davon einatme. Wenn ich nur wüsste, was es wirklich ist, das hier am Meer alles leicht macht? 


Ist es der Anblick des für einen Moment still daliegenden Gezeitenflusses, der nur für einen Wimpernschlag reglos verharrt in dieser Nacht, genau zwischen Ebbe und Flut? Ist es der Gesang einer Nachtigall, der vom anderen Ufer des Corno zum Hafen herüberdringt? Die sich wiederholenden Refrains, die kehligen Lieder eines winzigen Vogels, der so klein und unscheinbar auf Fotografien wirkt, dass ich mich jedes Mal wundere, woher er die Stimmkraft nimmt und singt, eine ganze Nacht lang, von Sonnenuntergang bis Sonnenaufgang. Ein Lied nach dem anderen.

Vom Westen die Wolken, in lockeren Haufen. Mal lassen sie den Mond hell über dem Hafen scheinen. Und dann ist alles auch gleich wieder abgedunkelt. Und der Mond ist hinter einer dichten Decke verschwunden. Ich schlendere durch den Hafen, bin müde, und kann mich trotzdem nicht entschließen, auf Levje endlich ins Bett zu kriechen. Die Nacht im Hafen unter dem Vollmond ist zu schön. Zu außergewöhnlich. 

Warum kann es eigentlich nicht immer so sein?

Ja: Warum eigentlich nicht? Es ist Mitternacht – und keine andere Tageszeit ist besser dafür geschaffen, um darüber nachzudenken. Und ehrlich zu sein. Ehrlich zu sein wie zu seinem besten Freund. Ehrlich zu sein wie zu seinem Partner. Und: Ehrlich zu sein zu sich selber. Versuchen wir es also, wo der Vollmond jetzt gerade zwischen zwei schnell ziehenden Wolkenbänken leuchtet. 

Vielleicht ist zweierlei dafür verantwortlich. Zum einen: Äußere Zwänge. Dinge, die von außen an uns herangetragen werden. Ein „Funktionieren müssen“ im Beruf, ein „Funktionieren müssen“ im Eingespanntsein in unsere Doppelt-, Drei- und Vierfachbelastungen und -funktionen im Leben, irgendwo auf der Landkarte zwischen „Wollen“ und „Müssen“. Wir sind eingespannt im Beruf. Im Haushalt, den wir zu führen haben. Wir sind Konsumenten, die ständig wie die Ameisen neue Dinge in ihren Bau tragen. Wir sind auch „Steuerbürger“, so nannte mich ein Finanzbeamter einmal, in der dauernden Verwaltung unseres selbst. Und der über 10.000 Dinge, die ein Deutscher im Durchschnitt heute besitzt. Wo es doch vor 500 Jahren keine 10 Dinge waren, die ein durchschnittlicher Deutscher sein eigen nannte. Da gerät manches unter die Räder.


Aber noch wichtiger ist das zweite: Dass wir einfach oft verkennen, wer der einzige Mensch ist, der uns helfen in all diesen Belastungen Erleichterung bringen könnte. Der einzig, der wirklich „was ändern könnte“. Nämlich wir selber. Wie oft deuten wir reflexartig auf irgendjemand, um ihm die Verantwortung zuzuschieben für unser Unglücklichsein? Ein Boss. Ein Kollege. Unser Partner. Ein fieses Gesicht aus der weltweiten Politik, das gerade Schlagzeilen macht. Es gibt täglich viele Angebot, wem wir die Schuld zuschieben könnten. Dabei sind jedes Mal wir der einzige Mensch, der tatsächlich etwas ändern könnte.

Ob die Welt ein besserer Ort wäre, wenn wir versuchen würden, UNS zu ändern, statt sinnlos auf unserer Umgebung herumzuhacken? 

Ich weiß es nicht. Aber dass diese Nacht mit dem Vollmondnacht über dem Hafen von San Giorgio einmalig ist; dass ich sie missen würde, wenn ich nicht hierher aufgebrochen wäre, mich auf den Weg gemacht hätte: Das weiß ich ganz sicher.

So wandere ich dahin, zwischen den still daliegenden Booten. Ich höre immer noch die Nachtigall, als ich zurück bin, auf Levje. Ich höre sie solange, bis ich endlich eingeschlafen bin.

Wenn Ihnen dieser Post gefiel: 
Liken Sie ihn – mit einem Klick hier drunter ins Kästchen bei „Tolle Geschichte“. Ich freue mich!

Übrigens: Danke für Ihre vielen Likes zu meinem Post über 
„Maurizio und das blaue Ungetüm“. Circa 3.000 Leser haben ihn in drei Tagen gelesen. 
Eben traf ich Maurizio, er strahlte übers ganze Gesicht, als er sagte: 
„Tutti lo sanno!“ „Alle habens gelesen – alle wissen es“. Na denn…

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Lust auf noch mehr Mitternachtsgedanken –
und wie es ist in der Nacht allein auf dem Meer?
In meinem Kinofilm:


                         Als Download und auf DVD: € 19,99

Was passiert, wenn das Leben die gewohnten Bahnen verlässt? 
Was geschieht, wenn man sich einfach aufmacht und fünf Monate Segeln geht? 
Darf man das? Und wie ändert sich das Leben?
Der Film einer ungewöhnlichen Reise, der Mut macht, seinen Traum zu leben.

Mehr erfahren. Filmtrailer ansehen. Hier.

Menschen am Meer: Maurizio und Michele, Kranführer.

Weil mein Schiff am Kiel undicht ist, bin ich anders als geplant nicht losgesegelt. 
Und werde ich auch die nächsten vier Wochen nicht segeln. 
Stattdessen werde ich Geschichten erzählen, die zu erzählen ich 
den Winter über keine Zeit fand. Geschichten aus den Häfen. 
In und um San Giorgio di Nogaro im Friaul.



Als ich klein war, waren meine Helden so ganz andere als heute. Vieles war groß, was mir heute klein erscheint. Die Straße, in der ich wackelnd Fahrradfahren lernte, war schier unendlich. 35 Jahre später stellte ich fest, dass sie nicht mal 35 Meter lang war. Ebenso riesig erschien mir der Bagger an der Baustelle, der heute nur jämmerlich klein ist und blau. Was habe ich ihn bewundert, den Mann im Führerhaus des Baggers. 

Zwischen damals und heute gleich geblieben ist, dass Staunen Voraussetzung für ein gutes Leben ist. Staunen lernte ich vorgestern wieder einmal bei Maurizio, dem Kranführer in der Marina San Giorgio.

Unsere erste Begegnung verlief, wie so oft bei meinen Begegnungen die interessant werden, knurrig. Im Herbst hievte Maurizio LEVJE aus dem Wasser. 9,40 Meter Länge. Keine vier Tonnen Gewicht. Kein großer Act, könnte man meinen. Aber tatsächlich muss man auch da aufpassen, wo man die Krangurte ansetzt. Sitzen sie falsch unter dem Schiff, zerdrücken sie den Kühlwasser-Einlauf, verbiegen die Motorwelle, zerquetschen das kleine Wasserrädchen der Logge. Also bat ich Maurizio, aufzupassen. Wegen der Gurte. Und dem Rädchen. Und entschuldigte mich bei Maurizio mit der Bemerkung, das daumennagelgroße Rädchen koste knapp 40 Euro, wenn es kaputtgeht. „Das ist etwa das, was ich am Tag verdiene,“ hörte ich Maurizio knurren, als der davon stapfte. Es gab mir zu denken.

Als LEVJE II nun aus dem Wasser kam – zum dritten Mal in diesem Winter – verkniff ich mir derlei. Maurizio und Michele brachten mein Schiff – siebeneinhalb Tonnen – ohne Schaden aus dem Wasser. Und wandten sich dann größeren Aufgaben zu. In der Halle wartete ein echter Brocken auf Maurizio. Eine Motoryacht von knapp 70 Tonnen. Knapp 30 Meter lang. Der Himmel weiß, wie sie sie vergangenen Herbst in die Halle hineingefummelt hatten. Die metergroßen Schiffschrauben des Monsters schwebten keine Handbreit über dem Hallenboden. Dafür passte sie auch nur Zentimeter unter die Betonträger des Hallendachs. Und auch das bloß, weil die Elektroniker den Mast mit Radar und Kommunikationsdomen abmontiert hatten.

Nun also dieser 70-Tonnen-Brocken. Dafür hat Maurizio sein kleineres Spielzeug aus der Garage geholt. Den 80 Tonnen-Kran. Er passt so eben unter das Hallendach. Und Zentimeter neben das blaue Wunderwerk im Winterschlaf.

Hustend steckt sich Maurizio eine Zigarette an. Und schaut die Bordwand hoch, ob die tonnenschweren Hebearme auch nicht an der Bordwand schrappen. Als ich ihn frage, warum er rauche, knurrt er bloß: „Zu nervös heute“. Der spirelige Werftchef Giuseppe, den alle in der Werft nur Peppo nennen, trägt auch nicht gerade zu Maurizios Ruhe bei. „Dai“, ruft er Maurizio im Vorbeigehen zu, „Mach endlich. In einer Stunde muss die im Wasser sein.“ Maurizio reißt sich aus seiner Betrachtung los. Michele schleppt noch zwei lange gepolsterte Holzbalken herbei, die sie unter die Gurte spannen. 

Maurizio hält den einen in seiner Position, ich sehe seine Tätowierung. Sehe seine Hände. Es sind die Hände eines Handwerkers. Hände, die einer Frau Sicherheit geben. Und Vertrauen. Worüber er wohl mit seiner Frau Abends redet? „Heute war einer da, der hat mir erzählte, ich solle aufpassen, damit ich sein rotes Rädchen unterm Boot nicht zerquetsche?“ 

Dann beginnt für die blaue Schönheit die Reise in diesen Sommer. Ob ich könnte, was Maurizio da jeden Tag macht? 350 Boote werden er und Michele in diesem Frühjahr aus dem Wasser heben. Dann zwei Monate Pause. Im Herbst werden sie dieselben 350 Boote wieder aus dem Wasser heben. Und Zentimetergenau in die lange Winterhalle rangieren. Und nicht nur hier in der Marina San Giorgio di Nogaro. Sondern überall an dieser Küste, an der es zwischen Venedig im Westen und Triest im Osten geschätzt um die 10.000 Liegeplätze gibt. 

Wieviele Menschen es noch vor 100 Jahren brauchte, um ein 70-Tonnen-Schiff ins Wasser zu bringen? Heute? Ein Klacks. Wenn auch ein nervenaufreibender, für die beiden, die noch benötigt werden, das tun. Es ist Zentimeterarbeit, die Motoryacht langsam ihre blaue Nase aus der Halle stecken zu lassen. Maurizio lässt das blaue Teil nicht eine Sekunde aus den Augen, während es langsam auf vier knirrschenden Reifen dahinrollt. Michele steht am obersten Deck des Schiffes. Und passt auf, dass oben und hinten nichts hängenbleibt, wenn 30 Meter Motoryacht aus dem Hallentor rollen. Alles läuft nur über die Fernsteuerung, den kleinen gelben Kasten, den Maurizio vor seinem Bauch trägt. Die Hände, die vorher noch die Planke an die Bordwand drückten, schieben jetzt kleine Hebelchen. Und bewegen damit 70 Tonnen lackiertes Glasharz und Stahl.

Dann ist das Teil draußen aus der Halle. Und wird erst mal abgestellt. Wie die parkenden Autos drumherum. Zwei Elektroniker klettern nach oben, um den umgelegten Mast mit Radar und Kommunikation wieder aufzustellen und zum Laufen zu bringen. Michele kriecht derweil unter das Teil, um fünf Stahlböcke genau unter dem Kiel wieder in die richtige Position zu bringen. Zu gerne würde ich Michele und Maurizio fragen, was in ihnen vorgeht, wenn sie unter 70 Tonnen herumkriechen, die lose in acht Stoffgurten baumeln. Was jetzt passiert, wenn sie eine der Eisenstützen in die falsche Position bringen. An einer Yacht ist Reparatur immer gleich teuer. An einem Schmuckstück wie diesem? Unbezahlbar.

„Ich mach’ das seit 1977″, erzählt Maurizio. „Damals fing ich in Bibione an, in der Werft. Ich hatte Techniker auf der Technikerschule gelernt. Und dann bin ich gleich in die Werft. Da bin ich dann geblieben. Am Kran.“

„Was seine Frau ihm heute Abend kocht?“ frage ich Maurizio. „Spezzatino con Patate al Forno“, grinst Maurizio und klatscht in die Hände, „Geschnetzteltes mit Ofenkartoffeln“. Und was bekommt sein Helfer Michele? Der zuckt nur mit den Schultern. Er weiß es nicht. Wieder grinst Maurizio: „Sorpresa della moglie“ – ‚Überraschung. Von der Ehefrau.‘ Wenn das kein Essen für Helden ist.

Vielleicht ist das die zweite Wahrheit: Wir sind nichts ohne einen Widerstand im Leben. Einen Widerstand, der uns etwas entgegensetzt, an dem wir uns spüren. Wir brauchen ihn, wie die Luft zum Atmen. Maurizio die 70 Tonnen. Ein Schreiner den Widerstand des Holzes. Ein Schmid den Widerstand des Eisens. Meine Lektorin den Widerstand der Worte. Ein Weltumsegler den Widerstand des Meeres. Ein US-Präsident den Widerstand der Welt.

Hoffen wir, dass die Sache mit dem Widerstand immer gut ausgeht. Bei Maurizio. Und auch beim US-Präsidenten.

Maurizio und Michele können Sie treffen. Ihnen bei ihrer täglichen Arbeit zusehen. Und darüber ins Staunen kommen. In der Marina San Giorgio di Nogaro südlich des gleichnamigen unscheinbaren Städtchens. Oder bei jedem anderen Kranführer im Hafen Ihres Vertrauens.

For this Article special thanks to:
Maurizio. Michele. CANTIERE MARINA SAN GIORGIO.
Peppo. Davide. E tutti gli altri.

Menschen am Meer: Maurizio und das blaue Ungetüm.

Weil mein Schiff am Kiel undicht ist, bin ich anders als geplant nicht losgesegelt. 
Und werde ich auch die nächsten vier Wochen nicht segeln. 
Stattdessen werde ich Geschichten erzählen, die zu erzählen ich 
den Winter über keine Zeit fand. Geschichten aus den Häfen. 
In und um San Giorgio di Nogaro im Friaul.



Als ich klein war, waren meine Helden so ganz andere als heute. Vieles war groß, was mir heute klein erscheint. Die Straße, in der ich wackelnd Fahrradfahren lernte, war schier unendlich. 35 Jahre später stellte ich fest, dass sie nicht mal 35 Meter lang war. Ebenso riesig erschien mir der Bagger an der Baustelle, der heute nur jämmerlich klein ist und blau. Was habe ich ihn bewundert, den Mann im Führerhaus des Baggers. 

Zwischen damals und heute gleich geblieben ist, dass Staunen Voraussetzung für ein gutes Leben ist. Staunen lernte ich vorgestern wieder einmal bei Maurizio, dem Kranführer in der Marina San Giorgio.

Unsere erste Begegnung verlief, wie so oft bei meinen Begegnungen die interessant werden, knurrig. Im Herbst hievte Maurizio LEVJE aus dem Wasser. 9,40 Meter Länge. Keine vier Tonnen Gewicht. Kein großer Act, könnte man meinen. Aber tatsächlich muss man auch da aufpassen, wo man die Krangurte ansetzt. Sitzen sie falsch unter dem Schiff, zerdrücken sie den Kühlwasser-Einlauf, verbiegen die Motorwelle, zerquetschen das kleine Wasserrädchen der Logge. Also bat ich Maurizio, aufzupassen. Wegen der Gurte. Und dem Rädchen. Und entschuldigte mich bei Maurizio mit der Bemerkung, das daumennagelgroße Rädchen koste knapp 40 Euro, wenn es kaputtgeht. „Das ist etwa das, was ich am Tag verdiene,“ hörte ich Maurizio knurren, als der davon stapfte. Es gab mir zu denken.

Als LEVJE II nun aus dem Wasser kam – zum dritten Mal in diesem Winter – verkniff ich mir derlei. Maurizio und Michele brachten mein Schiff – siebeneinhalb Tonnen – ohne Schaden aus dem Wasser. Und wandten sich dann größeren Aufgaben zu. In der Halle wartete ein echter Brocken auf Maurizio. Eine Motoryacht von knapp 70 Tonnen. Knapp 30 Meter lang. Der Himmel weiß, wie sie sie vergangenen Herbst in die Halle hineingefummelt hatten. Die metergroßen Schiffschrauben des Monsters schwebten keine Handbreit über dem Hallenboden. Dafür passte sie auch nur Zentimeter unter die Betonträger des Hallendachs. Und auch das bloß, weil die Elektroniker den Mast mit Radar und Kommunikationsdomen abmontiert hatten.

Nun also dieser 70-Tonnen-Brocken. Dafür hat Maurizio sein kleineres Spielzeug aus der Garage geholt. Den 80 Tonnen-Kran. Er passt so eben unter das Hallendach. Und Zentimeter neben das blaue Wunderwerk im Winterschlaf.

Hustend steckt sich Maurizio eine Zigarette an. Und schaut die Bordwand hoch, ob die tonnenschweren Hebearme auch nicht an der Bordwand schrappen. Als ich ihn frage, warum er rauche, knurrt er bloß: „Zu nervös heute“. Der spirelige Werftchef Giuseppe, den alle in der Werft nur Peppo nennen, trägt auch nicht gerade zu Maurizios Ruhe bei. „Dai“, ruft er Maurizio im Vorbeigehen zu, „Mach endlich. In einer Stunde muss die im Wasser sein.“ Maurizio reißt sich aus seiner Betrachtung los. Michele schleppt noch zwei lange gepolsterte Holzbalken herbei, die sie unter die Gurte spannen. 

Maurizio hält den einen in seiner Position, ich sehe seine Tätowierung. Sehe seine Hände. Es sind die Hände eines Handwerkers. Hände, die einer Frau Sicherheit geben. Und Vertrauen. Worüber er wohl mit seiner Frau Abends redet? „Heute war einer da, der hat mir erzählte, ich solle aufpassen, damit ich sein rotes Rädchen unterm Boot nicht zerquetsche?“ 

Dann beginnt für die blaue Schönheit die Reise in diesen Sommer. Ob ich könnte, was Maurizio da jeden Tag macht? 350 Boote werden er und Michele in diesem Frühjahr aus dem Wasser heben. Dann zwei Monate Pause. Im Herbst werden sie dieselben 350 Boote wieder aus dem Wasser heben. Und Zentimetergenau in die lange Winterhalle rangieren. Und nicht nur hier in der Marina San Giorgio di Nogaro. Sondern überall an dieser Küste, an der es zwischen Venedig im Westen und Triest im Osten geschätzt um die 10.000 Liegeplätze gibt. 

Wieviele Menschen es noch vor 100 Jahren brauchte, um ein 70-Tonnen-Schiff ins Wasser zu bringen? Heute? Ein Klacks. Wenn auch ein nervenaufreibender, für die beiden, die noch benötigt werden, das tun. Es ist Zentimeterarbeit, die Motoryacht langsam ihre blaue Nase aus der Halle stecken zu lassen. Maurizio lässt das blaue Teil nicht eine Sekunde aus den Augen, während es langsam auf vier knirrschenden Reifen dahinrollt. Michele steht am obersten Deck des Schiffes. Und passt auf, dass oben und hinten nichts hängenbleibt, wenn 30 Meter Motoryacht aus dem Hallentor rollen. Alles läuft nur über die Fernsteuerung, den kleinen gelben Kasten, den Maurizio vor seinem Bauch trägt. Die Hände, die vorher noch die Planke an die Bordwand drückten, schieben jetzt kleine Hebelchen. Und bewegen damit 70 Tonnen lackiertes Glasharz und Stahl.

Dann ist das Teil draußen aus der Halle. Und wird erst mal abgestellt. Wie die parkenden Autos drumherum. Zwei Elektroniker klettern nach oben, um den umgelegten Mast mit Radar und Kommunikation wieder aufzustellen und zum Laufen zu bringen. Michele kriecht derweil unter das Teil, um fünf Stahlböcke genau unter dem Kiel wieder in die richtige Position zu bringen. Zu gerne würde ich Michele und Maurizio fragen, was in ihnen vorgeht, wenn sie unter 70 Tonnen herumkriechen, die lose in acht Stoffgurten baumeln. Was jetzt passiert, wenn sie eine der Eisenstützen in die falsche Position bringen. An einer Yacht ist Reparatur immer gleich teuer. An einem Schmuckstück wie diesem? Unbezahlbar.

„Ich mach’ das seit 1977″, erzählt Maurizio. „Damals fing ich in Bibione an, in der Werft. Ich hatte Techniker auf der Technikerschule gelernt. Und dann bin ich gleich in die Werft. Da bin ich dann geblieben. Am Kran.“

„Was seine Frau ihm heute Abend kocht?“ frage ich Maurizio. „Spezzatino con Patate al Forno“, grinst Maurizio und klatscht in die Hände, „Geschnetzteltes mit Ofenkartoffeln“. Und was bekommt sein Helfer Michele? Der zuckt nur mit den Schultern. Er weiß es nicht. Wieder grinst Maurizio: „Sorpresa della moglie“ – ‚Überraschung. Von der Ehefrau.‘ Wenn das kein Essen für Helden ist.

Vielleicht ist das die zweite Wahrheit: Wir sind nichts ohne einen Widerstand im Leben. Einen Widerstand, der uns etwas entgegensetzt, an dem wir uns spüren. Wir brauchen ihn, wie die Luft zum Atmen. Maurizio die 70 Tonnen. Ein Schreiner den Widerstand des Holzes. Ein Schmid den Widerstand des Eisens. Meine Lektorin den Widerstand der Worte. Ein Weltumsegler den Widerstand des Meeres. Ein US-Präsident den Widerstand der Welt.

Hoffen wir, dass die Sache mit dem Widerstand immer gut ausgeht. Bei Maurizio. Und auch beim US-Präsidenten.

Maurizio und Michele können Sie treffen. Ihnen bei ihrer täglichen Arbeit zusehen. Und darüber ins Staunen kommen. In der Marina San Giorgio di Nogaro südlich des gleichnamigen unscheinbaren Städtchens. Oder bei jedem anderen Kranführer im Hafen Ihres Vertrauens.

For this Article special thanks to:
Maurizio. Michele. CANTIERE MARINA SAN GIORGIO.
Peppo. Davide. E tutti gli altri.

Ostern unter Segeln: Von Italien nach Slowenien. Von San Giorgio di Nogaro nach Portoroz.


Wo war ich gleich noch stehen geblieben? 

Ach ja. Im vorigen Post noch tief im Winter, als es mit 150 PS durch neblig kalte Lagunen ging. Doch jetzt, fünf Wochen später und in der Woche nach Ostern, ist alles anders in den Lagunen. Das Gras ist grün. Der Löwenzahn trägt schicke silberne Kugelhelme. Frachter ziehen durch üppige Wiesen.

Wieso Frachter?? 

Wir sind am Fluss Corno, zwischen Grado und Lignano, in der Nähe des Städtchens San Giorgio di Nogaro, wo die Lagunen von Grado und Marano enden. Und der Fluss, den ich in meinen Winterposts beschrieb, sich jetzt im Frühjahr milde durch Auwiesen, Weidengestrüpp und Schilfhalme hindurch an Stahlwerken, Glasfabriken, Flusshäfen vorbei schlängelt. Und an den Marinas von San Giorgio und Sant’Andrea vorbei, wo Levje den Winter über lag. Und als würden die Menschen es dem Löwenzahn gleichtun, zeigen sie allerhand Kunststücke.


Klettern Masten hinauf, weil Windmesser und Vorstag nicht wollen, wie „Mann“ will. Malträtieren jämmerlich Teakdecks mit Dampfstrahlern und Schrubbern. Oder stecken, wie ich auf Levje, Köpfe und Nase auf ihren Schiffen in Ecken, wo Köpfe und Nasen nun mal nicht hineingehören. Frei nach dem Motto: „Ich wollt‘ immer schon mal wissen, was unter dem Brett ist“. 
Es ist Frühjahr im Hafen. Der Mensch: Erwacht.


Aber immer bloß reparieren geht auch nicht. Und wer jetzt meint, in diesem Sommer endlich, endlich sein Boot in perfektem Zustand zu bringen, der kommt niemals aus dem Hafen raus. Wer zur Unzeit perfekt sein will, kommt nicht zum Segeln.

Also lasse ich irgendwann Brett wieder Brett sein, und Solaranlagen-Kabel Solaranlagen-Kabel und tuckere mit Levje einfach durch die Lagunen den Fluss hinunter. Was scherts, dass das eine oder andere noch nicht fertig oder nicht angeschlossen ist. Das Wetter ist schön. Die Segel neu. Das Unterwasserschiff glatt und schnell, wie selten. Leichter Wind aus Süd, eiskalt – aber was machts.

Den Corno hinunter geht die Fahrt, wo ich vor einer Woche noch neidisch mit dem Schraubenzieher in der Hand den Frachtern zwischen den Wiesen nachschaute. Die Wasserwüste der Lagunen glänzt, als hätte es fünf Monate Nebel und klamm und kalt nie gegeben, als wäre das Leben in den Lagunen ein immerwährender Sommer. Und weil sich der Wind am Nachmittag gar so nett entfaltet, lassen wir Grado einfach links liegen und die Mündung des Isonzo auch. Und segeln hinüber über den Golf von Triest nach Osten in vier Stunden. In ein ganz anderes Land, nach Slowenien, einfach für einen Samstag. In die Bucht von Portoroz.  

Aber auch in Portoroz, wo wir vor dem Hafen die Nacht ankern, ist alles scheinbar wie es immer war. Süddeutsche und österreichische Segelschüler drehen Kreise auf dem Wasser, fahren Q-Wenden und „Mann-über-Bord“-Manöver, als wäre nichts gewesen. Der Hügel neben der Marina ragt mit seinen Lebensbäumen in der Abenddämmerung wie eine Insel aus dem Meer. Das Spielcasino im ach so gern sich mondän gebenden Portoroz entzündet in der Abenddämmerung die Leuchtreklame mit dem flirrenden Roulette-Rad auf seinem Dach. Für einen kurzen Moment überlege ich, ob im Casino vielleicht noch der Glanz von „James-Bond“ und „Smoking“ wie in den Siebzigern zuhause sein könnten. Oder ob auch das leuchtende Casino im slowenischen Seebad Portoroz den Weg allen Irdischen ging und vom Glanz erhaben sich drehender Roulette-Räder nichts übrig blieb als eine Ansammlung dudelnder, klingelnder, wimmernder elektronischer Spielautomaten.

Ich nehme mir vor, beim nächsten Mal nachsehen zu gehen, bloß aus Neugier. Wie es so zugeht, im Casino von Portoroz unter dem glitzernden Roulette-Rad, das mir herüberleuchtete manche Gewitternacht, die ich auf LEVJE ankernd in der Bucht verbrachte.

Aber heute gehört der Abend dem Sonnenuntergang. Auf den hat man aus der Bucht von Portoroz einen ganz wunderbaren Blick, als hätte man einen Logenplatz wie die beiden keifenden Alten am Ende der Muppet-Show. Sonnenuntergänge über dem Meer sind ja nun wirklich Kitsch. Ganz sicher wird es, Frankreich hin, Trump her, auch in diesem Sommer wieder jede Menge davon geben. Aber der in der Bucht von Portoroz ist nun wirklich etwas Besonderes, es gibt ihn nur einmal auf der Welt. Nur an diesem Ankerplatz vor der Marina von Portoroz, den Sonnenuntergang zwischen den beiden Landzungen, die auch das geografische Ende zweier Länder markieren: An der Landzunge rechts endet das Euro-Land Slowenien. An der Landzunge links endet das Nicht-Euro-Land Kroatien.

Schöner und näher an der Wahrheit kann man doch in diesem Frühjahr nicht ankern.
Oder?

Lieber Couch-Segeln im Warmen
statt echtes Segeln im Kalten?

„Eine Empfehlung für alle Freunde von Italien, Segeln, Reisen, dem Meer…“
Ein AMAZON-Rezensent/in

„Ich lese das Buch und werde versetzt in eine Welt, 
wo das Leben eben nicht nur aus Hektik und Nachrichten besteht.“

Ein AMAZON-Rezensent/in

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Ostern unter Segeln: Von Italien nach Slowenien. Von San Giorgio di Nogaro nach Portoroz.


Wo war ich gleich noch stehen geblieben? 

Ach ja. Im vorigen Post noch tief im Winter, als es mit 150 PS durch neblig kalte Lagunen ging. Doch jetzt, fünf Wochen später und in der Woche nach Ostern, ist alles anders in den Lagunen. Das Gras ist grün. Der Löwenzahn trägt schicke silberne Kugelhelme. Frachter ziehen durch üppige Wiesen.

Wieso Frachter?? 

Wir sind am Fluss Corno, zwischen Grado und Lignano, in der Nähe des Städtchens San Giorgio di Nogaro, wo die Lagunen von Grado und Marano enden. Und der Fluss, den ich in meinen Winterposts beschrieb, sich jetzt im Frühjahr milde durch Auwiesen, Weidengestrüpp und Schilfhalme hindurch an Stahlwerken, Glasfabriken, Flusshäfen vorbei schlängelt. Und an den Marinas von San Giorgio und Sant’Andrea vorbei, wo Levje den Winter über lag. Und als würden die Menschen es dem Löwenzahn gleichtun, zeigen sie allerhand Kunststücke.


Klettern Masten hinauf, weil Windmesser und Vorstag nicht wollen, wie „Mann“ will. Malträtieren jämmerlich Teakdecks mit Dampfstrahlern und Schrubbern. Oder stecken, wie ich auf Levje, Köpfe und Nase auf ihren Schiffen in Ecken, wo Köpfe und Nasen nun mal nicht hineingehören. Frei nach dem Motto: „Ich wollt‘ immer schon mal wissen, was unter dem Brett ist“. 
Es ist Frühjahr im Hafen. Der Mensch: Erwacht.


Aber immer bloß reparieren geht auch nicht. Und wer jetzt meint, in diesem Sommer endlich, endlich sein Boot in perfektem Zustand zu bringen, der kommt niemals aus dem Hafen raus. Wer zur Unzeit perfekt sein will, kommt nicht zum Segeln.

Also lasse ich irgendwann Brett wieder Brett sein, und Solaranlagen-Kabel Solaranlagen-Kabel und tuckere mit Levje einfach durch die Lagunen den Fluss hinunter. Was scherts, dass das eine oder andere noch nicht fertig oder nicht angeschlossen ist. Das Wetter ist schön. Die Segel neu. Das Unterwasserschiff glatt und schnell, wie selten. Leichter Wind aus Süd, eiskalt – aber was machts.

Den Corno hinunter geht die Fahrt, wo ich vor einer Woche noch neidisch mit dem Schraubenzieher in der Hand den Frachtern zwischen den Wiesen nachschaute. Die Wasserwüste der Lagunen glänzt, als hätte es fünf Monate Nebel und klamm und kalt nie gegeben, als wäre das Leben in den Lagunen ein immerwährender Sommer. Und weil sich der Wind am Nachmittag gar so nett entfaltet, lassen wir Grado einfach links liegen und die Mündung des Isonzo auch. Und segeln hinüber über den Golf von Triest nach Osten in vier Stunden. In ein ganz anderes Land, nach Slowenien, einfach für einen Samstag. In die Bucht von Portoroz.  

Aber auch in Portoroz, wo wir vor dem Hafen die Nacht ankern, ist alles scheinbar wie es immer war. Süddeutsche und österreichische Segelschüler drehen Kreise auf dem Wasser, fahren Q-Wenden und „Mann-über-Bord“-Manöver, als wäre nichts gewesen. Der Hügel neben der Marina ragt mit seinen Lebensbäumen in der Abenddämmerung wie eine Insel aus dem Meer. Das Spielcasino im ach so gern sich mondän gebenden Portoroz entzündet in der Abenddämmerung die Leuchtreklame mit dem flirrenden Roulette-Rad auf seinem Dach. Für einen kurzen Moment überlege ich, ob im Casino vielleicht noch der Glanz von „James-Bond“ und „Smoking“ wie in den Siebzigern zuhause sein könnten. Oder ob auch das leuchtende Casino im slowenischen Seebad Portoroz den Weg allen Irdischen ging und vom Glanz erhaben sich drehender Roulette-Räder nichts übrig blieb als eine Ansammlung dudelnder, klingelnder, wimmernder elektronischer Spielautomaten.

Ich nehme mir vor, beim nächsten Mal nachsehen zu gehen, bloß aus Neugier. Wie es so zugeht, im Casino von Portoroz unter dem glitzernden Roulette-Rad, das mir herüberleuchtete manche Gewitternacht, die ich auf LEVJE ankernd in der Bucht verbrachte.

Aber heute gehört der Abend dem Sonnenuntergang. Auf den hat man aus der Bucht von Portoroz einen ganz wunderbaren Blick, als hätte man einen Logenplatz wie die beiden keifenden Alten am Ende der Muppet-Show. Sonnenuntergänge über dem Meer sind ja nun wirklich Kitsch. Ganz sicher wird es, Frankreich hin, Trump her, auch in diesem Sommer wieder jede Menge davon geben. Aber der in der Bucht von Portoroz ist nun wirklich etwas Besonderes, es gibt ihn nur einmal auf der Welt. Nur an diesem Ankerplatz vor der Marina von Portoroz, den Sonnenuntergang zwischen den beiden Landzungen, die auch das geografische Ende zweier Länder markieren: An der Landzunge rechts endet das Euro-Land Slowenien. An der Landzunge links endet das Nicht-Euro-Land Kroatien.

Schöner und näher an der Wahrheit kann man doch in diesem Frühjahr nicht ankern.
Oder?

Lieber Couch-Segeln im Warmen
statt echtes Segeln im Kalten?

„Eine Empfehlung für alle Freunde von Italien, Segeln, Reisen, dem Meer…“
Ein AMAZON-Rezensent/in

„Ich lese das Buch und werde versetzt in eine Welt, 
wo das Leben eben nicht nur aus Hektik und Nachrichten besteht.“

Ein AMAZON-Rezensent/in

JETZT erschienen als PRINT oder als eBook ab € 9,99unter millemari.de/Ein-sommer-lang-sizilien.
sowie in jeder Buchhandlung oder bei AMAZON.

Segeln im Winter (6): Mit 150PS durch die Lagunen von Grado.

Norditalien. Ein grauer Tag Ende Februar in den Lagunen von Grado und Marano. Ein Tag, an dem man sich wirklich überlegt, ob es eine gute Idee war, den beheizten Schreibtisch für einen fünfstündigen Ritt auf einem Motorboot durch die Lagunen zu verlassen. Fortunato Moratto macht da auch nicht unbedingt Mut. Er muss es wissen, schließlich ist er der Betreiber der Marina Sant’Andrea, unserem Ausgangspunkt in den Lagunen. „Kommt erst um elf. Vorher ist es zu kalt, um rauszufahren. Die Sonne wird heute den ganzen Tag nicht rauskommen, eher Nachmittag noch mehr Nebel. Aber wenn ihr unbedingt meint: Dann fahren wir heute mit Euch raus.“

Wir meinen. Schließlich hat man nicht jeden Tag Gelegenheit, einen Wintertag lang mit 150 PS durch die verlassenen Lagunen unterwegs zu sein. Die Lagunen von Grado und Marano: Ein knapp 40 Quadratkilometer großes Wasserreich, das sich zwischen Lignano im Westen und Grado im Osten vor den Bergen von Julisch-Venetien erstreckt. Eine einsame Flachwasserwüste, vom Meer getrennt durch die Lidi, flache Sandbänke, die Meer und Wellen draußen halten. Eine Wasserwüste, durchzogen von einem System langer Dalbenstraßen, langen Pfahlreihen, denen entlang die Wassertiefe mindestens 1,60 Meter beträgt und die Lagune halbwegs schiffbar ist. Unmittelbar daneben wird es flach. Was bei Flut so aussieht, als wäre alles eine Wasserfläche zeigt sich bei Ebbe als ein System von Sandbänken, Inseln, Prielen, Schlickbänken, Flußläufen. Ein Paradies, mehr oder minder sich selber überlassen, bewohnt nur von ein paar Fischern, die auf den umfluteten Inseln leben. Und hin und wieder zum Fischen rausfahren.

Das also ist unser Programm für die nächsten fünf Stunden. Oder sollen wir hoffen, dass es bloß drei sein werden? Das Thermometer zeigt fünf bis sechs Grad. Daniele, unser jugendlicher Steuermann hat seine Handschuhe vergessen. Dafür trage ich zwei paar Skiunterwäsche, zwei Wollpullover, Segler-Schwerwetterhose und gefütterte Seestiefel. Aber perfekt bin auch ich nicht. Ich habe meine Skibrille vergessen. Schließlich werden geplante 50 Stundenkilometer auf sechs Meter langen SELVA mit ihren 150 PS mich ganz sicher zum Weinen bringen. Weniger aus Rührung. Sondern wegen des Windchill-Faktors bei fünf bis sechs Grad Außentemperatur und knapp 50 Stundenkilometern.



Und dann gehts auch schon los. Daniele motort noch vorsichtig aus der Marina Sant’Andrea, dann den Fluß hinunter, den Corno. Flußhäfen stahlverarbeitender Betriebe liegen hier, Marinas und ein Motorboothersteller, alles eingebettet in idyllische schilfbestandene Ufer, Schlickbänke und sanft ansteigende Weidenböschungen. Wir sind Richtung Meer unterwegs, es herrscht Ebbstrom, der uns allein schon um 3 Knoten Richtung Meer beschleunigt. Als wir die großen Dalbenstraße erreichen, gibt Daniele zum ersten Mal Gas. Der Bug der SELVA steigt leicht an, sie liegt ruhig, keine Welle auf dem Ebbstrom, die Dalben ziehen bei 45 km/h vorbei wie die weißen Pfosten entlang einer Landstraße. Eine Kreuzung, wo auf einer kleinen Insel noch die österreichische Kaserne von vor dem I. Weltkrieg steht. Daniele geht nicht vom Gas, sondern läßt die SELVA  mit gleichem Speed elegant nach links in die abzweigende Dalbengasse gleiten. Hier gehts nach Grado und hinüber Richtung Aquileja. Das Wasser fällt und fällt, als die schlickigen Ufer näher an die Dalben heranrücken, nimmt Daniele den Gashebel zurück. Wo die Ufer enger zusammenstehen, sollte man nicht schneller als 5 Knoten unterwegs sein. Inseln kommen ins Bild, manche sind kaum so groß wie ein Viertel Fußballfeld, das Haus eines Fischers steht darauf, Brennholzstapel, aufgespannte Netze und ein gut motorisisertes Aluminumboot davor. Was muss das für ein herrliches Leben sein, das ganze Jahr hier draußen. Mein eben noch aufkeimender Neid auf alle, die den heutigen Tag am warmen Schreibtisch verbringen dürfen, ist im Schwinden begriffen, auch wenn ich die fünf bis sechs Grad nun deutlich merke. Daniele hat, nachdem er drei Mal mannhaft meine Skihandschuhe ablehnte, sie nun doch mit laufender Nase und tränenden Augen angenommen.



Die engen Ufer gehen auseinander, die Dalbenstraße wird wieder sichtbar, wo die Ufer auseinandertreten und die offene Wasserfläche von neuem sichtbar ist. Doch Daniele gibt nicht wieder Gas. Was ist los? Er schaut konzentriert geradeaus. Ein Motorboot mit Aufbau kommt uns entgegen, „Carabiniere“ knurrt Daniele nur und bleibt schön brav bei seinen 5 Knoten, bis uns der Entgegenkommer passiert. Es ist tatsächlich ein Boot der Carabiniere, drei Mann stecken in der enge Kajüte, wahrscheinlich ist sie geheizt, und beäugen uns mißtrauisch. Dann sind sie vorbei. Daniele wartet noch einen Moment bis zur nächsten Abzweigung, bei der wieder eine Reetgedeckte Fischerhütte steht und legt dann wieder den Gashebel nach vorne. Mit 45 Kilometern schießen wir wieder durchs Grau Richtung Süden und biegen kurz vor Grado nach links ab. Wir haben vor, den engen Kanal Richtung Stadthafen Grado zu nehmen und dort kurz einzulaufen. Noch immer zieht der Ebbstrom, doch er ist jetzt langsamer geworden. Langsam laufen wir der Straßenbrücke, der Verbindung des Städtchens Grado zum Festland, rechts in den Kanal ein. Wir gleiten zwischen Wohnhäusern, Restaurants, Geschäften und dem Gebäuder der Fischkooperative durch den engen Canal Richtung Stadthafen. Vertäute Muschelfischer. Netze am Rand der Straße, zu Bergen wie Schneehaufen aufgetürmt. Ein Fischer in wattierter Tarnjacke, der uns verwundert grüßt, als wir langsam vorbeituckern. Ein einsames Pärchen Spaziergänger, die verständnisinnig von der leeren Straße heruntergrinsen. Wer an einem solchen Tag draußen ist, versteht sich ohne Worte. 



Der Stadthafen. Er liegt tief im Winterschlaf. Die NUOVA CHRISTINA, der große Ausflugsdampfer, auf dem im Sommer die Disco tobt, liegt still eingemotttet in seiner Ecke. Das Cafe BOMBEN, wo es das beste Eis am Hafen gibt, ist reglos und verschlossen und dunkel. Nach Eis wäre mir heute sowieso nicht. Eher nach einer Thermoskanne mit was Heißem drin. Aber trotzdem ist hier im winterlichen Grado nan diesem Montag Vormittag noch alles im Winterschlaf. 

Daniele dreht noch eine Runde im Hafenbecken. Dann geht es wieder hinaus aus dem Stadthafen durch den engen Canal zurück. Langsam gleiten wir an den vertäuten Fischerbooten vorbei, unsere Heckwelle schmatzt an die steinernen Kaimauern und bringt die Boote leicht ins Schaukeln. Dann haben wir die Ausfahrt aus dem Kanal bei der alten verfallenden Lagerhalle vorne am Ausgang erreicht und drehen nach rechts, um das Fahrwasser unter der alten Drehbrücke Richtung Santa Maria de Barbana.

Noch einmal gibt Daniele Gas. Er ist mutig jetzt und schiebt den Gashebel mit der skibehandschuhten  Hand nach Vorne. Die Selva nimmt unmittelbar Gas an. Das Wasser hat seinen tiefsten Stand erreicht, wir gleiten auf einer schmalen Rinne zwischen zwei Schlickufern hindurch und schießen hinaus auf die Wasserfläche, auf der die Insel Barbana mit der daraufstehenden Wallfahrtskirche wie ein Luftschloss spiegelt. Ein wenig lugt in 



diesem Moment die Sonne hervor, das tiefstehende Wasser enthüllt für einen Moment seine wirkliche Farbe: Das typische tiefe blaugrüngrau der nördlichen Adria zwischen Grado und Venedig. Daniele nimmt das Gas weg, wir gleiten langsam Richtung Kaimauer und auf den dahinterliegenden Hafen zu. Scheint ein guter Ort sein, um anzulegen. Und eine Pause zu machen für die Lunchpakete, die Fortunato uns für unsere Tour mitgegeeben hat. Daniele nimmt Kurs auf das ummauerte Viereck, als ein Mönch in brauner Kutte auf der Pier erscheint. Und uns mit beiden Händen abwehrend etwas bedeutet. Flachwasser! Das Hafenbecken von Barbana ist verlandet. Da jetzt bloß nicht rein bei dem extremen Flachwasser. Schließlich ist Barbana in diesem Moment – abgesehen von dem Weg, auf dem wir kamen, nicht mehr als eine Kuppelbekrönte Insel inmitten von Watt und Schlick. Der Mönch schaut uns noch kurz nach, ob wir seine Warnung verstanden hätten, Dann geht auf der Molenkrone entlang zu einem zehn Meter langen Zubringerboot. Klettert in Sandalen die verrostete Leiter hinunter, steigt auf sein Boot, startet den Motor. Und legt ab, um auf unserem Weg von der Kircheninsel nach Grado zurückzukehren.



Als das langsame Tuckern seines schweren Diesels in der Ferne verklungen ist, sind wir allein. Ein paar Tauben, die in den Bäumen gurren. Eine Kirchentür, die sich knarrend öffnet. Das Rauschen meiner Schwerwetterhose, als ich allein durchs Kirchenschiff mit den roten Öllichtern die Votivtafeln an den Wänden besichtige.

Zurück beim Schiff: Daniele meint, es zieht Nebel auf über den Lagunen. Stalldrang, also. Es zieht uns zurück in die Marina Sant’Andrea.

Und was denke ich jetzt, über meinen klammen Tag mit 150 PS in den Lagunen? Zwei Dinge:
• Der Winter ist eindeutig die beste Reisezeit.
• Ob warm oder kalt: „Lieber Lagune als Schreibtisch.“


____________________

„Etwas Warmes braucht der Mensch“:


Im Sommer unterwegs um Sizilien.
Dies ist der Reisebericht. Und die Beschreibung eines Segelsommers 
und einer Reise um eine Insel, die ihresgleichen sucht.

Mit Anhang für Segler mit „Do’s & Don’ts“, Häfen, Marinas, Internet.

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Segeln im Winter (6): Mit 150PS durch die Lagunen von Grado.

Norditalien. Ein grauer Tag Ende Februar in den Lagunen von Grado und Marano. Ein Tag, an dem man sich wirklich überlegt, ob es eine gute Idee war, den beheizten Schreibtisch für einen fünfstündigen Ritt auf einem Motorboot durch die Lagunen zu verlassen. Fortunato Moratto macht da auch nicht unbedingt Mut. Er muss es wissen, schließlich ist er der Betreiber der Marina Sant’Andrea, unserem Ausgangspunkt in den Lagunen. „Kommt erst um elf. Vorher ist es zu kalt, um rauszufahren. Die Sonne wird heute den ganzen Tag nicht rauskommen, eher Nachmittag noch mehr Nebel. Aber wenn ihr unbedingt meint: Dann fahren wir heute mit Euch raus.“

Wir meinen. Schließlich hat man nicht jeden Tag Gelegenheit, einen Wintertag lang mit 150 PS durch die verlassenen Lagunen unterwegs zu sein. Die Lagunen von Grado und Marano: Ein knapp 40 Quadratkilometer großes Wasserreich, das sich zwischen Lignano im Westen und Grado im Osten vor den Bergen von Julisch-Venetien erstreckt. Eine einsame Flachwasserwüste, vom Meer getrennt durch die Lidi, flache Sandbänke, die Meer und Wellen draußen halten. Eine Wasserwüste, durchzogen von einem System langer Dalbenstraßen, langen Pfahlreihen, denen entlang die Wassertiefe mindestens 1,60 Meter beträgt und die Lagune halbwegs schiffbar ist. Unmittelbar daneben wird es flach. Was bei Flut so aussieht, als wäre alles eine Wasserfläche zeigt sich bei Ebbe als ein System von Sandbänken, Inseln, Prielen, Schlickbänken, Flußläufen. Ein Paradies, mehr oder minder sich selber überlassen, bewohnt nur von ein paar Fischern, die auf den umfluteten Inseln leben. Und hin und wieder zum Fischen rausfahren.

Das also ist unser Programm für die nächsten fünf Stunden. Oder sollen wir hoffen, dass es bloß drei sein werden? Das Thermometer zeigt fünf bis sechs Grad. Daniele, unser jugendlicher Steuermann hat seine Handschuhe vergessen. Dafür trage ich zwei paar Skiunterwäsche, zwei Wollpullover, Segler-Schwerwetterhose und gefütterte Seestiefel. Aber perfekt bin auch ich nicht. Ich habe meine Skibrille vergessen. Schließlich werden geplante 50 Stundenkilometer auf sechs Meter langen SELVA mit ihren 150 PS mich ganz sicher zum Weinen bringen. Weniger aus Rührung. Sondern wegen des Windchill-Faktors bei fünf bis sechs Grad Außentemperatur und knapp 50 Stundenkilometern.



Und dann gehts auch schon los. Daniele motort noch vorsichtig aus der Marina Sant’Andrea, dann den Fluß hinunter, den Corno. Flußhäfen stahlverarbeitender Betriebe liegen hier, Marinas und ein Motorboothersteller, alles eingebettet in idyllische schilfbestandene Ufer, Schlickbänke und sanft ansteigende Weidenböschungen. Wir sind Richtung Meer unterwegs, es herrscht Ebbstrom, der uns allein schon um 3 Knoten Richtung Meer beschleunigt. Als wir die großen Dalbenstraße erreichen, gibt Daniele zum ersten Mal Gas. Der Bug der SELVA steigt leicht an, sie liegt ruhig, keine Welle auf dem Ebbstrom, die Dalben ziehen bei 45 km/h vorbei wie die weißen Pfosten entlang einer Landstraße. Eine Kreuzung, wo auf einer kleinen Insel noch die österreichische Kaserne von vor dem I. Weltkrieg steht. Daniele geht nicht vom Gas, sondern läßt die SELVA  mit gleichem Speed elegant nach links in die abzweigende Dalbengasse gleiten. Hier gehts nach Grado und hinüber Richtung Aquileja. Das Wasser fällt und fällt, als die schlickigen Ufer näher an die Dalben heranrücken, nimmt Daniele den Gashebel zurück. Wo die Ufer enger zusammenstehen, sollte man nicht schneller als 5 Knoten unterwegs sein. Inseln kommen ins Bild, manche sind kaum so groß wie ein Viertel Fußballfeld, das Haus eines Fischers steht darauf, Brennholzstapel, aufgespannte Netze und ein gut motorisisertes Aluminumboot davor. Was muss das für ein herrliches Leben sein, das ganze Jahr hier draußen. Mein eben noch aufkeimender Neid auf alle, die den heutigen Tag am warmen Schreibtisch verbringen dürfen, ist im Schwinden begriffen, auch wenn ich die fünf bis sechs Grad nun deutlich merke. Daniele hat, nachdem er drei Mal mannhaft meine Skihandschuhe ablehnte, sie nun doch mit laufender Nase und tränenden Augen angenommen.



Die engen Ufer gehen auseinander, die Dalbenstraße wird wieder sichtbar, wo die Ufer auseinandertreten und die offene Wasserfläche von neuem sichtbar ist. Doch Daniele gibt nicht wieder Gas. Was ist los? Er schaut konzentriert geradeaus. Ein Motorboot mit Aufbau kommt uns entgegen, „Carabiniere“ knurrt Daniele nur und bleibt schön brav bei seinen 5 Knoten, bis uns der Entgegenkommer passiert. Es ist tatsächlich ein Boot der Carabiniere, drei Mann stecken in der enge Kajüte, wahrscheinlich ist sie geheizt, und beäugen uns mißtrauisch. Dann sind sie vorbei. Daniele wartet noch einen Moment bis zur nächsten Abzweigung, bei der wieder eine Reetgedeckte Fischerhütte steht und legt dann wieder den Gashebel nach vorne. Mit 45 Kilometern schießen wir wieder durchs Grau Richtung Süden und biegen kurz vor Grado nach links ab. Wir haben vor, den engen Kanal Richtung Stadthafen Grado zu nehmen und dort kurz einzulaufen. Noch immer zieht der Ebbstrom, doch er ist jetzt langsamer geworden. Langsam laufen wir der Straßenbrücke, der Verbindung des Städtchens Grado zum Festland, rechts in den Kanal ein. Wir gleiten zwischen Wohnhäusern, Restaurants, Geschäften und dem Gebäuder der Fischkooperative durch den engen Canal Richtung Stadthafen. Vertäute Muschelfischer. Netze am Rand der Straße, zu Bergen wie Schneehaufen aufgetürmt. Ein Fischer in wattierter Tarnjacke, der uns verwundert grüßt, als wir langsam vorbeituckern. Ein einsames Pärchen Spaziergänger, die verständnisinnig von der leeren Straße heruntergrinsen. Wer an einem solchen Tag draußen ist, versteht sich ohne Worte. 



Der Stadthafen. Er liegt tief im Winterschlaf. Die NUOVA CHRISTINA, der große Ausflugsdampfer, auf dem im Sommer die Disco tobt, liegt still eingemotttet in seiner Ecke. Das Cafe BOMBEN, wo es das beste Eis am Hafen gibt, ist reglos und verschlossen und dunkel. Nach Eis wäre mir heute sowieso nicht. Eher nach einer Thermoskanne mit was Heißem drin. Aber trotzdem ist hier im winterlichen Grado nan diesem Montag Vormittag noch alles im Winterschlaf. 

Daniele dreht noch eine Runde im Hafenbecken. Dann geht es wieder hinaus aus dem Stadthafen durch den engen Canal zurück. Langsam gleiten wir an den vertäuten Fischerbooten vorbei, unsere Heckwelle schmatzt an die steinernen Kaimauern und bringt die Boote leicht ins Schaukeln. Dann haben wir die Ausfahrt aus dem Kanal bei der alten verfallenden Lagerhalle vorne am Ausgang erreicht und drehen nach rechts, um das Fahrwasser unter der alten Drehbrücke Richtung Santa Maria de Barbana.

Noch einmal gibt Daniele Gas. Er ist mutig jetzt und schiebt den Gashebel mit der skibehandschuhten  Hand nach Vorne. Die Selva nimmt unmittelbar Gas an. Das Wasser hat seinen tiefsten Stand erreicht, wir gleiten auf einer schmalen Rinne zwischen zwei Schlickufern hindurch und schießen hinaus auf die Wasserfläche, auf der die Insel Barbana mit der daraufstehenden Wallfahrtskirche wie ein Luftschloss spiegelt. Ein wenig lugt in 



diesem Moment die Sonne hervor, das tiefstehende Wasser enthüllt für einen Moment seine wirkliche Farbe: Das typische tiefe blaugrüngrau der nördlichen Adria zwischen Grado und Venedig. Daniele nimmt das Gas weg, wir gleiten langsam Richtung Kaimauer und auf den dahinterliegenden Hafen zu. Scheint ein guter Ort sein, um anzulegen. Und eine Pause zu machen für die Lunchpakete, die Fortunato uns für unsere Tour mitgegeeben hat. Daniele nimmt Kurs auf das ummauerte Viereck, als ein Mönch in brauner Kutte auf der Pier erscheint. Und uns mit beiden Händen abwehrend etwas bedeutet. Flachwasser! Das Hafenbecken von Barbana ist verlandet. Da jetzt bloß nicht rein bei dem extremen Flachwasser. Schließlich ist Barbana in diesem Moment – abgesehen von dem Weg, auf dem wir kamen, nicht mehr als eine Kuppelbekrönte Insel inmitten von Watt und Schlick. Der Mönch schaut uns noch kurz nach, ob wir seine Warnung verstanden hätten, Dann geht auf der Molenkrone entlang zu einem zehn Meter langen Zubringerboot. Klettert in Sandalen die verrostete Leiter hinunter, steigt auf sein Boot, startet den Motor. Und legt ab, um auf unserem Weg von der Kircheninsel nach Grado zurückzukehren.



Als das langsame Tuckern seines schweren Diesels in der Ferne verklungen ist, sind wir allein. Ein paar Tauben, die in den Bäumen gurren. Eine Kirchentür, die sich knarrend öffnet. Das Rauschen meiner Schwerwetterhose, als ich allein durchs Kirchenschiff mit den roten Öllichtern die Votivtafeln an den Wänden besichtige.

Zurück beim Schiff: Daniele meint, es zieht Nebel auf über den Lagunen. Stalldrang, also. Es zieht uns zurück in die Marina Sant’Andrea.

Und was denke ich jetzt, über meinen klammen Tag mit 150 PS in den Lagunen? Zwei Dinge:
• Der Winter ist eindeutig die beste Reisezeit.
• Ob warm oder kalt: „Lieber Lagune als Schreibtisch.“


____________________

„Etwas Warmes braucht der Mensch“:


Im Sommer unterwegs um Sizilien.
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