Kategorie: Mare Più

Segeln im Winter (3): Von Jesolo nach Venedig. Von Frauen und Kälte.

Im Folgenden eine Beschreibung, wie es ist, 
mal zwischen Dezember und Januar auf der Nordadria
unterwegs zu sein, zwischen Triest und Venedig.

Schon im Sommer kann der Verkehr in Venedig auf dem Wasser für einen Segler stressig sein. Doch jetzt, am 2. Januar, ist alles, wie es auch im Sommer ist. Wassertaxis, die rasant schneiden. Vaporetti, die manndeckend wie Fußballspieler auf Körperkontakt nahe kommen. Lastkähne, die queren. Autofähren vom Lido, die auf der Giudecca heranziehen. Venedig auf einem Segelboot: Das Wasser brodelt, ist so aufgewühlt, dass selbst die siebeneinhalb Tonnen von LEVJE II davon beeindruckt sind und ins Schwanken kommen.

Doch berichten wir der Reihe nach. Im gestrigen Post schrieb ich über unseren ersten Seetag: Dass Nacht und Kälte so schnell über uns hereinbrachen, dass ich beschloss, vor dem Strand von Jesolo an der offenen Küste im Dunkel zu ankern. Was insofern ein Wagestück war, weil keine 60 Kilometer südlich für die Nacht Südwest 4-5 angesagt war. Ich schlief mit offenen Ohren und alle zwei Stunden wach, erwartend, vom Stampfen des Schiffes in einem auffrischenden Libeccio geweckt zu werden. Aber nichts geschah. Nur Morgens wurde es trotz Heizung kühl an Bord. Die Temperatur schien gegen Morgen unter Null gefallen zu sein.

Jesolo beim Aufwachen vom Meer aus gesehen: Ein Anblick wie ein abstraktes Gemälde. Menschenleere Appartmenthäuser, die den Betrachter anblicken wie gelangweilte Gesichter, die das Getriebe der Menschen leid und ledig sind und sich jede Nacht den Überdruss erzählen. Aber vielleicht ist den Gesichtern der Menschen Tun und Treiben auch egal. Oder nicht mal das. Kein Licht Nachts. Kein Mensch am Tag. Jesolo. Was könnte man schon für eine schönere Geschichte erzählen. Über den Menschen und seine Sachen, die er so in die Welt stellt.

Kommen wir nun zu einem anderen Thema, das Segeln im Januar im nördlichen Mittelmeer so mit sich bringt. Die Kälte. Und wie Frau damit umgeht. Nicht dass ich dächte, dass Mann und Frau – was Kälte angeht – grundsätzlich von Gott unterschiedlich geschaffen wären. Nein. Aber meine Frau ist, was Kälte angeht, wenig kompromissbereit. Aber sie liebt nun mal das Meer, weniger das Segeln, aber kalt geht gar nicht. Überhaupt gar nicht. Kalt? Macht man einfach nicht.

Wir machten halt doch. Und haben für unser Wintersegel-Experiment eingepackt, was einzupacken uns möglich war. Und gerne gebe ich die Liste weiter für alle, die ähnliche Vergnügen wie das Wintersegeln anstreben:

Drei Garnituren Ski-Unterwäsche. (Trägt Katrin. Sieht man aber – fast – nicht.)
Thermohose.
Die guten Seestiefel (Ich habe vor Jahren wirklich lange gerungen, ob ich die 200-250 Euro ausgeben soll. Ich muss nun nach fünf Wintern zugeben: Sie sind jeden Cent wert. Ohne im Winter auf dem Meer gar nicht. Sie sind ein Vergnügen,)
Ski-Handschuhe (2 Paar)
3 Pullover. Fleece. Wolle.
Die vor einem Jahrzehnt bei AMERICAN AIRLINES geklaute federleichte bulligwarme Fleece-Decke.

Ach ja. Und eine Skibrille. Denn wie man weiß, ist vor allem die Sache mit dem „Wind Chill Factor“ ausschlaggebend. Und die geht so: Das Thermometer unter der Sprayhood zeigt 14 Grad. Eigentlich frühlingshaft. Kaum dass wir beim Lido nach Venedig eingedreht sind, kommt der Wind voll von vorn. Und fühlt sich schneidend kalt an. Die Augen tränen. Sicht nur mehr eingeschränkt möglich.

Aber weil die Einfahrt nach Venedig ja nun mal wirklich zum schönsten gehört, was man einem Menschen, der das Meer liebt, schenken kann, ist die Kälte eigentlich an diesem Tag – ein wohliger Bestandteil des Ganzen. Sie ist unzweifelhaft da. Die Augen brennen, Die Hände sind kalt. Sie ist Bestandteil unserer Reise. Es ist irgendwie stimmig. Der Winter, der späte Herbst, sie sind nun mal die beste Reisezeit. Wenn die Gesichter von Jesolo zu den Gesichtern zu Jesolo werden. Wenn die Welt wieder sich selbst überlassen ist. Wenn nur ein paar Fischer in wattierten Jacken draussen sind.

Wenn das Licht über Venedig milchig wird. Und die Brücken in der Stadt noch federleichter aussehen. Und wenn: Venedig still und leise seinen eigenen Gang geht. Jedenfalls in den östlichsten beiden Stadtvierteln in Sant‘ Elena und in Castello. Immer wieder zieht es mich hierher – was einerseits taktische Überlegungen hat: Hier gibt es gleich zwei Marinas. Und man ist zu Fuß in zwanzig Minuten bei San Marco.

Aber das Taktische erklärt den Zauber von Castello und Sant’Elena nur teilweise.

In Sant’Elena leben die einfachen Leute. Es ist das Viertel der Handwerker, der Mechaniker, der nautischen Werkstätten, der ACTV-Werften und der Lastkahn-Steuerer. Sant’Elena ist irgendwie normal, bescheiden, ja mehr als das. Jedes Mal, wenn ich hierher komme, ist der Gang durchs Viertel für mich Balsam auf die Seele. Es ist heilsam. Beruhigend. Nichts Schreiendes stürzt sich ins Auge. Nie war Sant’Elena so wertvoll wie heute. Weite Gassen, durch die ein paar Schulkinder laufen, rechtwinklig angelegt, dass ich denke: Was für ein Vergnügen das für die Kinder sein muss, um die Häuser herum Verstecken zu spielen.

Zur Normalität von Sant’Elena kommt noch hinzu, dass heute, am 2. Januar offensichtlich die Frauen von Sant’Elena sich zu einem Waschtag verabredet haben. Der Kälte trotzend, hängt im ganzen Viertel die Wäsche über den Straßen. Kaum Menschen. Aber dafür Wäsche zum Trocknen, die schlapp im Wind wedelt. Ein Anblick, der mich an meine Kindheit erinnert,

Was beileibe nicht bedeutet, dass Sant’Elena und Castello nur bei frischgewaschener Wäsche punkten. Es strotzt vor stillen pittoresken Winkeln wie dem einstigen Kreuzgang von San Pietro di Castello, die Jahrhunderte der eigentliche Dom von Venedig war, als der Markusdom ausschließlich „Regierungskirche“ war. Dass hier einmal das große Leben war, erzählt der alte Kreuzgang. Geschichte ist, wenn Dinge sich selbst überlassen werden, einen Augenblick, und nicht im Dienst von irgendwas und irgendwem stehen, sondern einfach nur sich selber gehören.

Und so endet unser Spaziergang durch den Osten Venedigs, als das Licht schwächer wird und schwächer. Und die Kälte des frühen Abends durch die vielen Kleidungsstücke dringt. Und in den Gassen von Castello das Leuchten des Tages erlischt und nur noch in der Ferne über der Giudecca die Kuppeln Santa Maria delle Salute einen Hauch davon bewahrten.

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Am 1. Januar 2016 erschienen: Mein neues Buch über Sizilien.
Ich freue mich, wenn Sie mehr von MARE PIU lesen wollen:

Im Sommer 2016 umsegelte ich auf LEVJE Sizilien.
Dies ist der Reisebericht. Und die Beschreibung eines Segelsommers 
um eine widerspenstige Schöne. Und eine Insel, die ihresgleichen sucht.
Mit Anhang für Segler.
JETZT als erschienen als PRINT oder als EBook ab € 9,99
unter millemari.de/Ein-sommer-lang-sizilien.
sowie in jeder Buchhandlung oder bei AMAZON.

Segeln im Winter (3): Von Jesolo nach Venedig. Von Frauen und Kälte.

Im Folgenden eine Beschreibung, wie es ist, 
mal zwischen Dezember und Januar auf der Nordadria
unterwegs zu sein, zwischen Triest und Venedig.

Schon im Sommer kann der Verkehr in Venedig auf dem Wasser für einen Segler stressig sein. Doch jetzt, am 2. Januar, ist alles, wie es auch im Sommer ist. Wassertaxis, die rasant schneiden. Vaporetti, die manndeckend wie Fußballspieler auf Körperkontakt nahe kommen. Lastkähne, die queren. Autofähren vom Lido, die auf der Giudecca heranziehen. Venedig auf einem Segelboot: Das Wasser brodelt, ist so aufgewühlt, dass selbst die siebeneinhalb Tonnen von LEVJE II davon beeindruckt sind und ins Schwanken kommen.

Doch berichten wir der Reihe nach. Im gestrigen Post schrieb ich über unseren ersten Seetag: Dass Nacht und Kälte so schnell über uns hereinbrachen, dass ich beschloss, vor dem Strand von Jesolo an der offenen Küste im Dunkel zu ankern. Was insofern ein Wagestück war, weil keine 60 Kilometer südlich für die Nacht Südwest 4-5 angesagt war. Ich schlief mit offenen Ohren und alle zwei Stunden wach, erwartend, vom Stampfen des Schiffes in einem auffrischenden Libeccio geweckt zu werden. Aber nichts geschah. Nur Morgens wurde es trotz Heizung kühl an Bord. Die Temperatur schien gegen Morgen unter Null gefallen zu sein.

Jesolo beim Aufwachen vom Meer aus gesehen: Ein Anblick wie ein abstraktes Gemälde. Menschenleere Appartmenthäuser, die den Betrachter anblicken wie gelangweilte Gesichter, die das Getriebe der Menschen leid und ledig sind und sich jede Nacht den Überdruss erzählen. Aber vielleicht ist den Gesichtern der Menschen Tun und Treiben auch egal. Oder nicht mal das. Kein Licht Nachts. Kein Mensch am Tag. Jesolo. Was könnte man schon für eine schönere Geschichte erzählen. Über den Menschen und seine Sachen, die er so in die Welt stellt.

Kommen wir nun zu einem anderen Thema, das Segeln im Januar im nördlichen Mittelmeer so mit sich bringt. Die Kälte. Und wie Frau damit umgeht. Nicht dass ich dächte, dass Mann und Frau – was Kälte angeht – grundsätzlich von Gott unterschiedlich geschaffen wären. Nein. Aber meine Frau ist, was Kälte angeht, wenig kompromissbereit. Aber sie liebt nun mal das Meer, weniger das Segeln, aber kalt geht gar nicht. Überhaupt gar nicht. Kalt? Macht man einfach nicht.

Wir machten halt doch. Und haben für unser Wintersegel-Experiment eingepackt, was einzupacken uns möglich war. Und gerne gebe ich die Liste weiter für alle, die ähnliche Vergnügen wie das Wintersegeln anstreben:

Drei Garnituren Ski-Unterwäsche. (Trägt Katrin. Sieht man aber – fast – nicht.)
Thermohose.
Die guten Seestiefel (Ich habe vor Jahren wirklich lange gerungen, ob ich die 200-250 Euro ausgeben soll. Ich muss nun nach fünf Wintern zugeben: Sie sind jeden Cent wert. Ohne im Winter auf dem Meer gar nicht. Sie sind ein Vergnügen,)
Ski-Handschuhe (2 Paar)
3 Pullover. Fleece. Wolle.
Die vor einem Jahrzehnt bei AMERICAN AIRLINES geklaute federleichte bulligwarme Fleece-Decke.

Ach ja. Und eine Skibrille. Denn wie man weiß, ist vor allem die Sache mit dem „Wind Chill Factor“ ausschlaggebend. Und die geht so: Das Thermometer unter der Sprayhood zeigt 14 Grad. Eigentlich frühlingshaft. Kaum dass wir beim Lido nach Venedig eingedreht sind, kommt der Wind voll von vorn. Und fühlt sich schneidend kalt an. Die Augen tränen. Sicht nur mehr eingeschränkt möglich.

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Am 1. Januar 2016 erschienen: Was man übers Segeln in Sizilien wissen muss:

Im Sommer 2016 umsegelte ich auf LEVJE Sizilien.
Dies ist der Reisebericht. Und die Beschreibung eines Segelsommers 
und einer Reise um eine Insel, die ihresgleichen sucht.
Mit Anhang für Segler mit „Do’s & Don’ts“, Häfen, Marinas, Internet.

JETZT als erschienen als PRINT oder als EBook ab € 9,99
unter millemari.de/Ein-sommer-lang-sizilien.

sowie in jeder Buchhandlung oder bei AMAZON.

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Aber weil die Einfahrt nach Venedig ja nun mal wirklich zum schönsten gehört, was man einem Menschen, der das Meer liebt, schenken kann, ist die Kälte eigentlich an diesem Tag – ein wohliger Bestandteil des Ganzen. Sie ist unzweifelhaft da. Die Augen brennen, Die Hände sind kalt. Sie ist Bestandteil unserer Reise. Es ist irgendwie stimmig. Der Winter, der späte Herbst, sie sind nun mal die beste Reisezeit. Wenn die Gesichter von Jesolo zu den Gesichtern zu Jesolo werden. Wenn die Welt wieder sich selbst überlassen ist. Wenn nur ein paar Fischer in wattierten Jacken draussen sind.

Wenn das Licht über Venedig milchig wird. Und die Brücken in der Stadt noch federleichter aussehen. Und wenn: Venedig still und leise seinen eigenen Gang geht. Jedenfalls in den östlichsten beiden Stadtvierteln in Sant‘ Elena und in Castello. Immer wieder zieht es mich hierher – was einerseits taktische Überlegungen hat: Hier gibt es gleich zwei Marinas. Und man ist zu Fuß in zwanzig Minuten bei San Marco.

Aber das Taktische erklärt den Zauber von Castello und Sant’Elena nur teilweise.

In Sant’Elena leben die einfachen Leute. Es ist das Viertel der Handwerker, der Mechaniker, der nautischen Werkstätten, der ACTV-Werften und der Lastkahn-Steuerer. Sant’Elena ist irgendwie normal, bescheiden, ja mehr als das. Jedes Mal, wenn ich hierher komme, ist der Gang durchs Viertel für mich Balsam auf die Seele. Es ist heilsam. Beruhigend. Nichts Schreiendes stürzt sich ins Auge. Nie war Sant’Elena so wertvoll wie heute. Weite Gassen, durch die ein paar Schulkinder laufen, rechtwinklig angelegt, dass ich denke: Was für ein Vergnügen das für die Kinder sein muss, um die Häuser herum Verstecken zu spielen.

Zur Normalität von Sant’Elena kommt noch hinzu, dass heute, am 2. Januar offensichtlich die Frauen von Sant’Elena sich zu einem Waschtag verabredet haben. Der Kälte trotzend, hängt im ganzen Viertel die Wäsche über den Straßen. Kaum Menschen. Aber dafür Wäsche zum Trocknen, die schlapp im Wind wedelt. Ein Anblick, der mich an meine Kindheit erinnert,

Was beileibe nicht bedeutet, dass Sant’Elena und Castello nur bei frischgewaschener Wäsche punkten. Es strotzt vor stillen pittoresken Winkeln wie dem einstigen Kreuzgang von San Pietro di Castello, die Jahrhunderte der eigentliche Dom von Venedig war, als der Markusdom ausschließlich „Regierungskirche“ war. Dass hier einmal das große Leben war, erzählt der alte Kreuzgang. Geschichte ist, wenn Dinge sich selbst überlassen werden, einen Augenblick, und nicht im Dienst von irgendwas und irgendwem stehen, sondern einfach nur sich selber gehören.

Und so endet unser Spaziergang durch den Osten Venedigs, als das Licht schwächer wird und schwächer. Und die Kälte des frühen Abends durch die vielen Kleidungsstücke dringt. Und in den Gassen von Castello das Leuchten des Tages erlischt und nur noch in der Ferne über der Giudecca die Kuppeln Santa Maria delle Salute einen Hauch davon bewahrten.

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Am 1. Januar 2016 erschienen: Mein neues Buch über Sizilien.
Ich freue mich, wenn Sie mehr von MARE PIU lesen wollen:

Im Sommer 2016 umsegelte ich auf LEVJE Sizilien.
Dies ist der Reisebericht. Und die Beschreibung eines Segelsommers 
um eine widerspenstige Schöne. Und eine Insel, die ihresgleichen sucht.
Mit Anhang für Segler mit „Do’s & Don’ts“, Häfen, Marinas, Internet.

JETZT als erschienen als PRINT oder als EBook ab € 9,99
unter millemari.de/Ein-sommer-lang-sizilien.
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Segeln im Winter (2): An Neujahr über die Adria nach Venedig. Und: Ein NEUES BUCH bei millemari.

Im Folgenden eine Beschreibung, wie es ist, 
mal zwischen Dezember und Januar auf der Nordadria
unterwegs zu sein, zwischen Triest und Venedig.

Foto: Katrin von Canal

Die Farben.
Es sind wieder einmal die Farben, die den Winter auf dem Meer in Italien ausmachen.

Wir befinden uns in dem kleinen Städtchen Marano an den Lagunen von Grado. Ein kleines Städtchen, erbaut über einer Festung im Wasser auf einer Schlickinsel, von der nichts geblieben ist. Mit Fabrikgebäuden, die längst keine mehr sind. Am Wasser steht die kleine Bar AL MOLO von Martina Zuttion. Es hat acht Grad. Es ist Nachmittag. Die Sonne scheint durch das Glas mit Tocai, den Martina dort ausschenkt. Die Welt: Sie dreht sich richtig rum an diesem 31. Dezember 2016.

Foto: Katrin von Canal

Dass sie sich richtig rum dreht, hat aber mit den Farben im vergessenen Örtchen Marano zu tun. Die einfache Hauswand, deren Rot gierig sämtliche Rottöne des Sonnenlichts herausfiltert, herausquetscht, um gleich noch intensiver im Rot zu leuchten. Das Blau der Gezeiten, die langsam unter der rostigen Brücke hindurchschieben, Richtung Meer. Wieder einmal ist alles so viel intensiver für mich am Meer. Als wäre im Meerwasser irgendeine Substanz enthalten, die in meinem Gehirn jedes Mal wieder für einen Ausstoß von Glückshormonen sorgt. Irgendeine Stofflichkeit, die mich alles intensiver sehen, intensiver hören lässt. Selbst Händels Arien, die wir in der Silvesternacht vom Boot über den fast verlassenen Hafen senden: Sie klingen noch einmal so intensiv im Frosthauch über LEVJE.

Foto: Katrin von Canal

Die Sonne geht spät auf, erst Viertel vor acht. Nachts hat es im Hafen um die Null Grad. Ich oute mich, wenn ich zugebe, dass ich die Heizung nachts laufen lasse, bei Null Grad ginge es auch mit drei, vier Decken, aber die neue LEVJE, die ich nun seit einigen Monaten mein Eigen nenne, bietet einige Annehmlichkeiten für das Reisen im Winter. Es ginge auch ohne. Aber schöner ist „mit“.

Viertel vor acht also. Ich schaue aus dem Fenster. Und: schon wieder Farben. Die Pinien am Ufer des kleinen Hafens MARINA DI SANGIORGIO. Sattes Kiefernnadelgrün, das sich vor den schneebedeckten Gipfeln im Norden erhebt. Die Alpen aus Süden, aus dem Friaul: Sie sehen anders aus als unsere Alpen in Bayern. Es hat einfach damit zu tun, dass die Sonne sie von Süden beleuchtet.  Im zarten Rot des Morgens sehen sie einfach aus wie Berge des Himalaya. Wie Berge, auf denen die Götter wohnen.

Wir trödeln mit Frühstück herum. Es wird elf, bis LEVJEs Motor in der Kälte anspringt und wir aus dem Hafen langsam hinausziehen durch einen dichtgedrängten Fischschwarm. So reglos und dicht stehen die Fische, als würden sie sich wegen der Kälte reglos aneinanderschmiegen, dass das Echolot plötzlich nur noch 1,70 Meter anzeigt, als wir über die Tausende Fischleiber des kalten Brackwassers hinausgleiten.

Foto: Katrin von Canal

Nach dem Ablegen: Wieder Farben. Über den Fluss hinaus Richtung Lagunen. Das Braun des Schilfs. Die Götterberge hinter uns. Ein kleines Fischerhüttchen ganz rechts auf einer Schlickbank. Und dann: Meine Lieblings-Meeresfarbe: Das Blaugrüngrau der nördlichen Adria. Ich versage es mir, nun wieder einmal darüber zu schreiben, über diese Farbe, die es nur an bestimmten Orten gibt: In der Nordadria. Vor dem Gargano. Und: Im Süden Siziliens. Überall dort, wo Flüsse bestimmte Gesteins- und sonstige Sedimente ins Meer spülen. Es ist, als … nein! Ich sage jetzt nichts weiter darüber. Diese Farbe, weil sie eine der schönsten Farben des Meeres ist, haben wir auf millemari.’s neuestes Buch vorne draufgenommen – siehe am Ende dieses Posts.

Foto: Katrin von Canal

Etwa eineinviertel Stunden dauert die Fahrt aus dem Flusshafen hinaus dorthin, wo die großen, ewig langen Sandbänke liegen, die die Lagunen trennen vom Meer. Die Lagunen, die Lignano bis Grado reichen: Man kann sie nur durch drei Zufahrten zwischen den Sandbänken erreichen. Die Wasserwüste hinter den Sandbänken ist nur zwischen den Dalben befahrbar. Wer rechts oder links hinausführe, würde schnell unweigerlich mit dem Kiel im Schlick steckenbleiben. So unendlich wie die Wasserwüste aussieht: Die hat außerhalb der Dalbenstraßen meist keinen Meter Wassertiefe.
So sanft sind die Farben, so duftig sind sie, dass ich meine, ich könnte schweben in dem großen Blau, das mich umgibt. Als würde dieses Blau alles Gewicht von mir nehmen, es fällt von mir ab und für Sekundenbruchteile denke ich wirklich: Ich bin nur noch ein schwebendes Teilchen, irgendwo in den Myriaden von Blau.

Nach Venedig sind es neun Stunden. Aber weil Katrin und ich zu lang herumgetrödelt haben am Vormittag, holt uns der Sonnenuntergang schnell ein. 17.39 Uhr. Bis halb drei konnte man im Pullover herumlaufen. Dann kam etwas Wind auf. Wir holen uns schnell die dicken Segeljacken, drei Lagen Hosen tragen wir eh übereinander, alles, aber auch wirklich alles hat seinen Preis. Aber um diese Farben zu sehen, dieses ölig-teerige tiefe Schwarzblau, das das Meer nun zeigt: Dafür würde ich schon weit laufen. Und: den orangen Saum, den die Sonne noch eine Viertelstunde über die Kim wirft und über die Lichter, die an den verlassenen Uferstraßen angehen.

Weil die Nacht ruhig scheint, weil es kalt wird, beschließen wir, draußen einfach offen auf dem Meer zu ankern. Ich habe LEVJE II einfach mit dem schwindenden Licht des orangen Saums nahe ans Ufer gesteuert. Habe ihren Anker einfach auf dem offenen Meer vor dem Strand von Jesolo auf 4,50 Meter Wassertiefe fallen lassen. Ich hoffe, dass die Wetterberichte recht haben. Und die Südwest 4-5 erst morgen Vormittag beginnen, auflandig auf die Strände von Jesolo zu wehen. Wenn nicht: Muss ich heute Nacht raus, in die Kälte. Es hat um die Null Grad unter dem klaren Sternenhimmel.

Hoffen wir also auf eine ruhige Nacht. Auf LEVJE, die sich sanft in der Kälte vor dem Strand von Jesolo wiegt.

Morgen geht es weiter mit:
Ankunft am Vormittag in Venedig.
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Am heutigen 1. Januar 2016 erschienen: Mein neues Buch über Sizilien.
Ich freue mich, wenn Sie mehr von MARE PIU lesen wollen:

Die Beschreibung eines Segelsommers um eine widerspenstige Schöne.
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JETZT als erschienen als PRINT oder als EBook ab € 9,99
unter millemari.de/Ein-sommer-lang-sizilien.
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Segeln im Winter (2): An Neujahr über die Adria nach Venedig. Und NEUES BUCH bei millemari.

Im Folgenden eine Beschreibung, wie es ist, 
mal zwischen Dezember und Januar auf der Nordadria
unterwegs zu sein, zwischen Triest und Venedig.

Foto: Katrin von Canal

Die Farben.
Es sind wieder einmal die Farben, die den Winter auf dem Meer in Italien ausmachen.

Wir befinden uns in dem kleinen Städtchen Marano an den Lagunen von Grado. Ein kleines Städtchen, erbaut über einer Festung im Wasser auf einer Schlickinsel, von der nichts geblieben ist. Mit Fabrikgebäuden, die längst keine mehr sind. Am Wasser steht die kleine Bar AL MOLO von Marina Zuttion. Es hat acht Grad. Es ist Nachmittag. Die Sonne scheint durch das Glas mit Tocai, den Martina dort ausschenkt. Die Welt: Sie dreht sich richtig rum an diesem 31. Dezember 2016.

Foto: Katrin von Canal

Dass sie sich richtig rum dreht, hat aber mit den Farben im vergessenen Örtchen Marano zu tun. Die einfache Hauswand, deren Rot gierig sämtliche Rottöne des Sonnenlichts herausfiltert, herausquetscht, um gleich noch intensiver im Rot zu leuchten. Das Blau der Gezeiten, die langsam unter der rostigen Brücke hindurchschieben, Richtung Meer. Wieder einmal ist alles so viel intensiver für mich am Meer. Als wäre im Meerwasser irgendeine Substanz enthalten, die in meinem Gehirn jedes Mal wieder für einen Ausstoß von Glückshormonen sorgt. Irgendeine Stofflichkeit, die mich alles intensiver sehen, intensiver hören lässt. Selbst Händels Arien, die wir in der Silvesternacht vom Boot über den fast verlassenen Hafen senden: Sie klingen noch einmal so intensiv im Frosthauch über LEVJE.

Foto: Katrin von Canal

Die Sonne geht spät auf, erst Viertel vor acht. Nachts hat es im Hafen um die Null Grad. Ich oute mich, wenn ich zugebe, dass ich die Heizung nachts laufen lasse, bei Null Grad ginge es auch mit drei, vier Decken, aber die neue LEVJE, die ich nun seit einigen Monaten mein Eigen nenne, bietet einige Annehmlichkeiten für das Reisen im Winter. Es ginge auch ohne. Aber schöner ist „mit“.

Viertel vor acht also. Ich schaue aus dem Fenster. Und: schon wieder Farben. Die Pinien am Ufer des kleinen Hafens MARINA DI SANGIORGIO. Sattes Kiefernnadelgrün, das sich vor den schneebedeckten Gipfeln im Norden erhebt. Die Alpen aus Süden, aus dem Friaul: Sie sehen anders aus als unsere Alpen in Bayern. Es hat einfach damit zu tun, dass die Sonne sie von Süden beleuchtet.  Im zarten Rot des Morgens sehen sie einfach aus wie Berge des Himalaya. Wie Berge, auf denen die Götter wohnen.

Wir trödeln mit Frühstück herum. Es wird elf, bis LEVJEs Motor in der Kälte anspringt und wir aus dem Hafen langsam hinausziehen durch einen dichtgedrängten Fischschwarm. So reglos und dicht stehen die Fische, als würden sie sich wegen der Kälte reglos aneinanderschmiegen, dass das Echolot plötzlich nur noch 1,70 Meter anzeigt, als wir über die Tausende Fischleiber des kalten Brackwassers hinausgleiten.

Foto: Katrin von Canal

Nach dem Ablegen: Wieder Farben. Über den Fluss hinaus Richtung Lagunen. Das Braun des Schilfs. Die Götterberge hinter uns. Ein kleines Fischerhüttchen ganz rechts auf einer Schlickbank. Und dann: Meine Lieblings-Meeresfarbe: Das Blaugrüngrau der nördlichen Adria. Ich versage es mir, nun wieder einmal darüber zu schreiben, über diese Farbe, die es nur an bestimmten Orten gibt: In der Nordadria. Vor dem Gargano. Und: Im Süden Siziliens. Überall dort, wo Flüsse bestimmte Gesteins- und sonstige Sedimente ins Meer spülen. Es ist, als … nein! Ich sage jetzt nichts weiter darüber. Diese Farbe, weil sie eine der schönsten Farben des Meeres ist, haben wir auf millemari.’s neuestes Buch vorne draufgenommen – siehe am Ende dieses Posts.

Foto: Katrin von Canal

Etwa eineinviertel Stunden dauert die Fahrt aus dem Flusshafen hinaus dorthin, wo die großen, ewig langen Sandbänke liegen, die die Lagunen trennen vom Meer. Die Lagunen, die Lignano bis Grado reichen: Man kann sie nur durch drei Zufahrten zwischen den Sandbänken erreichen. Die Wasserwüste hinter den Sandbänken ist nur zwischen den Dalben befahrbar. Wer rechts oder links hinausführe, würde schnell unweigerlich mit dem Kiel im Schlick steckenbleiben. So unendlich wie die Wasserwüste aussieht: Die hat außerhalb der Dalbenstraßen meist keinen Meter Wassertiefe.
So sanft sind die Farben, so duftig sind sie, dass ich meine, ich könnte schweben in dem großen Blau, das mich umgibt. Als würde dieses Blau alles Gewicht von mir nehmen, es fällt von mir ab und für Sekundenbruchteile denke ich wirklich: Ich bin nur noch ein schwebendes Teilchen, irgendwo in den Myriaden von Blau.

Nach Venedig sind es neun Stunden. Aber weil Katrin und ich zu lang herumgetrödelt haben am Vormittag, holt uns der Sonnenuntergang schnell ein. 17.39 Uhr. Bis halb drei konnte man im Pullover herumlaufen. Dann kam etwas Wind auf. Wir holen uns schnell die dicken Segeljacken, drei Lagen Hosen tragen wir eh übereinander, alles, aber auch wirklich alles hat seinen Preis. Aber um diese Farben zu sehen, dieses ölig-teerige tiefe Schwarzblau, das das Meer nun zeigt: Dafür würde ich schon weit laufen. Und: den orangen Saum, den die Sonne noch eine Viertelstunde über die Kim wirft und über die Lichter, die an den verlassenen Uferstraßen angehen.

Weil die Nacht ruhig scheint, weil es kalt wird, beschließen wir, draußen einfach offen auf dem Meer zu ankern. Ich habe LEVJE II einfach mit dem schwindenden Licht des orangen Saums nahe ans Ufer gesteuert. Habe ihren Anker einfach auf dem offenen Meer vor dem Strand von Jesolo auf 4,50 Meter Wassertiefe fallen lassen. Ich hoffe, dass die Wetterberichte recht haben. Und die Südwest 4-5 erst morgen Vormittag beginnen, auflandig auf die Strände von Jesolo zu wehen. Wenn nicht: Muss ich heute Nacht raus, in die Kälte. Es hat um die Null Grad unter dem klaren Sternenhimmel.

Hoffen wir also auf eine ruhige Nacht. Auf LEVJE, die sich sanft in der Kälte vor dem Strand von Jesolo wiegt.

Morgen geht es weiter mit:
Ankunft am Vormittag in Venedig.
________________________

Am heutigen 1. Januar 2016 erschienen: Mein neues Buch über Sizilien.
Ich freue mich, wenn Sie mehr von MARE PIU lesen wollen:

Die Beschreibung eines Segelsommers um eine widerspenstige Schöne.
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Segeln im Winter (1): Unterwegs nach Venedig.

In dieser Reihe von Posts schreibe ich 
über das Unterwegssein auf dem Meer in diesem Winter. 
Von Orten und Begegnungen auf meiner Winterreise unter Segeln.

Im November, auf dem Weg nach Venedig. Es ist kalt auf LEVJE, windstill. Und es wird Abend. Tagsüber hatte das Wasser die Farbe von tiefem Graugrünblau, ein Farbton, den ich über alles liebe. Am Himmel wich das Grau den Tag über nicht. Aber jetzt am Abend werden sich die Farben ähnlicher und ähnlicher: Seit über einer Stunde verheiratet sich der Himmel mit dem Meer. Sie werden eins. Nuance für Nuance gleichen sich Himmel und Meer in ihrem Aussehen einander an, am Horizont sind sie fast schon verschmolzen. Alles um mich ist in milden Pastelltönen. Ein zartes Graugrünblau des Meeres vor mir. Und neben mir. Ein zartes helles Graublau über mir. Ein heller Oranger Fleck irgendwo in den Wolken, dort wo vor einer Viertelstunde noch Sonne war und nicht mehr ist. Ein Fleck, der schwächer wird und schwächer, bis er verblasst im schwindenden Licht. Die Farben des Himmels und des Meeres, sie nähern sich einander an in dieser Dämmerung, solange, bis das Licht der Nacht gewichen ist. Nacht ist, wenn Meer und Himmel die gleiche Farbe angenommen haben.



Das Graugrünblau der nördlichen Adria um mich. Es gibt ihn nicht überall auf den Meeren der Welt, diesen speziellen Farbton, im Gegenteil. Er ist wie eine rare Schönheit. Er zeigt sich nur dort, wo viele Flüsse und Bäche aus Gebirgen bestimmte Sorten Gesteinsmehl und Sediment ins Meer tragen. Den Farbton: ihn gibt es hier, wo das Meer vor der Küste des Veneto endet und Isonzo, Piave und Tagliamento münden. Es gibt ihn im Südosten vor dem Gargano. Und im Süden Siziliens. 

Dies ist mir die liebste Stunde des Tages. Die Stunde, in der ich ruhig werde, ganz ruhig, wo sich nach einem solchen Tag wohlig Stille und Weite in mir ausbreiten.

Ich bin heute Mittag auf meinem neuen Schiff ausgelaufen. Wie mein erstes Schiff habe ich sie LEVJE getauft. LEVJE II einfach. Ein paar Wochen lagen die beiden Schiffe in stiller Eintracht nebeneinander auf dem Werksgelände der CANTIERE DI SAN GIORGIO. Ein paar Wochen, in denen sich die beiden Schiffe Geschichten erzählten. Über die Menschen, die ihre Eigner waren, ihren Marotten, ihre Vorlieben. Sich gegenseitig etwas zuknarzten auf den Pallböcken, von Meeren und vielleicht auch von zu starker Spannung im Rigg. Aber vor fünf Tagen war dann Schluss mit trauter Zweisamkeit. LEVJE II kam ins Wasser. LEVJE I blieb an Land. Ich packte Kisten. Räumte sie leer. Und zog um.

Nach fünf Tagen Kisten schleppen – man glaubt es kaum, was sich in einem Boot ansammelt, wenn man drei Jahre darauf lebt. Spuren eines Daseins, Relikte, irgendwas – legte ich heute Morgen gegen elf mit LEVJE II ab. Fuhr den langen Kanal durch die Lagunen hinaus. Zum ersten Mal auf meinem neuen Schiff unterwegs. LEVJE II ist ja keine neues Schiff, sie hat 16 Jahre auf dem Buckel, ein Mann aus dem Salzburgischen nutzte sie für Urlaubstörns nach Kroatien, bis er sich neu verliebte. Und die neue Frau das Schiff nicht mochte. LEVJE II stand zwei Jahre ungenutzt auf dem Werftgelände, niemand hauste auf ihr außer den dicken Stinkwanzen, die sich im hohen Sommer durchs Gras zwischen den Industrieanlagen herüber schlichen und sich jetzt in der Novemberkälte in jeder noch so kleinen Ritze auf LEVJE’s Deck in kleinen Rudeln verkriechen. Mit einem Schiff, das solange nicht gesegelt ist, hinauszugehen, ist eine Mutprobe. Wie ein Sprung von einem Zehn-Meter-Brett. Ich bin allein an Bord. Was, wenn irgendetwas kaputt geht? 



Am Ufer gehen die ersten Lichter an. Ich laufe mit meinem Schiff die Küste entlang. Erst sind die Lichter der Uferstraßen nur schwach erkennbar. Sie sind eingebettet in das Graublau des Himmels. Links von mir im Dämmer zieht draußen auf dem Meer etwas Schnelles vorbei und geht vor meinem Bug durch. Ein Fischer, der mit seinem schnellen Gommone dem Hafen von Santa Margherita/Caorle zustrebt. Caorle. Im Sommer: Strandliege reiht sich an Strandliege, Ombrellone an Ombrellone. Caorle jetzt: Der lange Sandstrand gehört den wenigen, die es um diese Stunde hinaustreibt, barfuß durch den schweren Sand zu treten, eine lange Wanderung zu unternehmen.

Die Lichter am Land werden greller. Sind schärfer konturiert. Von der Sonne ist nichts geblieben als der leuchtend oranger Fleck am Himmel und sein Abbild auf dem riesigen Spiegel, auf dem ich mit LEVJE unterwegs bin.

Am Nachmittag gab es Schwierigkeiten. Bei Kontrolle der Instrumente stellte ich fest, dass sich der Zeiger der Tankuhr nicht bewegte. Nach vier Stunden strammer Fahrt unter Motor sollte er das. Er sollte anzeigen, dass nun eben weniger Diesel im Tank ist. Aber das tat er nicht. Er zeigte beständig „Dreiviertel voll“ an. Ich wurde nervös. Wieviel war denn nun wirklich im Tank? 150 Liter? 90 Liter? Oder sog der gierig saufende Motor gerade in diesem Augenblick den letzten halben Liter Brennstoff in sich hinein, um gleich hustend, würgend abzusterben? Und mich an diesem windlosen Tag einfach vor der Küste auf dem Meer liegen zu lassen, wo es uns eben in der grenzenlosen Weite des Graugrünblau hingetragen hatte?

Ich dachte einen Moment nach. Ich ließ LEVJE einfach unter Motor weiterlaufen. Nahm noch einmal einen Blick ins weite Rund. Alles ringsum frei. Kein Frachter in Sicht, der auf uns zuhält, kein riesiger treibender Baumstamm, der den Propeller beschädigen könnte. Dann ging ich nach unten, in meine Kajüte nach achtern. Räumte das Bett beiseite, suchte mir Werkzeug, einen Schraubenzieher, für das, was ich vorhatte. Ein Boot ist niemals perfekt, es ist etwas fundamental anderes als ein Auto, das uns glauben macht, ES wäre perfekt. ALLES wäre perfekt. Wenn wir ein Auto kaufen, kaufen wir nicht etwas, um von A nach B zu gelangen, nein. In der Sekunde, in der wir uns für ein Auto entscheiden, kaufen wir auch den Traum, ES wäre perfekt. Und unser Leben gleich mit dazu. Im Gegensatz dazu ist ein Boot immer im-perfekt. Irgendwas ist immer kaputt, irgendwas erinnert immer an das Imperfekte unseres Daseins. Meist fragt sich bloß, was als nächstes kaputtgeht. Heute also: Die Tankuhr. Der Tank ist unter meinem Bett eingebaut, ein dickwandiges Edelstahlteil. Wie alles, was die kleine Werft verbaut, die LEVJE II an einem kleinen See bei Salzburg zusammenbaute, ist auch der Tank solide und überdimensioniert. Nacheinander drehe ich an den fünf Schrauben. Da war schon öfter jemand vor mir dran, die Schlitze sind angefressen, die Kupferringe darunter zernagt und zerkaut. Der defekte Fühler im Tank ist also kein neues Problem. Ich löse die Schrauben, eine nach der anderen. Dann sollte sich eigentlich der Tankgeber herausziehen lassen. Ein langes Termometer wie das, was man früher zum Einkochen von Obst und Marmelade verwendete. Tut er aber nicht. Das ist die zweite einfache Wahrheit auf einem Boot. Alles, was jahrelang auf dem Meer unterwegs ist, ist schwer aufzukriegen. Und zu lösen. Die Dinge leisten Widerstand. Muttern, die rostend korrodieren. Schrauben in Alu, die mit der Umwelt galvanisieren. Dichtungsgummis auf Stahl, die vulkanisieren. Alles leistet Widerstand. Teile, die nicht zusammengehören, die durch jahrelanges Aufeinander-Gepresstsein ihre Trennung trotzig aufgegeben haben und sagen: „Na gut. Wenn ihr nicht anders wollt: Dann verkleb’ ich mich halt.“ 

Mein Tankgeber ist von der letzteren Sorte. Er wehrt sich. Eineinhalb Jahrzehnte reichten, um sich mit dem Edelstahl zu verkleben. Er lässt sich nicht lösen. Ich gehe kurz nach oben, noch einmal einen Rundblick zu nehmen, ob ringsum alles frei ist. Und wir nicht in der Dämmerung auf ein ankernden Frachter oder in eine unbeleuchtet auf dem Meer wogende Muschelzucht zulaufen. Aber auch, um kurz Nachzudenken über das klemmende Teil. Ein Boot zwingt zum Nachdenken, wie man dem Problem beikommt, etwas zu lösen. Wie man seine Kraft planvoll einsetzt, statt mit instinktiv angewendeter Gewalt schaden anzurichten, etwas zu zerstören. Mein Tankgeber zickt. Ich wackle hier, ich wackle da. Ich versuche, mit der Kraft meiner Finger das zarte Kunststoffteil in Drehung zu versetzen. Nach einigem Hin und her geht er dann doch auf. Vor mir unter meinem Bett gähnt die Öffnung, in der weit unten in der Schwärze Diesel schwappt, während LEVJEs Motor ihre siebeneinhalb Tonnen weiter durch die unbewegte See schiebt. Ich ziehe an dem dieseltriefenden Teil, Geruch von Heizöl verbreitet sich in meiner Schlafkammer. Ich ziehe weiter an dem Teil, soweit das durch die schmale Öffnung eben geht, versuche die Wippe an dessen unterem Ende zu bewegen. Na bitte. Bewegt sich doch. Ich stecke das Teil zur Kontrolle in die Öffnung – und tatsächlich: Nun zeigt die Tankuhr etwas weniger Diesel an. Aber nur ein klein wenig. Bis Venedig schaffen wir es also heute allemal noch. Ich schraube alles wieder zusammen – doch nicht ohne die Übung zweimal zu absolvieren. Wieder einmal habe ich mir nicht gemerkt, wie die Teile vorher zusammengehörten. Blöd. Wer im Leben etwas zerlegt, sollte sich vorher genau ansehen und merken, wie es vorher im richtigen Zustand aussah. Es ist schwierig, im Leben wieder Dinge so zusammenzubekommen, wie sie einmal waren.

Ich gehe wieder nach oben ins Cockpit, das auf Italienisch „Pozzetto“, „großer Brunnen“ heißt. Das Cock-Pit. Die Hahnenkampf-Grube. Selbstironisch auf Flugzeugen und Schiffen benannt nach dem Ort, wo Gockel miteinander kämpfen. „Pozzetto“ ist da schon angenehmer, es scheint mir passender, wo es doch auf dem Boot eines Einhandseglers keinen anderen Gockel gibt als den in mir selbst, den einzigen, mit dessen Unzulänglichkeiten ich beständig zu kämpfen habe. Es ist nun dunkel um mich herum. Kälte kommt nun schlagartig und beißt hinein, wo ich nur dünne Kleidung trage. Ich versuche, nicht darauf zu achten, mich weiter auf die Schönheit der Welt hier draußen zu konzentrieren. Aber von nun an wiederholt mein Gehirn jede halbe Minute, dass es Zeit ist, unter Deck zu gehen, wärmere Sachen aus dem Schrank zu holen. Weit voraus sehe ich die Lichter, die die Einfahrt in die Lagune von Venedig markieren, durch den Porto di Lido. Blinkende rote Lichter links. Ein blinkendes grünes Licht rechts. Ein langer weißer Blink genau vom Leuchtturm, der weit auf einer Mole von der langen Sandzunge der Punta Sabbioni ins Meer hinausragt. Ein alle 12 Sekunden wiederkehrendes weißes Licht, ettliche Sekunden lang, das bei Nebel auch in die Schwärze der Nacht tutet. „Bliiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiink“, und dann wieder Dunkelheit. Ich bin allein auf dem Meer unterwegs, niemand sonst, so weit ich schauen kann. Nicht dass ich Angst hätte, alles ist ruhig, der Motor tut brummend seine Arbeit. Nichts in der Einsamkeit einer rabenschwarzen Nacht auf dem Meer ist tröstlicher als der Lichtstrahl eines Leuchtturms fünfzig Kilometer entfernt. Es ist, als würde jemand an mich denken, wenn mich der Lichtstrahl erreicht. Der Blink eines Leuchtturms, er wärmt. Du bist nicht allein. 

Eben habe ich noch mit der Marina von Sant’ Elena im Osten Venedigs telefoniert, der Hafen, den ich ansteuere, wo ich in einer Stunde einlaufen will, in der Dunkelheit. Ein Marinaio war dran, Alessio, eine Stimme, die mir ungefragt erklärte, vor dem Hafen sei alles ruhig, kein Wind. „Fida ti“, sagt die Stimme in jenem eigentümlichen Italienisch des Nordens ungefragt, „Vertrau‘ mir“. Alessio scheint sich mit Booten und denen, die auf ihnen unterwegs sind, auszukennen. Er scheint um Schönheit und Schrecken ihrer Einsamkeit auf dem Schiff zu wissen. Und darum, dass ein bisschen Wärme keinem Seemann schaden kann. Ich liebe die Einsamkeit hier draußen, kein Schiff weit und breit, ich bin ein kleines Wesen, verloren und geborgen zugleich in der Weite des anderen Konitnents, der da „Meer“ heißt. Und doch ist das blinkende Licht eines Leuchtturms, die Stimme eines Marinaio in einem Hafen etwas ungeheuer Beruhigendes, Nähe und menschliche Wärme mitten in der Weite dieser anderen Welt, durch deren Dunkel ich mein Schiff und mich bewege.

Wir passieren das große MOSE-Sperrwerk, das Venedig vor den winterlichen Fluten aus dem Süden schützen soll. Die Fluten in Venedig: Noch sind sie ein jahreszeitliches Phänomen und haben wenig mit ansteigenden Meeresspiegeln zu tun. Wie immer entstehen Katastrophen, wenn ein paar Dinge zusammenkommen: Starker Wind aus Süd, der das Wasser die 1.000 Kilometer die Adria hinauf wie auf einer engen Kegelbahn nach Norden gegen das Ufer drückt. Und dort, wo es nicht mehr weiter kann, ansteigen lässt. Der Wind aus Süd, ein Scirocco, ein Libeccio, der tagelangen Regen bringt und die Flüsse in und um die Lagune schwellen lässt. Die Tide, die um die Zeit des Vollmonds das Wasser noch einmal anzieht und steigen lässt. Dagegen also will Venedig sich durch die gewaltigen MOSE-Sperren schützen, ein monströses betönernes Bauwerk, auf dem ich die wenigen Male, die ich nach Venedig segelte, nie Menschen arbeiten, es fertigstellen sah. Nur Fischer treiben sich mit Vorliebe unmittelbar vor den künstlichen Klippen herum. Ein verlassener Kran, taghell erleuchtet. Riesige Betonwände, die in der Kälte hinunterreichen auf 13, 14 Meter unter mir, wo der Meeresboden, wo Sand und Schlick der Lagune beginnen. Wer weiß, wie weit die Fundamente hinunterreichen? Über Wasser erheben sich die Wände wieder knapp zehn Meter, vor der vom Baukran hell erleuchteten grauen Wand hantiert ein Fischer im Dunkel mit dem Netz, sein Körper, seine Bewegungen werfen ein Schattenspiel übermannshoch auf den Beton wie auf eine Kinoleinwand, ein Riese, der da auf der grauen Betonwand in der Nacht sein Unwesen treibt.

Die Einfahrt: Ein langer Kanal blinkender Lichter, ein rotes Lichterkonzert markiert die linke Seite, des Fahrwassers, grüne Lichter die rechte. LEVJE gleitet weiter ins Dunkel der blinkenden Lichter hinein. Wir sind jetzt kurz vor der Abzweigung nach Links, die engste Stelle der Zufahrt nach Venedig, von der Festung San Andrea bewacht. Holzpfähle im Wasser vor den einstigen Scharten der Kannonen. Ein Vaporetto, der wie ein zorniges Insekt aus der Engstelle vor LEVJE’s Bug schießt. Die Ansteuerung eines Liegeplatzes in lichtloser Nacht, die Kunst, im Dunkel an einen schützenden Hafen zu finden, an dem man vorher niemals war, erscheint jedem Außenstehenden wie Magie und Hexenwerk. Wie schafft man das bloß, aus einer weiten, wirren Ansammlung am Ufer blinkender Lichter eine gerade mal zehn Meter messende Lücke zu finden, durch die man den Hafen erreicht? Das, was für Außenstehende Hexenwerk ist, ist mittlerweile Kinderspiel. Ein vierjähriges Kind auf seinem iPAD könnte es. Alles was man braucht, ist eben ein Smartphone oder iPAD. Und eine Software darauf, die 30 Euro kostet. Eine Navigationssoftware. Bevor man los fährt, tippt man mit dem Finger auf irgendeinen Punkt auf der elektronischen Karte, den Startpunkt. Dann tippt man auf den Punkt, mitten in der Insellandschaft der Lagunen, den man ansteuern möchte. Die Software errechnet den sichersten und schnellsten Weg. Um Hafenmolen und Spundwände herum, durch enge Kanäle und sich windende Flusshäfen hindurch, an im Wasser schaukelnden Blinkzeichen, im Dunkel treibenden Muschelfarmen vorbei, unter Leuchttürmen hindurch und an Untiefen und Flachstellen entlang metergenau bis die Hafeneinfahrt in der Schwärze genau vor LEVJE’s Bug liegt. Alles, was ich tun muss, ist hin und wieder auf mein iPAD schauen und LEVJE’s Kurs per Knopfdruck korrigieren, damit wir genau der roten Linie zwischen blinkenden Tonnen und Flachstellen folgen, die mein iPAD vorgibt. Siebeneinhalb Tonnen Schiff, die sich auf Knopfruck drei Grad nach rechts drehen, wenn ich den kleinen grauen Knopf dreimal betätigte. Yachten funktionieren heute nicht anders als Containerschiffe oder Kreuzfahrtriesen. Ein Knopfdruck regelt alles, gibt die Richtung vor. Ein vierjähriges Kind könnte das, dieser Linie, die das iPAD im Dunkel vorgibt, folgen. Was unverändert bleibt, was man braucht, ist unverändert der Wille und der Mut, sich allein hinauszuwagen, im November, in die Dunkelheit. Und in die manchmal beglückende, manchmal raue Fremdheit dieses anderen Wesens, das man „das Meer“ nennt. 

Vielleicht ist dies die Schule, das, was das Meer neben vielen anderen Dingen lehrt. „Unternimm etwas. Nimm Dein Leben selbst in die Hand.“

Kommenden Sonntag der Film im Kino in:

Sonntag 4.12.2016, 11:00 Uhr: Kino P, in Penzberg  

Oder im Download. Als DVD. Hier.

Segeln im Winter (1): Unterwegs nach Venedig.

In dieser Reihe von Posts schreibe ich 
über das Unterwegssein auf dem Meer in diesem Winter. 
Von Orten und Begegnungen auf meiner Winterreise unter Segeln.

Im November, auf dem Weg nach Venedig. Es ist kalt auf LEVJE, windstill. Und es wird Abend. Tagsüber hatte das Wasser die Farbe von tiefem Graugrünblau, ein Farbton, den ich über alles liebe. Am Himmel wich das Grau den Tag über nicht. Aber jetzt am Abend werden sich die Farben ähnlicher und ähnlicher: Seit über einer Stunde verheiratet sich der Himmel mit dem Meer. Sie werden eins. Nuance für Nuance gleichen sich Himmel und Meer in ihrem Aussehen einander an, am Horizont sind sie fast schon verschmolzen. Alles um mich ist in milden Pastelltönen. Ein zartes Graugrünblau des Meeres vor mir. Und neben mir. Ein zartes helles Graublau über mir. Ein heller Oranger Fleck irgendwo in den Wolken, dort wo vor einer Viertelstunde noch Sonne war und nicht mehr ist. Ein Fleck, der schwächer wird und schwächer, bis er verblasst im schwindenden Licht. Die Farben des Himmels und des Meeres, sie nähern sich einander an in dieser Dämmerung, solange, bis das Licht der Nacht gewichen ist. Nacht ist, wenn Meer und Himmel die gleiche Farbe angenommen haben.



Das Graugrünblau der nördlichen Adria um mich. Es gibt ihn nicht überall auf den Meeren der Welt, diesen speziellen Farbton, im Gegenteil. Er ist wie eine rare Schönheit. Er zeigt sich nur dort, wo viele Flüsse und Bäche aus Gebirgen bestimmte Sorten Gesteinsmehl und Sediment ins Meer tragen. Den Farbton: ihn gibt es hier, wo das Meer vor der Küste des Veneto endet und Isonzo, Piave und Tagliamento münden. Es gibt ihn im Südosten vor dem Gargano. Und im Süden Siziliens. 

Dies ist mir die liebste Stunde des Tages. Die Stunde, in der ich ruhig werde, ganz ruhig, wo sich nach einem solchen Tag wohlig Stille und Weite in mir ausbreiten.

Ich bin heute Mittag auf meinem neuen Schiff ausgelaufen. Wie mein erstes Schiff habe ich sie LEVJE getauft. LEVJE II einfach. Ein paar Wochen lagen die beiden Schiffe in stiller Eintracht nebeneinander auf dem Werksgelände der CANTIERE DI SAN GIORGIO. Ein paar Wochen, in denen sich die beiden Schiffe Geschichten erzählten. Über die Menschen, die ihre Eigner waren, ihren Marotten, ihre Vorlieben. Sich gegenseitig etwas zuknarzten auf den Pallböcken, von Meeren und vielleicht auch von zu starker Spannung im Rigg. Aber vor fünf Tagen war dann Schluss mit trauter Zweisamkeit. LEVJE II kam ins Wasser. LEVJE I blieb an Land. Ich packte Kisten. Räumte sie leer. Und zog um.

Nach fünf Tagen Kisten schleppen – man glaubt es kaum, was sich in einem Boot ansammelt, wenn man drei Jahre darauf lebt. Spuren eines Daseins, Relikte, irgendwas – legte ich heute Morgen gegen elf mit LEVJE II ab. Fuhr den langen Kanal durch die Lagunen hinaus. Zum ersten Mal auf meinem neuen Schiff unterwegs. LEVJE II ist ja keine neues Schiff, sie hat 16 Jahre auf dem Buckel, ein Mann aus dem Salzburgischen nutzte sie für Urlaubstörns nach Kroatien, bis er sich neu verliebte. Und die neue Frau das Schiff nicht mochte. LEVJE II stand zwei Jahre ungenutzt auf dem Werftgelände, niemand hauste auf ihr außer den dicken Stinkwanzen, die sich im hohen Sommer durchs Gras zwischen den Industrieanlagen herüber schlichen und sich jetzt in der Novemberkälte in jeder noch so kleinen Ritze auf LEVJE’s Deck in kleinen Rudeln verkriechen. Mit einem Schiff, das solange nicht gesegelt ist, hinauszugehen, ist eine Mutprobe. Wie ein Sprung von einem Zehn-Meter-Brett. Ich bin allein an Bord. Was, wenn irgendetwas kaputt geht? 



Am Ufer gehen die ersten Lichter an. Ich laufe mit meinem Schiff die Küste entlang. Erst sind die Lichter der Uferstraßen nur schwach erkennbar. Sie sind eingebettet in das Graublau des Himmels. Links von mir im Dämmer zieht draußen auf dem Meer etwas Schnelles vorbei und geht vor meinem Bug durch. Ein Fischer, der mit seinem schnellen Gommone dem Hafen von Santa Margherita/Caorle zustrebt. Caorle. Im Sommer: Strandliege reiht sich an Strandliege, Ombrellone an Ombrellone. Caorle jetzt: Der lange Sandstrand gehört den wenigen, die es um diese Stunde hinaustreibt, barfuß durch den schweren Sand zu treten, eine lange Wanderung zu unternehmen.

Die Lichter am Land werden greller. Sind schärfer konturiert. Von der Sonne ist nichts geblieben als der leuchtend oranger Fleck am Himmel und sein Abbild auf dem riesigen Spiegel, auf dem ich mit LEVJE unterwegs bin.

Am Nachmittag gab es Schwierigkeiten. Bei Kontrolle der Instrumente stellte ich fest, dass sich der Zeiger der Tankuhr nicht bewegte. Nach vier Stunden strammer Fahrt unter Motor sollte er das. Er sollte anzeigen, dass nun eben weniger Diesel im Tank ist. Aber das tat er nicht. Er zeigte beständig „Dreiviertel voll“ an. Ich wurde nervös. Wieviel war denn nun wirklich im Tank? 150 Liter? 90 Liter? Oder sog der gierig saufende Motor gerade in diesem Augenblick den letzten halben Liter Brennstoff in sich hinein, um gleich hustend, würgend abzusterben? Und mich an diesem windlosen Tag einfach vor der Küste auf dem Meer liegen zu lassen, wo es uns eben in der grenzenlosen Weite des Graugrünblau hingetragen hatte?

Ich dachte einen Moment nach. Ich ließ LEVJE einfach unter Motor weiterlaufen. Nahm noch einmal einen Blick ins weite Rund. Alles ringsum frei. Kein Frachter in Sicht, der auf uns zuhält, kein riesiger treibender Baumstamm, der den Propeller beschädigen könnte. Dann ging ich nach unten, in meine Kajüte nach achtern. Räumte das Bett beiseite, suchte mir Werkzeug, einen Schraubenzieher, für das, was ich vorhatte. Ein Boot ist niemals perfekt, es ist etwas fundamental anderes als ein Auto, das uns glauben macht, ES wäre perfekt. ALLES wäre perfekt. Wenn wir ein Auto kaufen, kaufen wir nicht etwas, um von A nach B zu gelangen, nein. In der Sekunde, in der wir uns für ein Auto entscheiden, kaufen wir auch den Traum, ES wäre perfekt. Und unser Leben gleich mit dazu. Im Gegensatz dazu ist ein Boot immer im-perfekt. Irgendwas ist immer kaputt, irgendwas erinnert immer an das Imperfekte unseres Daseins. Meist fragt sich bloß, was als nächstes kaputtgeht. Heute also: Die Tankuhr. Der Tank ist unter meinem Bett eingebaut, ein dickwandiges Edelstahlteil. Wie alles, was die kleine Werft verbaut, die LEVJE II an einem kleinen See bei Salzburg zusammenbaute, ist auch der Tank solide und überdimensioniert. Nacheinander drehe ich an den fünf Schrauben. Da war schon öfter jemand vor mir dran, die Schlitze sind angefressen, die Kupferringe darunter zernagt und zerkaut. Der defekte Fühler im Tank ist also kein neues Problem. Ich löse die Schrauben, eine nach der anderen. Dann sollte sich eigentlich der Tankgeber herausziehen lassen. Ein langes Termometer wie das, was man früher zum Einkochen von Obst und Marmelade verwendete. Tut er aber nicht. Das ist die zweite einfache Wahrheit auf einem Boot. Alles, was jahrelang auf dem Meer unterwegs ist, ist schwer aufzukriegen. Und zu lösen. Die Dinge leisten Widerstand. Muttern, die rostend korrodieren. Schrauben in Alu, die mit der Umwelt galvanisieren. Dichtungsgummis auf Stahl, die vulkanisieren. Alles leistet Widerstand. Teile, die nicht zusammengehören, die durch jahrelanges Aufeinander-Gepresstsein ihre Trennung trotzig aufgegeben haben und sagen: „Na gut. Wenn ihr nicht anders wollt: Dann verkleb’ ich mich halt.“ 

Mein Tankgeber ist von der letzteren Sorte. Er wehrt sich. Eineinhalb Jahrzehnte reichten, um sich mit dem Edelstahl zu verkleben. Er lässt sich nicht lösen. Ich gehe kurz nach oben, noch einmal einen Rundblick zu nehmen, ob ringsum alles frei ist. Und wir nicht in der Dämmerung auf ein ankernden Frachter oder in eine unbeleuchtet auf dem Meer wogende Muschelzucht zulaufen. Aber auch, um kurz Nachzudenken über das klemmende Teil. Ein Boot zwingt zum Nachdenken, wie man dem Problem beikommt, etwas zu lösen. Wie man seine Kraft planvoll einsetzt, statt mit instinktiv angewendeter Gewalt schaden anzurichten, etwas zu zerstören. Mein Tankgeber zickt. Ich wackle hier, ich wackle da. Ich versuche, mit der Kraft meiner Finger das zarte Kunststoffteil in Drehung zu versetzen. Nach einigem Hin und her geht er dann doch auf. Vor mir unter meinem Bett gähnt die Öffnung, in der weit unten in der Schwärze Diesel schwappt, während LEVJEs Motor ihre siebeneinhalb Tonnen weiter durch die unbewegte See schiebt. Ich ziehe an dem dieseltriefenden Teil, Geruch von Heizöl verbreitet sich in meiner Schlafkammer. Ich ziehe weiter an dem Teil, soweit das durch die schmale Öffnung eben geht, versuche die Wippe an dessen unterem Ende zu bewegen. Na bitte. Bewegt sich doch. Ich stecke das Teil zur Kontrolle in die Öffnung – und tatsächlich: Nun zeigt die Tankuhr etwas weniger Diesel an. Aber nur ein klein wenig. Bis Venedig schaffen wir es also heute allemal noch. Ich schraube alles wieder zusammen – doch nicht ohne die Übung zweimal zu absolvieren. Wieder einmal habe ich mir nicht gemerkt, wie die Teile vorher zusammengehörten. Blöd. Wer im Leben etwas zerlegt, sollte sich vorher genau ansehen und merken, wie es vorher im richtigen Zustand aussah. Es ist schwierig, im Leben wieder Dinge so zusammenzubekommen, wie sie einmal waren.

Ich gehe wieder nach oben ins Cockpit, das auf Italienisch „Pozzetto“, „großer Brunnen“ heißt. Das Cock-Pit. Die Hahnenkampf-Grube. Selbstironisch auf Flugzeugen und Schiffen benannt nach dem Ort, wo Gockel miteinander kämpfen. „Pozzetto“ ist da schon angenehmer, es scheint mir passender, wo es doch auf dem Boot eines Einhandseglers keinen anderen Gockel gibt als den in mir selbst, den einzigen, mit dessen Unzulänglichkeiten ich beständig zu kämpfen habe. Es ist nun dunkel um mich herum. Kälte kommt nun schlagartig und beißt hinein, wo ich nur dünne Kleidung trage. Ich versuche, nicht darauf zu achten, mich weiter auf die Schönheit der Welt hier draußen zu konzentrieren. Aber von nun an wiederholt mein Gehirn jede halbe Minute, dass es Zeit ist, unter Deck zu gehen, wärmere Sachen aus dem Schrank zu holen. Weit voraus sehe ich die Lichter, die die Einfahrt in die Lagune von Venedig markieren, durch den Porto di Lido. Blinkende rote Lichter links. Ein blinkendes grünes Licht rechts. Ein langer weißer Blink genau vom Leuchtturm, der weit auf einer Mole von der langen Sandzunge der Punta Sabbioni ins Meer hinausragt. Ein alle 12 Sekunden wiederkehrendes weißes Licht, ettliche Sekunden lang, das bei Nebel auch in die Schwärze der Nacht tutet. „Bliiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiink“, und dann wieder Dunkelheit. Ich bin allein auf dem Meer unterwegs, niemand sonst, so weit ich schauen kann. Nicht dass ich Angst hätte, alles ist ruhig, der Motor tut brummend seine Arbeit. Nichts in der Einsamkeit einer rabenschwarzen Nacht auf dem Meer ist tröstlicher als der Lichtstrahl eines Leuchtturms fünfzig Kilometer entfernt. Es ist, als würde jemand an mich denken, wenn mich der Lichtstrahl erreicht. Der Blink eines Leuchtturms, er wärmt. Du bist nicht allein. 

Eben habe ich noch mit der Marina von Sant’ Elena im Osten Venedigs telefoniert, der Hafen, den ich ansteuere, wo ich in einer Stunde einlaufen will, in der Dunkelheit. Ein Marinaio war dran, Alessio, eine Stimme, die mir ungefragt erklärte, vor dem Hafen sei alles ruhig, kein Wind. „Fida ti“, sagt die Stimme in jenem eigentümlichen Italienisch des Nordens ungefragt, „Vertrau‘ mir“. Alessio scheint sich mit Booten und denen, die auf ihnen unterwegs sind, auszukennen. Er scheint um Schönheit und Schrecken ihrer Einsamkeit auf dem Schiff zu wissen. Und darum, dass ein bisschen Wärme keinem Seemann schaden kann. Ich liebe die Einsamkeit hier draußen, kein Schiff weit und breit, ich bin ein kleines Wesen, verloren und geborgen zugleich in der Weite des anderen Konitnents, der da „Meer“ heißt. Und doch ist das blinkende Licht eines Leuchtturms, die Stimme eines Marinaio in einem Hafen etwas ungeheuer Beruhigendes, Nähe und menschliche Wärme mitten in der Weite dieser anderen Welt, durch deren Dunkel ich mein Schiff und mich bewege.

Wir passieren das große MOSE-Sperrwerk, das Venedig vor den winterlichen Fluten aus dem Süden schützen soll. Die Fluten in Venedig: Noch sind sie ein jahreszeitliches Phänomen und haben wenig mit ansteigenden Meeresspiegeln zu tun. Wie immer entstehen Katastrophen, wenn ein paar Dinge zusammenkommen: Starker Wind aus Süd, der das Wasser die 1.000 Kilometer die Adria hinauf wie auf einer engen Kegelbahn nach Norden gegen das Ufer drückt. Und dort, wo es nicht mehr weiter kann, ansteigen lässt. Der Wind aus Süd, ein Scirocco, ein Libeccio, der tagelangen Regen bringt und die Flüsse in und um die Lagune schwellen lässt. Die Tide, die um die Zeit des Vollmonds das Wasser noch einmal anzieht und steigen lässt. Dagegen also will Venedig sich durch die gewaltigen MOSE-Sperren schützen, ein monströses betönernes Bauwerk, auf dem ich die wenigen Male, die ich nach Venedig segelte, nie Menschen arbeiten, es fertigstellen sah. Nur Fischer treiben sich mit Vorliebe unmittelbar vor den künstlichen Klippen herum. Ein verlassener Kran, taghell erleuchtet. Riesige Betonwände, die in der Kälte hinunterreichen auf 13, 14 Meter unter mir, wo der Meeresboden, wo Sand und Schlick der Lagune beginnen. Wer weiß, wie weit die Fundamente hinunterreichen? Über Wasser erheben sich die Wände wieder knapp zehn Meter, vor der vom Baukran hell erleuchteten grauen Wand hantiert ein Fischer im Dunkel mit dem Netz, sein Körper, seine Bewegungen werfen ein Schattenspiel übermannshoch auf den Beton wie auf eine Kinoleinwand, ein Riese, der da auf der grauen Betonwand in der Nacht sein Unwesen treibt.

Die Einfahrt: Ein langer Kanal blinkender Lichter, ein rotes Lichterkonzert markiert die linke Seite, des Fahrwassers, grüne Lichter die rechte. LEVJE gleitet weiter ins Dunkel der blinkenden Lichter hinein. Wir sind jetzt kurz vor der Abzweigung nach Links, die engste Stelle der Zufahrt nach Venedig, von der Festung San Andrea bewacht. Holzpfähle im Wasser vor den einstigen Scharten der Kannonen. Ein Vaporetto, der wie ein zorniges Insekt aus der Engstelle vor LEVJE’s Bug schießt. Die Ansteuerung eines Liegeplatzes in lichtloser Nacht, die Kunst, im Dunkel an einen schützenden Hafen zu finden, an dem man vorher niemals war, erscheint jedem Außenstehenden wie Magie und Hexenwerk. Wie schafft man das bloß, aus einer weiten, wirren Ansammlung am Ufer blinkender Lichter eine gerade mal zehn Meter messende Lücke zu finden, durch die man den Hafen erreicht? Das, was für Außenstehende Hexenwerk ist, ist mittlerweile Kinderspiel. Ein vierjähriges Kind auf seinem iPAD könnte es. Alles was man braucht, ist eben ein Smartphone oder iPAD. Und eine Software darauf, die 30 Euro kostet. Eine Navigationssoftware. Bevor man los fährt, tippt man mit dem Finger auf irgendeinen Punkt auf der elektronischen Karte, den Startpunkt. Dann tippt man auf den Punkt, mitten in der Insellandschaft der Lagunen, den man ansteuern möchte. Die Software errechnet den sichersten und schnellsten Weg. Um Hafenmolen und Spundwände herum, durch enge Kanäle und sich windende Flusshäfen hindurch, an im Wasser schaukelnden Blinkzeichen, im Dunkel treibenden Muschelfarmen vorbei, unter Leuchttürmen hindurch und an Untiefen und Flachstellen entlang metergenau bis die Hafeneinfahrt in der Schwärze genau vor LEVJE’s Bug liegt. Alles, was ich tun muss, ist hin und wieder auf mein iPAD schauen und LEVJE’s Kurs per Knopfdruck korrigieren, damit wir genau der roten Linie zwischen blinkenden Tonnen und Flachstellen folgen, die mein iPAD vorgibt. Siebeneinhalb Tonnen Schiff, die sich auf Knopfruck drei Grad nach rechts drehen, wenn ich den kleinen grauen Knopf dreimal betätigte. Yachten funktionieren heute nicht anders als Containerschiffe oder Kreuzfahrtriesen. Ein Knopfdruck regelt alles, gibt die Richtung vor. Ein vierjähriges Kind könnte das, dieser Linie, die das iPAD im Dunkel vorgibt, folgen. Was unverändert bleibt, was man braucht, ist unverändert der Wille und der Mut, sich allein hinauszuwagen, im November, in die Dunkelheit. Und in die manchmal beglückende, manchmal raue Fremdheit dieses anderen Wesens, das man „das Meer“ nennt. 

Vielleicht ist dies die Schule, das, was das Meer neben vielen anderen Dingen lehrt. „Unternimm etwas. Nimm Dein Leben selbst in die Hand.“

Kommenden Sonntag der Film im Kino in:

Sonntag 4.12.2016, 11:00 Uhr: Kino P, in Penzberg  

Oder im Download. Als DVD. Hier.

Segeln im Winter (1): Unterwegs nach Venedig.

In dieser Reihe von Posts schreibe ich 
über das Unterwegssein auf dem Meer in diesem Winter. 
Von Orten und Begegnungen auf meiner Winterreise unter Segeln.

Im November, auf dem Weg nach Venedig. Es ist kalt auf LEVJE, windstill. Und es wird Abend. Tagsüber hatte das Wasser die Farbe von tiefem Graugrünblau, ein Farbton, den ich über alles liebe. Am Himmel wich das Grau den Tag über nicht. Aber jetzt am Abend werden sich die Farben ähnlicher und ähnlicher: Seit über einer Stunde verheiratet sich der Himmel mit dem Meer. Sie werden eins. Nuance für Nuance gleichen sich Himmel und Meer in ihrem Aussehen einander an, werden sich ähnlicher und ähnlicher. Alles um mich ist ist in milden Pastelltönen. Ein zartes Graugrünblau des Meeres vor mir. Und neben mir. Ein zartes helles Graublau über mir. Ein heller Oranger Fleck irgendwo in den Wolken, dort wo vor einer Viertelstunde noch Sonne war und nicht mehr ist. Ein Fleck, der schwächer wird und schwächer, bis er verblasst im schwindenden Licht. Die Farben des Himmels und des Meeres, sie nähern sich einander an in dieser Dämmerung, bis sie schließlich eins sind. Nacht ist, wenn Meer und Himmel die gleiche Farbe angenommen haben.



Das Graugrünblau der nördlichen Adria um mich. Es gibt ihn nicht überall auf den Meeren der Welt, diesen speziellen Farbton, im Gegenteil. Er ist irgendwie eine rare Schönheit. Zeigt sich nur dort, wo viele Flüsse und Bäche aus Gebirgen bestimmte Sorten Gesteinsmehl und Sediment ins Meer tragen. Den Farbton: ihn gibt es hier, wo das Meer vor der Küste des Veneto endet und Isonzo, Piave und Tagliamento münden. Es gibt ihn im Südosten vor dem Gargano. Und im Süden Siziliens. 

Dies ist mir die liebste Stunde des Tages. Die Stunde, in der ich ruhig werde, ganz ruhig, sich an einem solchen Tag wohlig Stille und Weite in mir ausbreiten.

Ich bin heute Mittag auf meinem neuen Schiff ausgelaufen. Wie mein erstes Schiff habe ich sie LEVJE getauft. LEVJE II einfach. Ein paar Wochen lagen die beiden Schiffe in stiller Eintracht nebeneinander auf dem Werksgelände der CANTIERE DI SAN GIORGIO. Ein paar Wochen, in denen sich die beiden Schiffe Geschichten erzählten. Über die Menschen, die ihre Eigner waren, ihren Marotten, ihre Vorlieben. Aber vor fünf Tagen war dann Schluss mit trauter Zweisamkeit. LEVJE II kam ins Wasser. LEVJE I blieb an Land. Ich packte Kisten. Räumte sie leer. Und zog um.

Nach fünf Tagen Kisten schleppen – man glaubt es kaum, was sich in einem Boot ansammelt, wenn man drei Jahre darauf lebt. Spuren eines Daseins, Relikte, irgendwas – legte ich heute Morgen gegen elf mit LEVJE II ab. Fuhr den langen Kanal durch die Lagunen hinaus. Zum ersten Mal mit einem neuen Schiff unterwegs. LEVJE II ist ja keine neues Schiff, sie hat 16 Jahre auf dem Buckel, ein Mann aus dem Salzburgischen nutzte sie für Urlaubstörns nach Kroatien, bis er sich neu verliebte. Und die neue Frau das Schiff nicht mochte. LEVJE II stand zwei Jahre ungenutzt auf dem Werftgelände, niemand hauste auf ihr außer den dicken Stinkwanzen, die sich im hohen Sommer durchs Gras zwischen den Industrieanlagen herüber schlichen und sich jetzt in der Novemberkälte in jeder noch so kleinen Ritze auf LEVJE’s Deck in Scharen verkriechen. Mit einem Schiff, das solange nicht gesegelt ist, hinauszugehen, ist eine Mutprobe. Wie ein Sprung von einem Zehn-Meter-Brett. Ich bin allein an Bord. Was, wenn irgendetwas kaputt geht? 



Am Ufer gehen die ersten Lichter an. Ich laufe mit meinem Schiff die Küste entlang. Erst sind die Lichter der Uferstraßen nur schwach erkennbar. Sie sind eingebettet in das Graublau des Himmels. Links von mir im Dämmer zieht draußen auf dem Meer etwas Schnelles vorbei und geht vor meinem Bug durch. Ein Fischer vielleicht, der mit seinem schnellen Gommone dem Hafen von Santa Margherita/Caorle zustrebt. Caorle. Im Sommer: Strandliege reiht sich an Strandliege, Ombrellone an Ombrellone. Caorle jetzt: Der lange Sandstrand gehört den wenigen, die es um diese Stunde hinaustreibt, barfuß eine lange Wanderung zu unternehmen.

Die Lichter am Land werden greller. Sind schärfer konturiert. Von der Sonne ist nichts geblieben als ein leuchtend oranger Fleck am Himmel und sein Spiegelbild auf dem riesigen Spiegel, auf dem ich mit LEVJE unterwegs bin.

Am Nachmittag gab es Schwierigkeiten. Bei Kontrolle der Instrumente stellte ich fest, dass sich der Zeiger der Tankuhr nicht bewegte. Nach vier Stunden strammer Fahrt unter Motor sollte er das. Er sollte anzeigen, dass nun eben weniger Diesel im Tank ist. Aber das tat er nicht. Er zeigte beständig „Dreiviertel voll“ an. Ich wurde nervös. Wieviel war denn nun wirklich im Tank? 150 Liter? 90 Liter? Oder sog der gierig saufende Motor gerade den letzten halben Liter Brennstoff in sich hinein, um gleich hustend, würgend abzusterben? Und mich an diesem windlosen Tag einfach vor der Küste am dem Meer liegen zu lassen, wo es uns eben in der grenzenlosen Weite des Graugrünblau hingetragen hatte?

Ich dachte einen Moment nach. Ich ließ LEVJE einfach unter Motor weiterlaufen. Nahm noch einmal einen Blick ins weite Rund. Alles ringsum frei. Dann ging ich nach unten, in meine Kajüte nach achtern. Räumte das Bett beiseite, suchte mir Werkzeug, einen Schraubenzieher, für das, was ich vorhatte. Ein Boot ist niemals perfekt, es ist etwas fundamental anderes als ein Auto, das uns glauben macht, ES wäre perfekt. ALLES wäre perfekt. Wenn wir ein Auto kaufen, kaufen wir nicht etwas, um von A nach B zu gelangen, nein. In der Sekunde, in der wir uns für ein Auto entscheiden, kaufen wir auch den Traum, ES wäre perfekt. Und unser Leben gleich mit dazu. Im Gegensatz dazu ist ein Boot immer im-perfekt. Irgendwas ist immer kaputt, irgendwas erinnert immer an das Imperfekte unseres Daseins. Meist fragt sich bloß, was als nächstes kaputtgeht. Heute also: Die Tankuhr. Der Tank ist unter meinem Bett eingebaut, ein dickwandiges Edelstahlteil. Wie alles, was die kleine Werft verbaut, die LEVJE II an einem kleinen See bei Salzburg zusammenbaute, ist auch der Tank solide und überdimensioniert. Nacheinander drehe ich an den fünf Schrauben. Da war schon öfter jemand vor mir dran, die Schlitze sind angefressen, die Kupferringe darunter zernagt und zerkaut. Der Fühler im Tank ist also kein neues Problem. Ich löse die Schrauben, eine nach der anderen. Dann sollte sich eigentlich der Tankgeber herausziehen lassen. Ein langes Termometer wie das, was man früher zum Einkochen von Obst und Marmelade verwendete. Tut er aber nicht. Das ist die zweite einfache Wahrheit auf einem Boot. Alles, was jahrelang auf dem Meer unterwegs ist, ist schwer aufzukriegen. Und zu lösen. Die Dinge leisten Widerstand. Muttern, die rostend korrodieren. Schrauben in Alu, die mit der Umwelt galvanisieren. Dichtungsgummis auf Stahl, die vulkanisieren. Alles leistet Widerstand. Teile, die nicht zusammengehören, die durch jahrelanges Aufeinander-Gepresstsein ihre Trennung trotzig aufgegeben haben und sagen: „Na gut. Wenn ihr nicht anders wollt: Dann verkleb’ ich mich halt.“ 

Mein Tankgeber ist von der letzteren Sorte. Er wehrt sich. Er hat sich verklebt. Er lässt sich nicht lösen. Ich gehe kurz nach oben, noch einemal einen Rundblick zu nehmen, ob ringsum alles frei ist. Und wir nicht in der Dämmerung auf ein ankernden Frachter oder eine unbeleuchtete Muschelzucht zulaufen. Aber auch um kurz Nachzudenken über das klemmende Teil. Ein Boot zwingt zum Nachdenken, wie man dem Problem beikommt, etwas zu lösen. Wie man seine Kraft planvoll einsetzt, statt mit instinktiv angewendeter Gewalt etwas zu zerstören. Mein Tankgeber zickt. Ich wackle hier, ich wackle da. Ich versuche, mit der Kraft meiner Finger das zarte Kunststoffteil in Drehung zu versetzen. Nach einigem Hin und her geht er dann doch auf. Vor mir unter meinem Bett gähnt die Öffnung, in der weit unten in Schwärze Diesel schwappt, während LEVJEs Motor ihre siebeneinhalb Tonnen weiter durch die unbewegte See schiebt. Ich ziehe an dem dieseltriefenden Teil, Geruch von Heizöl verbreitet sich in meiner Schlafkammer im Heck. Ich ziehe weiter an dem Teil, soweit das durch die schmale Öffnung eben geht, versuche die Wippe an dessen unterem Ende zu bewegen. Na bitte. Bewegt sich doch. Ich stecke das Teil zur Kontrolle in die Öffnung – und tatsächlich: Nun zeigt die Tankuhr etwas weniger Diesel an. Aber nur ein klein wenig. Bis Venedig schaffen wir es also heute allemal noch. Ich schraube alles wieder zusammen – doch nicht ohne die Übung zweimal zu absolvieren. Wieder einmal habe ich mir nicht gemerkt, wie die Teile vorher zusammengehörten. Blöd. Wer im Leben etwas zerlegt, sollte sich vorher genau ansehen und merken, wie es vorher im richtigen Zustand aussah.

Ich gehe wieder nach oben ins Cockpit, das auf Italienisch „Pozzetto“, „großer Brunnen“ heißt. Cock-Pit. Die Hahnenkampf-Grube. Selbstironisch auf Flugzeugen und Schiffen benannt nach dem Ort, wo Gockel kämpfen. „Pozzetto“ ist da schon angenehmer, es scheint mir passender, wo es doch auf dem Boot eines Einhandseglers keinen anderen Gockel gibt als den in mir selbst, gegen den es zu beständig zu kämpfen gilt. Es ist nun dunkel um mich herum. Kälte kommt nun schlagartig und beißt hinein, wo ich nur dünne Kleidung trage. Ich versuche es zu ignorieren. Aber jede halbe Minute wiederholt mein Gehirn, dass es Zeit ist, unter Deck zu gehen, wärmere Sachen aus dem Schrank zu holen. Weit voraus sehe ich die Lichter, die die Einfahrt in den Porto di Lido markieren. Blinkende rote Lichter links. ein blinkendes grünes Licht rechts. Ein langer weißer Blink genau vom Leuchtturm, der weit auf einer Mole von der langen Sandzunge der Punta Sabbioni ins Meer hinausragt. Ein alle 12 Sekunden wiederkehrendes weißes Licht, ettliche Sekunden lang, das bei Nebel auch in die Schwärze der Nacht tutet. „Bliiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiink“, und dann wieder Dunkelheit. Ich bin allein auf dem Meer unterwegs, niemand sonst, so weit ich schauen kann. Nicht dass ich Angst hätte, alles ist ruhig, der Motor tut brummend seine Arbeit. Nichts in der Einsamkeit einer rabenschwarzen Nacht auf dem Meer ist tröstlicher als der Lichtstrahl eines Leuchtturms fünfzig Kilometer entfernt. Es ist, als würde jemand an mich denken, wenn mich der Lichtstrahl erreicht. Der Blink eines Leuchtturms, er wärmt. Du bist nicht allein. 

Eben habe ich noch mit der Marina von Sant’ Elena im Osten Venedigs telefoniert, der Hafen, den ich ansteuere, wo ich in einer Stunde einlaufen will, in der Dunkelheit. Ein Marinaio war dran, Alessio, eine Stimme, die mir ungefragt erklärte, vor dem Hafen sei alles ruhig, kein Wind. „Fida ti“, sagt die Stimme ungefragt, „vertrau mir“. Alessio scheint sich mit Booten und denen, die auf ihnen unterwegs sind, auszukennen. Er scheint um Schönheit und Schrecken ihrer Einsamkeit auf dem Schiff zu wissen. Und darum, dass ein bisschen Wärme keinem Seemann schaden kann. Ich liebe die Einsamkeit hier draußen, kein Schiff weit und breit, ich bin ein kleines Wesen, verloren und geborgen zugleich in der Weite des anderen Konitnents, der da „Meer“ heißt. Und doch ist das blinkende Licht eines Leuchtturms, die Stimme eines Marinaio in einem Hafen etwas ungeheuer Beruhigendes, Nähe und menschliche Wärme mitten in der Weite dieser anderen Welt, in deren Dunkel ich mein Schiff und mich bewege.

Wir passieren im Dunkel das große Sperrwerk, das Venedig vor den winterlichen Fluten aus dem Süden schützen soll. Die Fluten in Venedig: Noch sind sie ein jahreszeitliches Phänomen und haben wenig mit ansteigenden Meeresspiegeln zu tun. Wie immer entstehen Katastrophen, wenn ein paar Dinge zusammenkommen. Starker Wind aus Süd, der das Wasser die 1.000 Kilometer die Adria hinauf wie auf einer engen Kegelbahn nach Norden gegen das Ufer drückt. Und dort, wo es nicht mehr weiter kann, ansteigen lässt. Der Wind aus Süd, ein Scirocco oder Libeccio¿¿¿¿, der tagelangen Regen bringt und die Flüsse in und um die Lagune anschwellen lässt. Die Tide, die um die Zeit des Vollmonds das Wasser noch einmal anzieht und nach oben steigen lässt. Dagegen also will Venedig sich mit dem gewaltigen MOSE¿¿¿-Sperrwerk schützen, ein monströses betönernes Bauwerk, auf dem ich die wenigen Male, die ich nach Venedig segelte, nie Menschen arbeiten, es fertigstellen sah. Nur Fischer treiben sich mit Vorliebe unmittelbar vor den künstlichen Klippen herum. Ein verlassener Kran, taghell erleuchtet. Riesige Betonwände, die in der Kälte hinunterreichen auf 13, 14 Meter unter mir, wo der Meeresboden, wo Sand und Schlick der Lagune beginnen. Wer weiß, wie weit die Fundamente hinunterreichen? Über Wasser erheben sich die Wände wieder knapp zehn Meter, vor der vom Baukran hell erleuchteten grauen Wand hantiert ein Fischer im Dunkel mit dem Netz, sein Körper, seine Bewegungen werfen ein Schattenspiel übermannshoch auf den Beton wie auf eine Kinoleinwand, ein Riese, der da in der Nacht sein Tun und Treiben als Schatten an die Wand wirft.

Die Einfahrt: ein langer Kanal blinkender Lichter, ein rotes Lichterkonzert markiert die linke Seite, des Fahrwassers, grüne Lichter die rechte. LEVJE gleitet weiter ins Dunkel der blinkenden Lichter hinein. Wir sind jetzt kurz vor der Abzweigung nach Links, die engste Stelle der Zufahrt nach Venedig, die die Festung San Andrea bewacht. Holzpfähle im Wasser vor den einstigen Scharten der Kannonen. Ein Vaporetto, der wie ein zorniges Insekt aus der Engstelle vor LEVJE’s Bug zieht. Die Ansteuerung eines Liegeplatzes in lichtloser Nacht, die Kunst, im Dunkel an einen schützenden Hafen zu finden, an dem man vorher niemals war, erscheint jedem Außenstehenden wie Magie und Hexenwerk. Wie schafft man das bloß, aus einer wirren Ansammlung am Ufer blinkender Lichter eine gerade mal zehn Meter messende Lücke zu finden, durch die man den Hafen erreicht? Das, was für Außenstehende Hexenwerk ist, ist mittlerweile Kinderspiel. Ein vierjähriges Kind auf seinem iPAD könnte es. Alles was man braucht, ist eben ein Smartphone oder iPAD. Und eine Software darauf, die 30 Euro kostet. Eine Navigationssoftware. Bevor man los fährt, tippt man mit dem Finger auf irgendeinen Punkt auf der elektronischen Karte, den Startpunkt. Dann tippt man auf den Punkt, mitten in der Insellandschaft der Lagunen, den man ansteuern möchte. Die Software errechnet den sichersten und chnellsten Weg. Um Hafenmolen und Spundwände herum, durch enge Kanäle und sich windende Flusshäfen hindurch, an im Wasser schaukelnden Blinkzeichen, im Dunkel treibenden Muschelfarmen vorbei, unter Leuchttürmen hindurch und an Untiefen  und Flachstellen entlang metergenau bis die Hafeneinfahrt in der Schwärze genau vor LEVJE’s Bug liegt. Alles, was ich tun muss, ist hin und wieder auf mein iPAD schauen und LEVJE’s Kurs per Knopfdruck korrigieren, damit wir genau der roten Linie zwischen blinkenden Tonnen und Flachstellen folgen, die mein iPAD vorgibt. Siebeneinhalb Tonnen Schiff, die sich auf Knopfruck drei Grad nach rechts drehen, wenn ich den kleinen grauen Knopf dreimal betätigte. Yachten funktionieren heute nicht anders als Containerschiffe oder Kreuzfahrtriesen. Ein Knopfdruck regelt alles, gibt die Richtung vor. Ein vierjähriges Kind könnte das, dieser Linie, die das iPAD im Dunkel vorgibt, folgen. Was unverändert bleibt, was man braucht, ist unverändert der Wille und der Mut, sich allein hinauszuwagen, im November, in die Dunkelheit. Und in Fremdheit dieses anderen Wesens, das man „das Meer“ nennt. 

Vielleicht ist dies die Schule, das was das Meer neben vielen anderen Dingen lehrt. „Unternimm etwas. Nimm Dein Leben selbst in die Hand.“

Kommenden Sonntag der Film im Kino in:

Sonntag 4.12.2016, 11:00 Uhr: Kino P, in Penzberg  

Oder im Download. Als DVD. Hier.

HANSEBOOT Tag 3: Übernachten auf dem Boot. Wie auf dem Boot ein neues Buch entsteht. Und: Bootsnächte in Hamburg. Bootsnächte in Venedig. Ein Vergleich.

Auf der HANSEBOOT 2016 nächtigten wir von millemari.
nicht im Hotel, sondern auf einer 28er DUFOUR, 
einer 8-Meter-Segelyacht im Hamburger Hafen. 
Wie das so ist im November, welchen Menschen man im Hafen begegnet, 
darüber geht diese Reihe von Posts von der HANSEBOOT 2016.

1. Aufwachen. Und Aufstehen. Auf dem Boot.

Stellen wir uns an einem Morgen wie diesem – Außentemperatur etwa 6 Grad, drinnen auf Klaus‘ LA MER nicht viel mehr, und drüber Nebel – die Frage: Was macht ein Leben wirklich lebenswert?

Und? Ist Ihnen etwas eingefallen? Denken Sie nach… und merken Sie sich Ihre Antwort.

Beginnen wir mit einer Hypothese: Am richtigen Ort sein ist wichtig. Dem Ort, an dem man sich zuhause fühlt. Dem Ort, an dem vor allem unsere Sehnsüchte wachsen und gedeihen können. Wenn wir Wünsche haben, fühlen wir uns am Leben. Auf Klaus‘ Boot in Hamburg fühlte ich mich am Leben. Das Gefühl, jederzeit ablegen zu können, auch wenn es draußen gerade lumpige sechs Grad über Null hat und der Ebbstrom im Hamburger Hafen gerade mit zweieinhalb Knoten an LA MERs Festmachern rüttelt. Was macht das schon. Der morgendliche Gang Richtung Dusche, zehn Minuten über die nebelklamme, knarzende Pier. Und unter die Brause erst mit heißem, dann eiskalten Wasser.

Fürs Frühstück lernte ich im Hamburger Hafen, ein paar Schritt hinauf von LA MER Richtung Baumwall, etwas Nettes kennen und lieben. Es heißt: Franzbrötchen. Es sieht aus wie ein Croissant. Es ist innen auch so. Es ist außen platt gewalzt. Und es ist dummerweise in karamelisiertem Zucker gebadet. Der nette Trost meines Morgens, mit Blick auf den Hamburger Hafen, bevor es an die Arbeit geht.

 2. Arbeiten auf dem Boot: Wie millemari.’s neues Buch STURMSEGELN entsteht.

Es ist schon eine Weile her, dass Susanne Guidera in den Communities und Segelforen um Beiträge  zum Thema STURMSEGELN bat und dazu aufrief, uns für ein gleichnamiges Buchprojekt ihre Erlebnisse in Sturm und Starkwind zu schicken. Mittlerweile sind über 50 Beiträge eingegangen, eine enorme Anzahl, und es gilt jetzt, nach dem Erfolg von GEWITTERSEGELN eine geeignete Gliederung zu finden. Denn eines ist klar: Ein zweites Projekt in genau dem gleichen Stil wie das erfolgreiche Buch GEWITTERSEGELN aufzusetzen, wird nicht unbedingt ein Hit. Das haben uns auch erste Vorgespräche mit den Segelzeitschriften, allen voran der YACHT, klargemacht. Ein Gewitter kommt, wie es kommt. In Sturm und Starkwind kann man etwas tun. Immer.

Also machen sich Susanne und ich auf LA MER an erste Vorgespräche, wie denn das Thema aufzuziehen wäre. Dass derlei auch unter Leuten, die lange Jahre gemeinsam Bücher machten, nicht immer harmonisch läuft, ist auch klar. Wo man mit Argumenten nicht weiterkommt, hilft dann schon mal der erhobene Zeigefinger. Nur blöd, wenn beide ihn im selben Moment heben. Das ist, als würde Megaphon gegen Megaphon antreten.

Am Ende siegt dann aber die Vernunft: STURMSEGELN wird zur BOOT in Düsseldorf Ende Januar 2017 erscheinen, so der Plan, den wir in den nächsten Wochen verfolgen werden. Der Grundstein ist in Hamburg gelegt – und jetzt geht es an die Umsetzung. Und die wird hoffentlich nicht nur bierernst:

3. Von Hamburg an die nördliche Adria.

Von Hamburg nach Triest sind es – Luftlinie – nur 500 Seemeilen. Keine 1.000 Kilometer. Im Kopf verbinden wir „Hamburg“ mit „kühl“. Und „Norditalien“ mit „warm“. Weit gefehlt! Bei der Ankunft am Boot in San Giorgio di Nogaro ist es fast noch kühler als in Hamburg, die Nächte auf LEVJE an Land sind mindestens ebenso frisch. Nix da sonniger Süden. Am Morgen sit die Pier mit Rauhreif bedeckt, wer nicht aufpasst, der kommt auf den Holzplanken der Schwimmstege schnell ins Rutschen. Und auch hier, ganz im Norden der Adria, zerren die Gezeiten am Schiff. Zwar sind es maximal nur 1,50 Tidenhub, aber wer mit nur 19 PS die Flusshäfen im Norden von Piave, Isonzo, Tagliamento oder den Lagunen ansteuert, sollte nicht ohne Blick in die Gezeitentabelle starten.

So groß ist, was das Leben am Meer angeht, der Unterschied zwischen Hamburg und Triest oder Venedig auch nicht unbedingt. November ist November.

 __________________________________________________

millemari.
Wir leben Segeln.

Das Thema exklusiv bei millemari.:

Sehenswerte Bilder und Texte aus diesem Buch haben wir 
auf unserer millemari.-Bestellseite für Sie zusammengestellt. 
Klicken Sie rein.

HANSEBOOT Tag 3: Übernachten auf dem Boot. Wie auf dem Boot ein neues Buch entsteht. Und: Bootsnächte in Hamburg. Bootsnächte in Venedig. Ein Vergleich.

Auf der HANSEBOOT 2016 nächtigten wir von millemari.
nicht im Hotel, sondern auf einer 28er DUFOUR, 
einer 8-Meter-Segelyacht im Hamburger Hafen. 
Wie das so ist im November, welchen Menschen man im Hafen begegnet, 
darüber geht diese Reihe von Posts von der HANSEBOOT 2016.

1. Aufwachen. Und Aufstehen. Auf dem Boot.

Stellen wir uns an einem Morgen wie diesem – Außentemperatur etwa 6 Grad, drinnen auf Klaus‘ LA MER nicht viel mehr, und drüber Nebel – die Frage: Was macht ein Leben wirklich lebenswert?

Und? Ist Ihnen etwas eingefallen? Denken Sie nach… und merken Sie sich Ihre Antwort.

Beginnen wir mit einer Hypothese: Am richtigen Ort sein ist wichtig. Dem Ort, an dem man sich zuhause fühlt. Dem Ort, an dem vor allem unsere Sehnsüchte wachsen und gedeihen können. Wenn wir Wünsche haben, fühlen wir uns am Leben. Auf Klaus‘ Boot in Hamburg fühlte ich mich am Leben. Das Gefühl, jederzeit ablegen zu können, auch wenn es draußen gerade lumpige sechs Grad über Null hat und der Ebbstrom im Hamburger Hafen gerade mit zweieinhalb Knoten an LA MERs Festmachern rüttelt. Was macht das schon. Der morgendliche Gang Richtung Dusche, zehn Minuten über die nebelklamme, knarzende Pier. Und unter die Brause erst mit heißem, dann eiskalten Wasser.

Fürs Frühstück lernte ich im Hamburger Hafen, ein paar Schritt hinauf von LA MER Richtung Baumwall, etwas Nettes kennen und lieben. Es heißt: Franzbrötchen. Es sieht aus wie ein Croissant. Es ist innen auch so. Es ist außen platt gewalzt. Und es ist dummerweise in karamelisiertem Zucker gebadet. Der nette Trost meines Morgens, mit Blick auf den Hamburger Hafen, bevor es an die Arbeit geht.

 2. Arbeiten auf dem Boot: Wie millemari.’s neues Buch STURMSEGELN entsteht.

Es ist schon eine Weile her, dass Susanne Guidera in den Communities und Segelforen um Beiträge  zum Thema STURMSEGELN bat und dazu aufrief, uns für ein gleichnamiges Buchprojekt ihre Erlebnisse in Sturm und Starkwind zu schicken. Mittlerweile sind über 50 Beiträge eingegangen, eine enorme Anzahl, und es gilt jetzt, nach dem Erfolg von GEWITTERSEGELN eine geeignete Gliederung zu finden. Denn eines ist klar: Ein zweites Projekt in genau dem gleichen Stil wie das erfolgreiche Buch GEWITTERSEGELN aufzusetzen, wird nicht unbedingt ein Hit. Das haben uns auch erste Vorgespräche mit den Segelzeitschriften, allen voran der YACHT, klargemacht. Ein Gewitter kommt, wie es kommt. In Sturm und Starkwind kann man etwas tun. Immer.

Also machen sich Susanne und ich auf LA MER an erste Vorgespräche, wie denn das Thema aufzuziehen wäre. Dass derlei auch unter Leuten, die lange Jahre gemeinsam Bücher machten, nicht immer harmonisch läuft, ist auch klar. Wo man mit Argumenten nicht weiterkommt, hilft dann schon mal der erhobene Zeigefinger. Nur blöd, wenn beide ihn im selben Moment heben. Das ist, als würde Megaphon gegen Megaphon antreten.

Am Ende siegt dann aber die Vernunft: STURMSEGELN wird zur BOOT in Düsseldorf Ende Januar 2017 erscheinen, so der Plan, den wir in den nächsten Wochen verfolgen werden. Der Grundstein ist in Hamburg gelegt – und jetzt geht es an die Umsetzung. Und die wird hoffentlich nicht nur bierernst:

3. Von Hamburg an die nördliche Adria.

Von Hamburg nach Triest sind es – Luftlinie – nur 500 Seemeilen. Keine 1.000 Kilometer. Im Kopf verbinden wir „Hamburg“ mit „kühl“. Und „Norditalien“ mit „warm“. Weit gefehlt! Bei der Ankunft am Boot in San Giorgio di Nogaro ist es fast noch kühler als in Hamburg, die Nächte auf LEVJE an Land sind mindestens ebenso frisch. Nix da sonniger Süden. Am Morgen sit die Pier mit Rauhreif bedeckt, wer nicht aufpasst, der kommt auf den Holzplanken der Schwimmstege schnell ins Rutschen. Und auch hier, ganz im Norden der Adria, zerren die Gezeiten am Schiff. Zwar sind es maximal nur 1,50 Tidenhub, aber wer mit nur 19 PS die Flusshäfen im Norden von Piave, Isonzo, Tagliamento oder den Lagunen ansteuert, sollte nicht ohne Blick in die Gezeitentabelle starten.

So groß ist, was das Leben am Meer angeht, der Unterschied zwischen Hamburg und Triest oder Venedig auch nicht unbedingt. November ist November.

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Wir leben Segeln.

Das Thema exklusiv bei millemari.:

Sehenswerte Bilder und Texte aus diesem Buch haben wir 
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HANSEBOOT Tag 2: Übernachten auf dem Boot. Und: Jan Hamester. Stegnachbar. Weltumsegler.

Auf der HANSEBOOT 2016 nächtigen wir von millemari.
nicht im Hotel, sondern auf einer 28er DUFOUR, 
einer 8-Meter-Segelyacht im Hamburger Hafen. 
Wie das so ist Anfang November, welchen Menschen man im Hafen begegnet, 
darüber geht diese Reihe von Posts von der HANSEBOOT 2016.

1. Aufwachen.

Es ist gegen sechs Uhr, als ich heute Morgen aufwache. Und im Aufwachen die Geräusche von LA MER durch die Dunkelheit wahrnehme. Die sachte Bewegung der Vorhänge, während LA MER im Ebbstrom schwingt. Das Knarren der Springs, in die LA MER im Dunkel einruckt. Das Knarzen der Fender. LA MER ist die 28-Fuß YACHT, mit der Claus Aktoprak sein halbes Jahr in den Schären verbrachte. Sein Buch über die Schären schrieb. Und seine DVD übers Einhand-Segeln drehte. 

Ich höre die Geräusche von LA MER, und ich höre die Geräusche im Hafen, die LA MER umgeben. Das beständige Strömen braunen Wassers in der Dunkelheit an der Bordwand entlang, auf dem ein paar Herbstblätter aus den Fleeten Richtung Meer treiben. Nicht mehr. Das Strömen von Ebbe und Flut. Ich ahne neben mir an der Bordwand, mehr als dass ich sie höre, die kleinen Eiderenten, die an dem unbelegten Liegeplatz backbords neben LA MER die Nächte verbringen. Wenn wir morgens über die nieselnasse Reling in die Kälte, in den grauen Tag hineinklettern, auf den Schlengel, dann verscheuchen wir sie von ihrem nächtlichen Liegeplatz im Hamburger Hafen. Wie kann man eigentlich schlafen als kleine Eiderente, wenn man andauernd die Füße durchs eiskalte Elbwasser bewegen muss, damit einen die Gezeiten nicht wegtragen in der Kälte aus dem schützenden Eiderentenschwarm?

Der Wind streicht durch LA MER’s dünne Wanten wie durch die Saiten einer Harfe. Ein Südwest, der nach frostigen Null-Grad-Nächten etwas Wärme bringt. Meine eigene Windskala auf LEVJE würde mir jetzt sagen, dass es etwa 4 Windstärken braucht, um genau dieses Harfen-Geräusch zustande zubringen. Ob das auf LA MER auch so stimmt? Ob es eine „Wantengeräusch-Windmess-Skala“ gibt, so wie die Beaufort-Skala des Sir Francis Beaufort, der im Grunde nur – optisch, nicht akustisch – die Wirkung des Windes an Flaggen, an Zweigen beschrieb. Und daraus seine Windstärken-Skala ableitete. Seine Beschreibung bewegter Zweige war dann so allgemeingültig, dass man sie schleichend um 1850 in die britische Marine als Maßeinheit für die Windstärke übernahm.



LA MER schwingt leicht, wenn eine der sanften Böen sie erreicht. Es genügt, um LA MER’s Mast in der Dunkelheit leicht zur Seite zu neigen, hinüber Richtung Land, wo der Michel, der irgendwo hinter den Brücken über uns schwebt.

Plötzlich wiegt sich LA MER, ein Geigen, das über sie kommt. LA MER schaukelt sich auf. Wahrscheinlich eine der Barkassen im Hamburger Hafen, die mit einiger Geschwindigkeit in den Fleet einbiegen. Ich bin oft erstaunt, wie schnell die schweren Stahlbarkassen hier die Fleete entlangbrettern. Schädigt Wellenschlag nicht die Ziegelmauern, in die die Flussarme eingebettet sind? Zerstört die Heckwelle der Barkassen nichts? Im Süden, in den Lagunen von Grado und Venedig darf man dort, wo das Ufer sorgsam, mühsam befestigt wurde, um ein Inselchen zu schützen, gerade mal mit drei Knoten passieren. Vielleicht sind die Inselchen, auf denen Hamburg erbaut wurde, massiver? Vielleicht sind wir ja ein Volk der Schnellfahrer? Nicht nur auf Autobahnen, auch in den Fleeten.

2. Jan Hamester. Stegnachbar. Weltumsegler.

Kaum einen Steinwurf weiter liegt Jan Hamester mit seiner ROARING FORTY am nächsten Steg. Jan Hamester will an diesem Morgen zu einem Nonstop-Ritt um die Welt aufbrechen, den Weltrekord des Chinesen Guo Chuan von 2013 zu schlagen. 

„Mann, bin ich fertig“, sagt er, „das ging bis vier Uhr Früh heute morgen“. Hamester steckt sich eine Zigarette an, die wievielte, um vergeblich gegen Restalkohol und Mordskater anzuqualmen. Nein, dem Musterkatalog des deutschen Sports oder zur Teilnahme am VOLVO OCEAN RACE entspricht Jan Hamester so gar nicht. Er gibt sich auch keine Mühe damit. Er würde eh nicht hineinpassen in Medienzirkus und gefilterte Bilderflut, den

das VOLVO OCEAN RACE aufs sorgsamste und im Blick auf Einschaltquoten und Werbeeinnahmen im nächsten Jahr wieder über uns hereinbrechen lassen wird. Hamester ist Hamester. Immer auf der Kante. Kein Langweiler. Und irgendwie ein Typ wie der Boxer Rene Weller, der so treffend über sich sagte: „Ich bin immer oben. Und wenn ich mal unten bin, dann ist eben unten oben.“

Aber vielleicht kann man nur dann die Gesetze von Raum und Schwerkraft aushebeln, wenn man ist wie Hamester. Er schickt sich an, die Welt in weniger als 138 Tagen Nonstop zu umrunden. Viereinhalb Monate, die Welt ohne einen Halt und ohne Pause zu umsegeln. „Ich segle, seit ich denken kann, hab‘ 200.000 Seemeilen auf dem Buckel – das sollte reichen.“

Guo Chuan ist ebenfalls wenig vorher in San Francisco aufgebrochen, um seinen eigenen Weltrekord zu verbessern. Auf einem 90-Fuß-Riesenkatamaran. Ein knallroter dreißig- Meter-Prügel. Als Ex-VOLVO-OCEAN-RACE-Teilnehmer. Aber zu einem neuen Rekord wird es nicht mehr kommen. Guo Chuan ging über Bord vergangene Woche, Schwimmweste und Katamaran wurden ohne Skipper treibend aufgefunden. Die Bilder des führerlos dümpelnden roten Ungetüms erschüttern.

„Ich hab das heute Nacht erfahren“, stöhnt Hamester durch Morgendunst und  Zigarettenqualm. „Hat mich echt umgehauen. Ich wollte gegen ihn segeln, und nun ist er einfach – weg.“ Ob es das menschliche Schicksal des Guo Chuan sei, das ihn berühre? „Nein, wir haben uns nicht gekannt. Hatten nur per Mail Kontakt. Aber mir fehlt jetzt der Gegner, 

das Gegenüber, um dagegen anzusegeln.“ Hamester feudelt mit dem blauen Moppel ein paar Krümel des Gelages über den Süllrand und ruft seinem Sohn Anweisungen zu, wie der die Genua zu verpacken hat.

Hamesters Schiff, die ROARING FORTY, ist wie er. Ein flotte Lady, deren 40 und damit beste Jahre unleugbar hinter ihr liegen. Das Leben, die Jahre, haben Schrammen und Kratzer hinterlassen, auf ihrem Rumpf, auf seinem Gesicht. Wer weiß, wo sonst noch.

Wie viele Stangen Zigaretten er denn im Gepäck habe für vier Monate ohne Anleger?, frage ich Hamester, als der sich die nächste ansteckt. „Noch gar keine“, grinst er, „ich hab noch einen Zwischenstopp in Helgoland geplant, da sind die Zigaretten billiger.“

Drücken wir Jan Hamester und seiner ROARING FORTY also die Daumen. Nicht wegen der Zigaretten oder Helgoland. Wegen des Weltrekords. Aber vor allem, dass die beiden es schaffen, wohlbehalten zurückzukommen. In den Hamburger Hafen.

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Wir leben Segeln.

Das Thema exklusiv bei millemari.:

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HANSEBOOT Tag 2: Übernachten auf dem Boot. Und: Jan Hamester. Stegnachbar. Weltumsegler.

Auf der HANSEBOOT 2016 nächtigen wir von millemari.
nicht im Hotel, sondern auf einer 28er DUFOUR, 
einer 8-Meter-Segelyacht im Hamburger Hafen. 
Wie das so ist Anfang November, welchen Menschen man im Hafen begegnet, 
darüber geht diese Reihe von Posts von der HANSEBOOT 2016.

1. Aufwachen.

Es ist gegen sechs Uhr, als ich heute Morgen aufwache. Und im Aufwachen die Geräusche von LA MER durch die Dunkelheit wahrnehme. Die sachte Bewegung der Vorhänge, während LA MER im Ebbstrom schwingt. Das Knarren der Springs, in die LA MER im Dunkel einruckt. Das Knarzen der Fender. LA MER ist die 28-Fuß YACHT, mit der Claus Aktoprak sein halbes Jahr in den Schären verbrachte. Sein Buch über die Schären schrieb. Und seine DVD übers Einhand-Segeln drehte. 

Ich höre die Geräusche von LA MER, und ich höre die Geräusche im Hafen, die LA MER umgeben. Das beständige Strömen braunen Wassers in der Dunkelheit an der Bordwand entlang, auf dem ein paar Herbstblätter aus den Fleeten Richtung Meer treiben. Nicht mehr. Das Strömen von Ebbe und Flut. Ich ahne neben mir an der Bordwand, mehr als dass ich sie höre, die kleinen Eiderenten, die an dem unbelegten Liegeplatz backbords neben LA MER die Nächte verbringen. Wenn wir morgens über die nieselnasse Reling in die Kälte, in den grauen Tag hineinklettern, auf den Schlengel, dann verscheuchen wir sie von ihrem nächtlichen Liegeplatz im Hamburger Hafen. Wie kann man eigentlich schlafen als kleine Eiderente, wenn man andauernd die Füße durchs eiskalte Elbwasser bewegen muss, damit einen die Gezeiten nicht wegtragen in der Kälte aus dem schützenden Eiderentenschwarm?

Der Wind streicht durch LA MER’s dünne Wanten wie durch die Saiten einer Harfe. Ein Südwest, der nach frostigen Null-Grad-Nächten etwas Wärme bringt. Meine eigene Windskala auf LEVJE würde mir jetzt sagen, dass es etwa 4 Windstärken braucht, um genau dieses Harfen-Geräusch zustande zubringen. Ob das auf LA MER auch so stimmt? Ob es eine „Wantengeräusch-Windmess-Skala“ gibt, so wie die Beaufort-Skala des Sir Francis Beaufort, der im Grunde nur – optisch, nicht akustisch – die Wirkung des Windes an Flaggen, an Zweigen beschrieb. Und daraus seine Windstärken-Skala ableitete. Seine Beschreibung bewegter Zweige war dann so allgemeingültig, dass man sie schleichend um 1850 in die britische Marine als Maßeinheit für die Windstärke übernahm.



LA MER schwingt leicht, wenn eine der sanften Böen sie erreicht. Es genügt, um LA MER’s Mast in der Dunkelheit leicht zur Seite zu neigen, hinüber Richtung Land, wo der Michel, der irgendwo hinter den Brücken über uns schwebt.

Plötzlich wiegt sich LA MER, ein Geigen, das über sie kommt. LA MER schaukelt sich auf. Wahrscheinlich eine der Barkassen im Hamburger Hafen, die mit einiger Geschwindigkeit in den Fleet einbiegen. Ich bin oft erstaunt, wie schnell die schweren Stahlbarkassen hier die Fleete entlangbrettern. Schädigt Wellenschlag nicht die Ziegelmauern, in die die Flussarme eingebettet sind? Zerstört die Heckwelle der Barkassen nichts? Im Süden, in den Lagunen von Grado und Venedig darf man dort, wo das Ufer sorgsam, mühsam befestigt wurde, um ein Inselchen zu schützen, gerade mal mit drei Knoten passieren. Vielleicht sind die Inselchen, auf denen Hamburg erbaut wurde, massiver? Vielleicht sind wir ja ein Volk der Schnellfahrer? Nicht nur auf Autobahnen, auch in den Fleeten.

2. Jan Hamester. Stegnachbar. Weltumsegler.

Kaum einen Steinwurf weiter liegt Jan Hamester mit seiner ROARING FORTY am nächsten Steg. Jan Hamester will an diesem Morgen zu einem Nonstop-Ritt um die Welt aufbrechen, den Weltrekord des Chinesen Guo Chuan von 2013 zu schlagen. 

„Mann, bin ich fertig“, sagt er, „das ging bis vier Uhr Früh heute morgen“. Hamester steckt sich eine Zigarette an, die wievielte, um vergeblich gegen Restalkohol und Mordskater anzuqualmen. Nein, dem Musterkatalog des deutschen Sports oder zur Teilnahme am VOLVO OCEAN RACE entspricht Jan Hamester so gar nicht. Er gibt sich auch keine Mühe damit. Er würde eh nicht hineinpassen in Medienzirkus und gefilterte Bilderflut, den

das VOLVO OCEAN RACE aufs sorgsamste und im Blick auf Einschaltquoten und Werbeeinnahmen im nächsten Jahr wieder über uns hereinbrechen lassen wird. Hamester ist Hamester. Immer auf der Kante. Kein Langweiler. Und irgendwie ein Typ wie der Boxer Rene Weller, der so treffend über sich sagte: „Ich bin immer oben. Und wenn ich mal unten bin, dann ist eben unten oben.“

Aber vielleicht kann man nur dann die Gesetze von Raum und Schwerkraft aushebeln, wenn man ist wie Hamester. Er schickt sich an, die Welt in weniger als 138 Tagen Nonstop zu umrunden. Viereinhalb Monate, die Welt ohne einen Halt und ohne Pause zu umsegeln. „Ich segle, seit ich denken kann, hab‘ 200.000 Seemeilen auf dem Buckel – das sollte reichen.“

Guo Chuan ist ebenfalls wenig vorher in San Francisco aufgebrochen, um seinen eigenen Weltrekord zu verbessern. Auf einem 90-Fuß-Riesenkatamaran. Ein knallroter dreißig- Meter-Prügel. Als Ex-VOLVO-OCEAN-RACE-Teilnehmer. Aber zu einem neuen Rekord wird es nicht mehr kommen. Guo Chuan ging über Bord vergangene Woche, Schwimmweste und Katamaran wurden ohne Skipper treibend aufgefunden. Die Bilder des führerlos dümpelnden roten Ungetüms erschüttern.

„Ich hab das heute Nacht erfahren“, stöhnt Hamester durch Morgendunst und  Zigarettenqualm. „Hat mich echt umgehauen. Ich wollte gegen ihn segeln, und nun ist er einfach – weg.“ Ob es das menschliche Schicksal des Guo Chuan sei, das ihn berühre? „Nein, wir haben uns nicht gekannt. Hatten nur per Mail Kontakt. Aber mir fehlt jetzt der Gegner, 

das Gegenüber, um dagegen anzusegeln.“ Hamester feudelt mit dem blauen Moppel ein paar Krümel des Gelages über den Süllrand und ruft seinem Sohn Anweisungen zu, wie der die Genua zu verpacken hat.

Hamesters Schiff, die ROARING FORTY, ist wie er. Ein flotte Lady, deren 40 und damit beste Jahre unleugbar hinter ihr liegen. Das Leben, die Jahre, haben Schrammen und Kratzer hinterlassen, auf ihrem Rumpf, auf seinem Gesicht. Wer weiß, wo sonst noch.

Wie viele Stangen Zigaretten er denn im Gepäck habe für vier Monate ohne Anleger?, frage ich Hamester, als der sich die nächste ansteckt. „Noch gar keine“, grinst er, „ich hab noch einen Zwischenstopp in Helgoland geplant, da sind die Zigaretten billiger.“

Drücken wir Jan Hamester und seiner ROARING FORTY also die Daumen. Nicht wegen der Zigaretten oder Helgoland. Wegen des Weltrekords. Aber vor allem, dass die beiden es schaffen, wohlbehalten zurückzukommen. In den Hamburger Hafen.

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millemari.
Wir leben Segeln.

Das Thema exklusiv bei millemari.:

Sehenswerte Bilder und Texte aus diesem Buch haben wir 
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Neue millemari.-DVD übers EINHAND-Segeln. Und: HANSEBOOT: Nachts auf dem Segelboot statt im Hotel.



Was Übernachtung an fremden Orten angeht, hat mein Leben einen eigentümlichen, doch konsequenten Verlauf genommen. Ich schlief immer gern im Freien. Zu Hotels habe ich ein gespaltenes Verhältnis. Am liebsten B&B oder MOTEL ONE – wenn der müde Segler mal in Düsseldorf oder Dortmund sein Haupt betten muss und nicht um vernünftiges WLAN betteln will. Wirklich gern schlafe ich in Hotels nie – vor allem im Urlaub fühle ich mich dort wie eine Schildkröte, die man auf den Rücken legte. Ich meide Urlaubshotels. Doch entwickelte ich eine Liebe zu der Atmosphäre in wirklich teuren Hotels, den KEMPINSKI’s, den MANDARIN ORIENTAL’s und ihren Pianobars, jenen Hotels, deren Flair und luxuriöse Lässigkeit so umfassend sind, dass auch unangenehme Zeitgenossen und laute Neureich’s darin aufs Angenehmste absorbiert und zu Unauffälligkeit verurteilt werden. Wirklich leisten konnte ich mir solche Hotels nie. Und lieben tue ich nur das Schlafen auf dem Boot.



Weil Segeln nun mal Segeln ist. Und weil die HANSEBOOT in der großen Stadt am Wasser liegt, verbringen wir von millemari. deshalb die Nächte der HANSEBOOT nicht im Hotel, sondern nächtigen, wie sich das gehört, auf einem Segelboot. Im eigentlich klamm-kalten Hamburger Hafen.

Wir? Das sind die zwei Menschen von millemari.: nämlich Susanne, die Verlagsleiterin, und ich. Für die Übernachtung stellt uns Klaus Aktoprak, Autor des Buches SCHÄRENSEGELN, seine LA MER zur Verfügung, das Schiff, auf dem er seine Abenteuer in den Schären erlebte und niederschrieb. Wenn Sie jetzt aber denken, Klaus’ LA MER sei ein Luxusschlitten, dann irren Sie sich. LA MER ist ein ehrwürdige DUFOUR 2800, gebaut im Jahr 1982. Sie können sie hier sehen. Jetzt gerade schaukelt sie brav im Hamburger Hafen und ruckt ungeduldig an ihren Leinen. Als Klaus uns um Mitternacht am prominenten Feuerschiff entlang zu zu seinem Boot führt, zieht der Ebbstrom das Wasser aus den Fleeten hinaus Richtung Meer. Das Klagen der Schwimmstege klingt in der Nacht wie der Ruf kalbender Wale vor der Küste Neufundlands. Nachts ist es kalt im Schlafsack auf LA MER – die Nase zeigt an, dass es draussen und drinnen im Boot um die 6 Grad und nicht mehr haben muss. 

Und so werde ich in den nächsten Tagen berichten: Von den Tagen auf der HANSEBOOT. Und von Nächten im Hamburger Hafen. Und wie es ist, Anfang November auf dem kleinen Segelboot in der großen Stadt am Wasser.

Und unser Autor Klaus Aktoprak? 

„Wenn Du allein an Bord bist, 
muss jeder Handgriff sitzen.“

Weil Klaus seine Reisen auf LA MER immer Einhand unternimmt, ist bei ihm eine Menge Einhand-Know-How aufgelaufen, das er für millemari. in eine sehenswerte DVD gepackt hat. „Wenn Du allein an Bord bist, muss jeder Handgriff sitzen“, hat er die sehenswerten 152 Minuten Einhand-Know überschrieben, die er in 14 Videos gepackt hat. Gerne empfehle ich die DVD, die Klaus Aktoprak auch in seinen Vorträgen auf der HANSEBOOT in Halle 1 ausführlich vorstellt. 

Aber Sie müssen nicht nach Hamburg fahren, wenn Sie sich die DVD ansehen wollen. Sie können auch im millemari.-Shop stöbern, was Klaus alles auf seine sehenswerte DVD gepackt hat: Um den Trailer anzusehen oder die DVD zu bestellen oder gleich downzuloaden: hier klicken!

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