Kategorie: Mare Più

KEIN GANZ NORMALER TÖRN: Was ist eigentlich Segeln? Oder: "Von derKunst, im Sturm zu erblühen."

Nahe der Rhone-Mündung: Hier in Port Saint Louis, tief im Süden Frankreichs, begann die allererste Fahrt der SEGELREBELLEN, einer Organisation, die von Krebs betroffenen jungen Erwachsenen Segelreisen ermöglicht. Was man dabei alles erlebt, was das überhaupt bringen kann: darüber schreibt Mare Piú in diesem und den vorangegangenen Posts.

Von den ersten Momenten an, in denen ich zum allerersten Mal auf einer Yacht den Hafen verließ, war ich fasziniert davon. Von dem: Was Segeln ist.
Wieder und wieder habe ich – auch auf diesem Blog – versucht, eine Antwort auf diese Frage zu finden. Schon in jenen ersten Jahren wollte ich einen Film darüber zu machen, weil mir die Worte ausgingen. 
Darüber, dass vermeintlich Wichtiges plötzlich vollkommen unwichtig wird.
Darüber, dass die Dinge, die wir fürchten, plötzlich gar nicht mehr schlimm sind, sondern sogar schön sein können.
Über die Angst, über die Freude, die man in hohen Wellen und starkem Wind empfindet.
Über die Freude, um jedes Kap, dass am Horizont erscheint, herumsegeln zu können.
Über die Furcht, die man im Gewitter erlebt [Und über diese Erlebnisse ist nun tatsächlich in Zusammenarbeit mit über 40 weiteren Seglern tatsächlich ein Buch entstanden, über das ich mich sehr freue!].
Über die Delfine. Ich habe sie gefilmt, wie sie uns in Puerto Rico oder vor Korsika begleiteten. Habe die kurze Hacksee der nördlichen Adria festgehalten. Und die hohen Wellen: die langen, weiten Roller draußen im Atlantik vor den Virgin Islands, wenn der herbstliche Nordsturm, die „Christmas Winds“, abgeflaut waren. Habe versucht, die Farben des Meeres im Foto festzuhalten – und wenn man sich nur auf ein und demselben Fleckchen Meer mit offenen Augen bewegt, sind es schon unzählige mehr als jene legendären „42 Tage Blau“. Auch auf diesem Blog habe ich mehrfach versucht, dieser Frage nachzugehen.

                                                                              Weiterlesen bei: Was ist eigentlich Segeln. Hier.
                                                                              Weiterlesen bei: Was bringt es, 5 Monate Segeln zu         
                                                                                                                                             gehen. Hier.
                                                                              Weiterlesen bei: Wie uns Delfine begleiteten auf      
                                                                                                                               dieser Reise. Hier.
                                                                              Weiterlesen bei: Ist es gefährlich, im Gewitter zu 
                                                                                                                                          Segeln? Hier.

Wann ist man eigentlich bereit, als von Krebs Betroffener, nach der Therapie, für eine Fahrt mit den SEGELREBELLEN? Wann – und warum – sollte man sich dafür entscheiden? Wo doch den meisten nach überstandener Krebstherapie nach ganz, ganz Anderem ist, als ausgerechnet die Unbill einer Seereise auf klamm-kaltem Boot in unwirtlichen Regionen zu ertragen?

Betrachte ich die Crew der Segelrebellen – und da ist Marc, Gründer und Skipper der SEGELREBELLEN mit eingeschlossen – gibt es eine einfache Antwort: Das Ausschlaggebende ist: dass man sich immer schon irgendwo zum Meer, zum Wasser hingezogen gefühlt hat. Dass das Meer einfach mehr ist als eine Ansammlung H2O, versetzt mit mal mehr, mal weniger NaCl. Das Meer als Ort: an dem es einem gut geht. Auch – und DAS ist das Erstaunliche: gerade dann, wenn sich das Meer so gar nicht wie im Vierfarb-Ferienprospekt gibt. Wenn es sich so ganz anders verhält, als wir uns das wünschen: Unfriedlich. Garstig. Menschen-unfreundlich. Wenn wir es in seiner wilden, ursprünglichen Kargheit und Unwirtlichkeit erleben. Wenn wir mittendrin im Getümmel, in der Bedrohung von Windstärke 7, Windstärke 8 plötzlich entdecken: wie schön sie sind, die Wellen. Wie durchscheinendes Glas, ganz oben, wo sie sich brechen, wenn die tiefstehende Sonne durch sie hindurch scheint.
Das Meer als Ort, an dem es mir gut geht: In den Gesprächen mit der Crew, warum sie sich für die ungewöhnliche Reise mit den SEGELREBELLEN entschieden, war immer wieder dies der kleinste gemeinsame Nenner.

Fragen wir die Crew doch mal nach diesem Törn, nach ihren Erfahrungen: Was ist Segeln?

Segeln ist Entschleunigung. Innere Ruhe. 
Wogen der Gefühle: Selbsterkenntnis. 
Sich durch einen starken Sturm zu kämpfen, wie stark man ist. Und im nächsten Moment wieder zu merken, wie schwach man ist. Und das zuzulassen.

Hauke:
„Segeln ist: Neues entdecken. Ein kleines Abenteuer. Und auch ein kleines zwischenmenschliches Abenteuer. Wie gehe ich mit hohen Wellen, mit so starkem Seegang um? Meine Erfahrung ist: Alles ist für mich machbar. Ich sollte viel häufiger neue Dinge entdecken.
Mir fehlt manchmal einfach der Antrieb. Und wenn man zuviel macht: dann wird das auch sehr kostspielig. Aber Anna und ich: wir haben uns vorgenommen, dieses Jahr so viel, so häufig Urlaub zu machen wie möglich.
Das wichtigste auf dieser Seereise: ist die Erfahrung der ENTSCHLEUNIGUNG. Fahre ich Auto: muss ich ständig reagieren, auf irgendwas und irgendwen. Hier: herrscht Gleichmaß.
Und was das Zwischenmenschliche angeht: Der Sturm hat uns zu einer Gemeinschaft gefügt.“

Anna:
„Micht man es einfach glücklich, in der Natur zu sein. Die Ruhe zu spüren. Auch wenn das Meer manchmal so aufgewühlt ist, bin ich selbst in mir ganz, ganz ruhig.
Zuhause im Alltag wird man so häufig abgelenkt von so vielen EINFLÜSSEN. Hier gibt es nur das Meer. Nichts anderes.
Man muss sich darauf einlassen können, dass nicht immer alles rund läuft:
Dass alles nass ist. 
Dass man sich neben die Toilette setzt, weil jemand gerade „eine Kurve“ fährt. 
Das muss man können, sich darauf einlassen. Wenn man ddie Bereitschaft dazu nicht mitbringt: wirds schwierig. Man muss sich darauf einstellen: was alles passieren kann. 
Gestört hat mich eigentlich nur, dass das Fenster undicht ist und die Matratze deshalb nass war. Aber es ist nicht wichtig hier draußen. Alles andere hier ist größer und wichtiger. Hier oben zu sitzen. Uns vom Wind wehen zu lassen und nicht mit einem Motor übers Meer zu bewegen. 
So eine schöne Natur.“

Susanne:
„Wenn es mir schlecht geht. dann ist es für mich am Besten: immer rauszugehen in die Natur.
Hier draußen ist die Lektion: Man muss nehmen, was kommt. Man nimmt die Sachen einfach an. Und lernt: Nach Sturm kommt Sonne. Oder die Delfine.“

Andrea:
„Hier draußen: das ist für mich: Die Woge der Gefühle.
Und: der Sturm ist etwas, was mich in mehrfacher Hinsicht weiterbringt: Erstens fahren wir damit. Und kommen vorwärts. 
Zweitens hatte ich ehrlich gesagt vor der Reise richtig Angst vor einem Sturm. Aber es kam alles ganz anders: Erst die Angst. Dann der Sturm. Dann merken, wie glücklich ich dabei bin.
Es ist gut, gerade das den Menschen, die von einer Krankheit wie Krebs betroffen sind, zu vermitteln, wie es hier ist: Wie es in unserer Krankheit ist. Dass uns Mitleid nicht weiterhilft.

Müßte ich das alles, meine Erfahrungen hier zusammenfassen: dann würde ich es in einem Buchtitel formulieren:

‚Von der Kunst, im Sturm zu erblühen‘.“

Und viel mehr ist dann auch nicht darüber zu sagen: Was Segeln eigentlich ist. 
Und was einem eine Reise mit den SEGELREBELLEN bringen kann.

                                                                                                                                                                    
                                                                         Alles lesen von: KEIN TÖRN WIE JEDER ANDERE. 
                                                                                                                                  Alles Lesen: Hier.
                                                                         Weiterlesen bei: Über den Golf de Lion. Hier.
                                                                         Weiterlesen bei: Segeln mit Nichtseglern. Hier.
                                                                         Weiterlesen bei: Von Barcelona nach Mallorca. Hier.
                                                                         Weiterlesen bei: Wer sind eigentlich die     
                                                                                        SEGELREBELLEN? Wie kann ich mitreisen?

… und weil diese Reise KEIN GANZ NORMALER TÖRN ist: bitte ich die Leser von MARE PIU, unsere beiden Posts möglichst an viele andere Interessierte weiterzuleiten. 
Um Marc und seine Idee der SEGELREBELLEN zu unterstützen. 
Danke.

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40 spannende Geschichten, wie es ist, im Gewitter zu Segeln:


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Die vergessenen Inseln: Gramvousa.

Am Morgen verlasse ich Kissamos. Und hätte ich diese Fahrt nach Gramvousa nicht gemacht: Ich würde sie mein Leben lang vermissen.

Der Tag ist windstill und lautlos, und im Licht der aufgehenden Sonne hole ich LEVJE’s Anker an Bord und motore leise aus dem Hafenbecken nach draußen, um nur ja die großen Ausflugsschiffe nicht zu wecken. Kissamos: ein Hafen nur dazu da, um Menschen auf eine vergessene Insel zu bringen. Für einen Tag. Jeden Tag sind es mehrere Tausend, die die großen Ausflugsschiffe, die GRAMVOUSA, die GRAMVOUSA EXPRES, die SPIRIT OF ATHOS und andere von Kissamos zu den einsamen Inseln im äußersten Nordwesten Kretas bringen und wieder zurück bringen. Eine Insel für einen Tag.

LEVJE schnürt leise nach Norden. Ich habe es nicht eilig, es sind ja gerade mal eineinhalb Stunden Fahrt nach Gramvousa Imeri, dem „zahmen“ Gramvousa im Gegensatz zur Schwester „Agria“ Gramvousa, die noch weiter draußen liegt, nach Norden zu, da, wo nichts mehr ist außer Salzgischt und scharfkantigem Fels. Langsam gleiten wir durchs tiefblaue Spiegelglatt, ein sattes Blau an den ungeheuren Felswänden entlang, die daliegen, als wären sie Gottes großes großes Buch, eine Landschaft, in die er hineinschrieb, was ihm gefiel und in dem er wegließ, was ihm nicht gefiel. Ein ausgetrocknetes Kar, das ihm wichtig war, und das sich den Hang hinaufzieht, ausgewaschen von jedem Platzregen um einen weiteren Millionstel Millionstel Millimeter. Eine Linie in der rotbraunen Felswand, die – soweit mein Auge reicht – wie mit einem Lineal etwa zehn Meter über der Wasserlinie läuft: Der alte Pegel des Meeres, ausgewaschen von Jahrmillionen an liegender Wellenplätschern, kleinen Holztrümmern, Planzenresten, was eben mit den Wellen schwimmt, wenn sie ans Land schwappen, Eine Linie, dunkel eingekerbt in die Felswand, soweit ich schauen kann, vielleicht der Wasserstand des Meeres, bevor ein Erdbeben genau diese Ecke Kretas vor nicht allzulanger Zeit einfach anhob um zehn Meter, so mirnichts, Dirnichts?

Ein riesige Höhle geformt wie ein fallender Mond, wohl Hundert Meter breit, in das ebenmäßige Gestein der Felswand hineingepunzt, der scharfe Abdruck eines überdimensionalen Stechbeitels in weichem Teig, welche geologischen Urzeit-Kräfte lassen denn soetwas werden? Eine Landschaft voller unentzifferbarer Hieroglyphen, Merkzeichen, Krakel, Schraffuren, in der nur eines fehlt: der Mensch. Und wenn er da ist: dann nur dazu, um mit einem winzig kleinen Haus über der Höhle des Halbmonds zu zeigen: wie riesig die doch eigentlich ist, wie großartig diese Landschaft. Und wie klein der Mensch darin. Eine Landschaft wie ein Buch. Nur mit sieben Siegeln, fremd und urzeitlich und schön und schaurig.

Als ich die äußerste Nordwest-Ecke Kretas dann runde und LEVJE nach Süden steuere, dies: Vulkanisch scharfe Felskanten, messerscharf geschliffen von den Wellen. Urzeitliche Berge. Und ein ebenmäßiger Kegel, der dahinein aufsteigt, wo sich erneut Gewitterwolken ballen am heutigen Tag. Ein Kegel, der mich erinnert an eine Segelreise den ganzen Antillenbogen entlang vor vielen Jahren, an die beiden Pitons auf St.Lucia, an Schwefelbäder vor dem „Gros Pitons“ und dem „Petit Piton“, Vulkankegel beides und vielleicht auch der, der hier vor mir liegt, am Horizont. Auf der anderen Seite an Steuerbord erhebt sich Gramvousa selber: ein langer langer Tafelberg aus rötlichbraunem Gestein, ein Plateau, am südlichen Ende mit einer Erhebung, auf der ganz, ganz oben allen menschlichen Unmöglichkeiten trotzend eines thront: die Festung Gramvousa, am Ende der Welt.

Es ist früher Nachmittag geworden, als ich staunend in den Flachwasser-Naturhafen vor Gramvousa einlaufe. Die Bucht: sie ist voll. Die GRAMVOUSA EXPRES hat mich genau an der Nordspitze überholt, in der weiten Bucht festgemacht und entläßt ihre Kinder durch die geöffnete Bugklappe. Es ist voll am Strand und den Hang hinauf zur Festung, also ankere ich weiter östlich, da gibt es nochmal eine Bucht mit einem kleinen Sandstrand unter Agavenbewuchs, da bin ich allein. Ich lasse LEVJE’s Anker fallen und bringe eine Heckleine aus, die Bucht ist klein, vielleicht sucht ja noch jemand Platz, und wenn ich mich mit der Heckleine zum Land ziehe, reicht es. Auf dem Felsen gegenüber liegt etwas, was aussieht wie ein Kadaver, der mannsgroße Kadaver eines Wesens aus dem Meer, das ich nicht entziffern kann. Auch mein gutes Fernglas hilft mir nicht weiter: Der Kadaver liegt auf einem Felsen nur einen halben Meter über dem Meer, ein dicker schwarzer rundlicher Körper, aus dem hinten zwei ewig lange, spindeldürre Beine heraus ins Wasser ragen. Gebiert das Meer Wesen, menschenähnlich, die wir noch nicht kennen? Gibt es etwas, was dort unten lebt, menschenähnlich, uns wohlgesonnenen, was wir nicht kennen, was gelegentlich aufsteigt, hochkommt und tot ans Land gespült wird?  Wieder und wieder schaue ich durchs Fernglas hinüber und kann doch den toten Leib nicht identifizieren mit etwas, das ich kenne. Als ich mit meiner Arbeit fertig bin und sorgfältig mit dem Dinghi meine verknoteten Landleinen erst zum Land und LEVJE dann daran hinübergewinscht habe, beschließe ich, nachsehen zu gehen, und rudere mit dem Dinghi hinüber. Eine riesige tote Schildkröte ist es, zu Lebzeiten ein Prachtexemplar, 100 Jahre alt und 100 Kilo schwer, jetzt ein Kadaver. Ein altes Tier, und was ich aus der Ferne für einen menschlichen Leib hielt, ist ihr Panzer, von dem der Wind jetzt die rottende äußere Hülle flappen läßt. Und was ich für die spindeldürren Beine des Wesens hielt, sind ihre ewig langen Vorderflossen, die vom Felsen herab ins Wasser hängen. Sie hat es nicht mehr geschafft, zurück in ihr Element, dem sie entstiegen ist, wohl zur Eiablage auf den Strand von Gramvousa. Und als sie erschöpft über Strand und Sand und Steine und Scherben und Felsbrocken zurückkroch, den schweren Panzer über die riesigen scharfkantigen Felsen ziehend, ging ihr die Kraft aus. Sie blieb einfach liegen, kraftlos, fünfzig Zentimeter vom rettenden Meer entfernt, verdurstete, vertrocknete, aushauchte ihr langes Leben, hier auf diesem Felsen endete es.

Langsam lasse ich mich im Dinghi vom Wind zurücktreiben von der Schildkröte zu Levje. Es ist Abend geworden, unter der Festung Gramvousa. Tönend haben die Ausflugsboote ihre Besucher zur Heimfahrt gemahnt, der Hang über dem Hafen, der steile Trampelpfad: er ist nun leer. Ich verhole LEVJE nun von meinem Platz und wir tuckern langsam hinüber, in die Bucht, wo außer mir nur noch ein Segler ankert. Ein Pärchen, das mit einem kleinen blauen Segelboot noch schnell in die Bucht hereinkommt. Ich packe meinen Rucksack, klettere in mein Dinghi und rudere hinüber, zur Insel, mit gleichmäßigen Ruderschlägen. Eine kleine Kapelle, am Fuß des Hügels, in der ich zwei Kerzen entzünde. Die letzten Wanderer, die von der Festung herunterkommen. Schreiende griechische Kinder mit ihren ebenso schreienden Eltern. Und über mir: der Schatten der Festung. Der Weg ist steil und steinig, öfter Felsbrocken im Weg, wieder einmal wundere ich mich, wie das gehen konnte, an diesem entlegenen Ort auf dieser entlegenen Anhöhe eine Festung zu bauen, Stein für Stein, Sack Mehl für Sack Mehl, Pulver, Nauholz und Balken dort hinaufgeschafft zu haben, immer wieder. Wieder einmal denke ich an das düstere Kapitel dieses beeindruckenden Bauwerks: dass dies zu errichten und zu unterhalten nur mit Zwangsarbeitern möglich war. Menschen aus aller Herren Länder, verschleppt, versklavt, zur Zwangsarbeit gepresst und für die fast fünfjährige Bauzeit der Festung hierher verschleppt. 

Es musste schnell gehen. Und wie man es schafft, das rieisige Bauwerk in nur fünf Jahren hochzuziehen, ist unbegreiflich. Während ich in der leerer Festung herumstreife, finde ich hallengroße Zisternen im Boden, in denen Trinkwasser gesammelt wurde. Ebenen, auf denen wahrscheinlich Obst, Getreide angebaut wurde. Gepflasterte Wege, um möglichst schnell Geschütze in Bastionen rollen zu können.

Der Bau wurde begonnen, wenige Jahre nach dem Venedig Zypern an die Türken abgetreten hatte und klar war: Eine Invasion der Türken auf Kreta war nicht mehr eine Frage des „ob“, sondern des „Wann“. Die Aggression war unübersehbar, und beide Seiten betrieben sie, Venedig vielleicht mit mehr Doppelzüngigkeit. Gramvousa war nur eine der Festungen, mit denen Venedig seine Besitzungen auf Kreta zu schützen gedachte. Man findet die anderen, wenn man an der Nordküste Kretas entlangsegelt, aufgereiht wie Perlen auf einer Schnur: Chania, Rethymno, Soudha, Candia (das heutige Iraklion), Spinalonga. Und die westlichste davon: Gramvousa. Die Augen Venedigs nach Norden, hinaus auf die Straße nach Kithira, dahin, wohin auch ich jetzt schaue, hinüber nach „Agria Gramvousa“ der wilden Insel die flach im Meer liegt und irgendwie fast zu schweben scheint an diesem Abend.

Ich streife durch die menschenleere Festung an diesem Abend, staune über die massiven Wälle, von denen es fast senkrecht hinuntergeht über 100 Metter in die Bucht, in der LEVJE friedlich schaukelt. Ich sehe die Initalen in der Kirche der alten Festung. Die Apsis, eine Seite ist eingestürzt, trotzdem kommen die Bewohner von Kissamos einmal jährlich hierher und feiern hier oben in der halbverfallenen Kirche einen Gottesdienst. Ich sehe die Tonscherben auf den Wällen, von Venezianern, von Türken, von griechischen Piraten, die während des Freiheitkampfes gegen die Türken für ein paar Jahre besetzt hielten und sich von Überfällen auf vorbeiziehende Schiffe buchstäblich über Wasser hielten. Ich sehe die Reste des weißen Markuslöwen aus Marmor, unten vor dem Tor. Was der nicht schon alles gesehen hat.

Und heute Abend? Da gehört die Festung Gramvousa, den Tieren, die auf der Insel leben. Den Kaninchen, die fast müde vor mir weghoppeln. als ich durchs Tor nach draußen schreite. Den Ziegen, die sich auf meinem Weg hinunter nicht storen lassen beim Abweiden der mageren Büsche. Und dem Nachtvogel, dessen unterdrückter Schrei mich aus der Felswand heraus bis tief in den Schlaf verfolgt.

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101 Places To Sail Before You Die: Am Acheron und seinen Rätseln.

Im vorigen Post schrieb ich darüber, wie ich nachts den Acheron erreichte, den Fluss, für den bei den alten Griechen der Hades begann. Am Morgen zeigt sich die Mündung des Acheron freundlich, die Sonne bricht durch den Morgendunst und sendet ihre Strahlen hinter federleichten Septemberwolken hervor. Eine unberührte Welt, so scheint es. Dies gehört zu den Rätseln des Segelns: Fast jeder Ort, den ich mit LEVJE erreiche, erscheint mir zunächst ganz wunderbar. Mein Blick fällt in der Morgendämmerung hinüber auf den langen Sandstrand. Ein Felsen, ganz links, der aus dem Sand herausragt. Die Pappeln ganz rechts, dort muss der der Fluss sein. Pappeln mögen Flussufer, es macht ihnen nichts aus, ein Leben lang mit nassen Füßen herumzustehen, im Gegenteil: sie lieben es. Pappeln zeigen, wo Wasser und Überschwemmung ist. Und dann: Der Sandstrand. Er zieht sich fast um die ganze Bucht herum, ein feiner, reiner, weißer Sand, auf den leise die Wellen in der Bucht plätschern. Ein Bild tiefen Friedens, alle Wünsche nach tewas anderem sind verflogen. Nein, nichts anderes. Nur genau hier sein. Eine ungetrübte Freude macht sich in mir breit, genau diesen Ort erreicht, gefunden zu haben. Mein unbefangener Blick auf die Bucht des Acheron gleich nach dem Aufstehen, einen warmen Tee in der Hand, als ich sie zum ersten Mal am Tag sehe: ein wunderschöner Ort, den ich entdeckte, weil der Wind anders wehte, als ich wollte und widrig war. Wieder einmal stimmt: Das Glück – oft kommt es in der Gewand des Unglücks daher.

Als ich nach Sonnenaufgang ins Wasser springe, wartet die Bucht mit der nächsten Überraschung auf: Das Wasser ist eiskalt. Ich schnappe nach Luft, so überrascht bin ich, denn das Meerwasser ist jetzt im frühen Oktober eigentlich 23, 24 Grad warm. Es ist, als wäre ich nach der Sauna ins Tauchbecken gesprungen, schlagartig beschleunigt mein Puls, die Atmung geht schneller in der eiskalten Umgebung. Ich habe zunächst keine Erklärung. Eiskaltes Wasser von draußen, aus der Tiefe des Meeres, das sich hier in der Bucht sammelt? Aber warum hier? Als ich aber zum Strand schwimme, finde ich die Erklärungen: Es ist kaltes Flusswasser, das hier in der Bucht zirkuliert, die Wasser des Acheron, die sich noch nicht vollständig mit dem Meerwasser mischen. Als ich kopfüber ins Türkis nach unten tauche, die nächste Überraschung: In etwa 1,70 Meter Tiefe stoße ich plötzlich auf lauwarmes Wasser, eine dicke Schicht fast körperwarmen Wassers, durch die ich wohlig mit langen Zügen tauche. Wäre nur nicht der Weg nach oben: denn um Luft zu holen, muss ich wieder durch die Schicht eiskalten Wassers, das mir nun umso kälter erscheint. Also schnell wieder runter, ins Warme. So geht das Spiel, bis ich näher zum Strand komme und die Tiefe abnimmt. Überall weißer Sand, als ich ans Ufer wate, steht die warme Schicht gerade noch 10 Zentimeter hoch über dem Sand. es reicht, um den Meeresboden zu wärmen. Ich wate ans Ufer durch kaltes Wasser, über bodenbeheizten warmen Sand.

Des Rätsels Lösung: Das frische, klare Flusswasser des Acheron kommt aus den Bergen und ist kalt. Da Süßwasser eine geringere Dichter als Salzwasser besitzt, legt es sich einfach wie eine kalte Decke auf das warme Meerwasser, bevor es sich endgültig mit ihm vermischt. Ein herrliches Schwimmen, ich kenne das Phänomen aus Kroatien, aus Skradin, dort, wo sich der Fluss Krka bis auf 20 Kilometer dem Meer genähert hat und sich die Krka-Wasserfälle über hunderte Kaskaden nach unten stürtzen. Man kann dort mit dem Segelboot den Krka-Fluss über 15, 20 Kilometer den Fjord hinauffahren und in der Hitze des Sommers vom Meer kommend im kalten Süßwasser plantschen. Aber kaum taucht der Schwimmer nichts ahnend nach unten: trifft er auf warmes Meerwasser – 15, 20 Kilometer im Landesinneren, das der Fluss wie mit einer gewaltigen Pumpe vom Meer ins Landesinnere holt. Ein faszinierender Artenreichtum, der dort entsteht, wo Land- und Meerwasser aufeinander treffen und erst noch eine Weile scheu jedes für sich bliebt. Ich stelle mir das auch beim Acheron so vor: Unten im Fluss kilometerweit ins Land hinein Meerwasser, mit der zugehörigen Tierpopulation: Krabben, Krebse, Meeresfische: Dorade und Wolfsbarsch und Rotbarbe, die sich plötzlich, zur Freude der Fischer, weit im Landesinneren im Salzwasser tummeln. Und im selben Fluss, ein Stockwerk darüber, nur einen halben Meter entfernt: die Süßwasser-Bewohner. Süßwasser-Lebewesen aller Arten, Libellen und Forellen und Rotfedern. Ich frage mich: ob sie wohl zurückzucken, wenn eines sich ins Element des anderen verirrt. Ob sie überhaupt überlebensfähig sind im anderen Element und gleich wieder zurückdrängen in ihr angestammtes? Oder ob das alles ganz und gar gleichgültig ist und die Forelle gern mal einen Schluck Salzwasser nimmt, der inneren Hygiene wegen. Es ist jedenfalls ein großes Rätsel und immer wieder ein Wunder, wenn Süß- und Salzwasser aufeinandertreffen.

Langsam spaziere ich den Strand entlang, der seinesgleichen sucht, einer der schönsten Strände auf meiner bisherigen Reise. Weißer feiner Sand, den Fluss und Meer in jahrtausendelangem Mit- und gegeneinander aus dem Gestein gemahlen und zu einem kilometerlangen Sandstrand aufgehäuft haben, der jetzt im späten September seinesgleichen sucht. Wo vor Jahrtausenden der Hades begann: Heute ein Paradies.

Ein paar Liegestühle, leer, fast bin ich allein, ich wandere unter den Pappeln hinüber, dorthin, wo eine Handvoll Camper stehen und wo der Acheron ins Meer mündet. Fischer, die ihre Kaiken im raschelnden Schilf vertäuten. Stille. Ein Ort, um zu bleiben, wer weiß, wie lang.

Jetzt erschienen im Verlag bei millemari., dem Verlag von Mare Piú:
Schärensegeln.
Ein Buch randvoll mit „Places To Sail Before You Die.“
Prädikat: „Besonders wertvoll. Jetzt, wo der Winter naht.“

                   
Zeitgleich zu meiner Reise von München nach Antalya segelt der Songwriter, Musiker und Bassist Claus Aktoprak auf einem kleinen Boot durch die Welt der schwedischen Schären. Und kommt am anderen Ende Europas zu ähnlichen Ergebnissen. Ein Band voller faszinierender Bilder. Über seine Reise berichtet die Zeitschrift SEGELN in ihrer aktuellen Ausgabe. 
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Unter Segeln: Nachts in der Mündung des Acheron.

Der Wind hatte aufgefrischt, als es Nacht wurde. Er war den ganzen Tag von vorn gekommen, seit ich die Drehbrücke von Santa Mavra auf Lefkas passiert hatte. Den Nachmittag über ein leichter Nordwest, gerade so, um dagegen anzumotoren auf dem Weg nach Paxi, der vergessenen Insel. Aber in der Abenddämmerung hatte er aufgedreht, nicht viel, aber genug, dass LEVJE sich in der Welle feststampfte. Sollte ich aufkreuzen? Dann käm ich in Paxi erst um Mitternacht an. Nein. Aber querab lag die Mündung des Acheron, mit halbem Wind bei schneller Fahrt in zwei Stunden zu erreichen. Also: neuer Kurs 80 Grad. Ruder gelegt. Genua ausgerollt. Und LEVJE schoß in der Abenddämmerung los. Was vorher stundenlange Qual unter Motor war, wurde jetzt Lust. Ein Dahinstürmen entlang der seitlich anrollenden Wellen. Ein ruhiges Dahingleiten durch lange Wellentäler und über Wellengipfel. Ein unbewegtes schnelles Dahinschnüren von dreieinhalb Tonnen Boot. LEVJE spielte ihr Halbwind-Spiel: Immer wenn von quer ein Wellenkamm heranrauschte und genau an LEVJE’s Rumpf gischtend, spritzend brechen wollte, war sie einen Tick schneller. Ließ den Wellenkamm gerade eben hinter sich vorbeiziehen, wo er kraftlos brach, statt an die Bordwand zu klatschen. Das ging viele Male so, und ich liebe das Spiel.

Jetzt, im späten September, fällt die Nacht schnell. Während im frühen August der Felsen von Monemvasia noch stundenlang brauchte, um vom Dämmer ins Dunkel zu gehen, geht jetzt alles ganz schnell. Kaum dass die Sonne verschwunden ist, noch ein bisschen Abendrot. Und dann ist es: Nacht. Finsternis. Der Mond war noch nicht aufgegangen, ich navigierte unter Segeln nur mit dem iPAD und NAVIONICS auf die Mündung des Acheron zu, zur Sicherheit ließ ich die Seekarte auf dem iPHONE mitlaufen. Rechts tauchten in der Dunkelheit Felsen auf, an denen sich die Wellen brachen. Links war noch alles frei. Die Tiefe sank rapide: 19 Meter, wo laut Seekarte 50 sein sollten. Zeit, die Segel zu bergen und LEVJE’s rauschende Fahrt zu beenden.

Acheron. Ein paar Häuser in der Dunkelheit. Lichter. Der Mond, der sich hinter einer Wolkenbank versteckt und nicht recht hervor will. Das Donnern der brechenden Wellen auf den Klippen rechts von mir, da wo die Flußmündung sein müsste. Langsam tuckern wir in die Bucht. Zwei Yachten liegen da, wiegen mächtig im Schwell, beide. Ein Nachtvogel, der herüberschreit, melodisch vom Ufer. Das Rauschen der Brecher rechts von mir, unentwegt und mächtig. Links von mir ein langsames, rythmisches Aufrauschen. Ein Sandstrand also. Langsam, langsam tuckern wir hinein in die Bucht. Noch fünf Meter Tiefe zwischen den beiden Ankerliegern. Ich will weiter hinein, in die Dunkelheit. Es muss doch ein ruhiges Plätzchen geben in dieser Bucht, in der der Schwell offensichtlich keinem Ruhe lässt. Das Licht einer Taschenlampe auf LEVJE, von der Charteryacht herüber. Noch vier Meter Tiefe. Noch drei einhalb. Noch drei. Langsam, fast eine Minute lang lasse ich LEVJE in einem Kreis auslaufen. Langsam einen Kreis gedreht, langsam, um festzustellen, ob nicht doch eine Untiefe, ein Fels herausragt, irgendetwas, das LEVJE bei mehr Wind ernsthaft beschädigen könnte. Nein, nichts. Alles frei. Dann los. Polternd fällt LEVJE’s Anker ins Dunkel, ich ziehe langsam rückwärts, von der hinter mir liegenden Yacht aus dem Dunkel kommt in deutschem Englisch der Ruf, ob ich seinen Anker sähe, als ich näherkomme. Und kurz Vollgas gebe, um festzustellen: ob LEVJE’s Anker hält im Stockdunkel. Er hält. Motor aus. Fahrtlichter aus. Ankerlicht an. Acheron.

Der Mond, der endlich aus seinem Wolkenversteck hervorkriecht. Acheron. Glaubt man dem Mythos, dann ist es dieser Fluß, der Ober- und Unterwelt voneinander trennt. Der Acheron oder auch Styx bildet den Übergang von der einen in die andere Welt, den Hades, in den nach Vorstellung der alten Griechen nach seinem Ableben ausnahmslos jeder kam, ohne Unterschied, ob arm, ob reich, ob gut, ob böse. Um dort weiter als scheuer Schatten zu existieren, Schatten unter Schatten im Reich der Toten, ohne Schmerz, und nur ein Schatten. Nicht eben die Hölle. Doch auch nicht das Paradies. Über den Acheron hinüber brachte einen Charon, der Fährmann. Und damit der seinen Dienst ordentlich versah, legte man den Toten eine Münze unter die Zunge, den Obolus, für den Fährmann. War man hinüber, über den Acheron, dann gab es keine Rückkehr aus dem Hades, dafür sorgte Kerberus, der der dreiköpfige Höllenhund. Er bewachte den Eingang, ließ keinen hinein und keine Seele heraus.

Nur einer hat es gewagt, als Lebender in die Unterwelt hinabzusteigen: Orpheus, der Sänger, dem Apollon eine Lyra schenkte. So schön war sein Gesang, dass er Feinde damit besiegen und das Meer besänftigen konnte. Und weil er so schön spielte, gewährte ihm auch Persephone, die Göttin der Unterwelt einen Wunsch, auf der Suche nach seiner verstorbenen Geliebten Eurydike im Totenreich. Er dürfe hinüber, über den Acheron und unter den Schatten nach ihr suchen. Aber wenn er sie gefunden hätte, dann müsse er vorausgehen und dürfe kein einziges Mal sich nach ihr umsehen. Sonst sei sie für immer verloren. Und Orpheus fuhr hinüber, mit Charon. Und fand Eurydike, zu seiner Freude.

Der Mond ist weiter aufgegangen, über dem Acheron. Die Straße, die er übers Meer auf LEVJE hin zeichnet, ist schwächer geworden, je höher er stieg. Die Brecher rauschen rechts in der Dunkelheit an die Felsen. Es ist Mitternacht geworden, in der Bucht des Acheron.

Was aus all dem wurde?

Orpheus, Eurydike?
Natürlich konnte der Sänger nicht wiederstehen und drehte sich um zu seiner Geliebten, als er ihre Schritte nicht mehr hörte. Und dann – verschwand sie. Und wurde wieder Schatten unter Schatten, für immer. 
Aber weil die Geschichte gar zu schön ist, entstanden zahllose Kunstwerke aus Orpheus‘ und Eurydikes‘ traurigem Schicksal. Mosaiken in der römischen Antike, die immer wieder den Sänger mit der Lyra zeigen, Literatur, aber vor allem unzählige Opern, darunter so unvergleichliche wie Monteverdi’s ORFEO oder Christoph Willibald Gluck’s ORFEUS UND EURYDIKE.

Der Hades?
Für den war schon in römischer Zeit kein Platz mehr auf der Welt. Er verschwand aus unserem Glauben. Himmel und Hölle, das Paradies nahmen seinen Platz ein. Aber wer weiß schon, was danach kommt. Wenn wir nicht mehr an Himmel und Hölle glauben

Der Acheron?
Den gibt es immer noch. Er liegt an der Westküste Griechenlands zwischen Lefkas und Parga in einer wunderschönen Bucht mit langem Sandstrand und acht Liegestühlen darauf. Die Bucht des Acheron, in der man unruhig liegt, weil hier immer, immer der Schwell hineinsteht und die Boote schaukeln lässt. Und dafür sorgt, dass man intensiv träumt, des nachts bis in den Morgen.

Unter Segeln: Nachts in der Mündung des Acheron.

Der Wind hatte aufgefrischt, als es Nacht wurde. Er war den ganzen Tag von vorn gekommen, seit ich die Drehbrücke von Santa Mavra auf Lefkas passiert hatte. Den Nachmittag über ein leichter Nordwest, gerade so, um dagegen anzumotoren auf dem Weg nach Paxi, der vergessenen Insel. Aber in der Abenddämmerung hatte er aufgedreht, nicht viel, aber genug, dass LEVJE sich in der Welle feststampfte. Sollte ich aufkreuzen? Dann käm ich in Paxi erst um Mitternacht an. Nein. Aber querab lag die Mündung des Acheron, mit halbem Wind bei schneller Fahrt in zwei Stunden zu erreichen. Also: neuer Kurs 80 Grad. Ruder gelegt. Genua ausgerollt. Und LEVJE schoß in der Abenddämmerung los. Was vorher stundenlange Qual unter Motor war, wurde jetzt Lust. Ein Dahinstürmen entlang der seitlich anrollenden Wellen. Ein ruhiges Dahingleiten durch lange Wellentäler und über Wellengipfel. Ein unbewegtes schnelles Dahinschnüren von dreieinhalb Tonnen Boot. LEVJE spielte ihr Halbwind-Spiel: Immer wenn von quer ein Wellenkamm heranrauschte und genau an LEVJE’s Rumpf gischtend, spritzend brechen wollte, war sie einen Tick schneller. Ließ den Wellenkamm gerade eben hinter sich vorbeiziehen, wo er kraftlos brach, statt an die Bordwand zu klatschen. Das ging viele Male so, und ich liebe das Spiel.

Jetzt, im späten September, fällt die Nacht schnell. Während im frühen August der Felsen von Monemvasia noch stundenlang brauchte, um vom Dämmer ins Dunkel zu gehen, geht jetzt alles ganz schnell. Kaum dass die Sonne verschwunden ist, noch ein bisschen Abendrot. Und dann ist es: Nacht. Finsternis. Der Mond war noch nicht aufgegangen, ich navigierte unter Segeln nur mit dem iPAD und NAVIONICS auf die Mündung des Acheron zu, zur Sicherheit ließ ich die Seekarte auf dem iPHONE mitlaufen. Rechts tauchten in der Dunkelheit Felsen auf, an denen sich die Wellen brachen. Links war noch alles frei. Die Tiefe sank rapide: 19 Meter, wo laut Seekarte 50 sein sollten. Zeit, die Segel zu bergen und LEVJE’s rauschende Fahrt zu beenden.

Acheron. Ein paar Häuser in der Dunkelheit. Lichter. Der Mond, der sich hinter einer Wolkenbank versteckt und nicht recht hervor will. Das Donnern der brechenden Wellen auf den Klippen rechts von mir, da wo die Flußmündung sein müsste. Langsam tuckern wir in die Bucht. Zwei Yachten liegen da, wiegen mächtig im Schwell, beide. Ein Nachtvogel, der herüberschreit, melodisch vom Ufer. Das Rauschen der Brecher rechts von mir, unentwegt und mächtig. Links von mir ein langsames, rythmisches Aufrauschen. Ein Sandstrand also. Langsam, langsam tuckern wir hinein in die Bucht. Noch fünf Meter Tiefe zwischen den beiden Ankerliegern. Ich will weiter hinein, in die Dunkelheit. Es muss doch ein ruhiges Plätzchen geben in dieser Bucht, in der der Schwell offensichtlich keinem Ruhe lässt. Das Licht einer Taschenlampe auf LEVJE, von der Charteryacht herüber. Noch vier Meter Tiefe. Noch drei einhalb. Noch drei. Langsam, fast eine Minute lang lasse ich LEVJE in einem Kreis auslaufen. Langsam einen Kreis gedreht, langsam, um festzustellen, ob nicht doch eine Untiefe, ein Fels herausragt, irgendetwas, das LEVJE bei mehr Wind ernsthaft beschädigen könnte. Nein, nichts. Alles frei. Dann los. Polternd fällt LEVJE’s Anker ins Dunkel, ich ziehe langsam rückwärts, von der hinter mir liegenden Yacht aus dem Dunkel kommt in deutschem Englisch der Ruf, ob ich seinen Anker sähe, als ich näherkomme. Und kurz Vollgas gebe, um festzustellen: ob LEVJE’s Anker hält im Stockdunkel. Er hält. Motor aus. Fahrtlichter aus. Ankerlicht an. Acheron.

Der Mond, der endlich aus seinem Wolkenversteck hervorkriecht. Acheron. Glaubt man dem Mythos, dann ist es dieser Fluß, der Ober- und Unterwelt voneinander trennt. Der Acheron oder auch Styx bildet den Übergang von der einen in die andere Welt, den Hades, in den nach Vorstellung der alten Griechen nach seinem Ableben ausnahmslos jeder kam, ohne Unterschied, ob arm, ob reich, ob gut, ob böse. Um dort weiter als scheuer Schatten zu existieren, Schatten unter Schatten im Reich der Toten, ohne Schmerz, und nur ein Schatten. Nicht eben die Hölle. Doch auch nicht das Paradies. Über den Acheron hinüber brachte einen Charon, der Fährmann. Und damit der seinen Dienst ordentlich versah, legte man den Toten eine Münze unter die Zunge, den Obolus, für den Fährmann…

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Wenn Ihnen diese Geschichte gefällt…
Soeben erschienen vom Autor von Mare Piu: 
Ein Film darüber: Was Segeln ist.


                         Als Download und auf DVD: € 19,99

Was passiert, wenn das Leben die gewohnten Bahnen verlässt? 
Was geschieht, wenn man sich einfach aufmacht und fünf Monate Segeln geht? 
Darf man das? Und wie ändert sich das Leben?
Der Film einer ungewöhnlichen Reise, der Mut macht, seinen Traum zu leben.

Mehr erfahren. Filmtrailer ansehen. Bestellen. Hier.

Der Film entstand nach diesem Buch: 
Geschichten über die Entschleunigung, übers langsam Reisen 
und die Kunst, wieder sehen zu lernen
Einmal München – Antalya, bitte. 
Das Buch: Mehr erfahren: Hier.

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… War man hinüber, über den Acheron, dann gab es keine Rückkehr aus dem Hades, dafür sorgte Kerberus, der der dreiköpfige Höllenhund. Er bewachte den Eingang, ließ keinen hinein und keine Seele heraus.

Nur einer hat es gewagt, als Lebender in die Unterwelt hinabzusteigen: Orpheus, der Sänger, dem Apollon eine Lyra schenkte. So schön war sein Gesang, dass er Feinde damit besiegen und das Meer besänftigen konnte. Und weil er so schön spielte, gewährte ihm auch Persephone, die Göttin der Unterwelt einen Wunsch, auf der Suche nach seiner verstorbenen Geliebten Eurydike im Totenreich. Er dürfe hinüber, über den Acheron und unter den Schatten nach ihr suchen. Aber wenn er sie gefunden hätte, dann müsse er vorausgehen und dürfe kein einziges Mal sich nach ihr umsehen. Sonst sei sie für immer verloren. Und Orpheus fuhr hinüber, mit Charon. Und fand Eurydike, zu seiner Freude.

Der Mond ist weiter aufgegangen, über dem Acheron. Die Straße, die er übers Meer auf LEVJE hin zeichnet, ist schwächer geworden, je höher er stieg. Die Brecher rauschen rechts in der Dunkelheit an die Felsen. Es ist Mitternacht geworden, in der Bucht des Acheron.

Was aus all dem wurde?

Orpheus, Eurydike?
Natürlich konnte der Sänger nicht wiederstehen und drehte sich um zu seiner Geliebten, als er ihre Schritte nicht mehr hörte. Und dann – verschwand sie. Und wurde wieder Schatten unter Schatten, für immer. 
Aber weil die Geschichte gar zu schön ist, entstanden zahllose Kunstwerke aus Orpheus‘ und Eurydikes‘ traurigem Schicksal. Mosaiken in der römischen Antike, die immer wieder den Sänger mit der Lyra zeigen, Literatur, aber vor allem unzählige Opern, darunter so unvergleichliche wie Monteverdi’s ORFEO oder Christoph Willibald Gluck’s ORFEO ED EURIDICE.

Der Hades?
Für den war schon in römischer Zeit kein Platz mehr auf der Welt. Er verschwand aus unserem Glauben. Himmel und Hölle, das Paradies nahmen seinen Platz ein. Aber wer weiß schon, was danach kommt. Wenn wir nicht mehr an Himmel und Hölle glauben.

Der Acheron?
Den gibt es immer noch. Er ist ein nettes Flüßchen und liegt an der Westküste Griechenlands zwischen Lefkas und Parga in einer wunderschönen Bucht mit langem Sandstrand und acht Liegestühlen darauf. Die Bucht des Acheron, in ihr liegt man unruhig , weil hier immer, immer der Schwell hineinsteht und die Boote schaukeln lässt. Und dafür sorgt, dass man intensiv träumt, des nachts bis in den frühen Morgen.

Die vergessenen Inseln: Neues aus Trizonia!

Der Tag, er war anstrengend im Golf von Korinth. Morgens eine halbe Stunde nach dem Ablegen fünf Windstärken von vorn, ein böig-fauchiger Wind aus West-Nordwest, der den Golf entlang aus Patras im Westen genau auf uns zu pfeifft. Nach sechs, sieben Stunden gegenan aufkreuzen gerade mal 17 Seemeilen Weg zurückgelegt. Aber das immerhin mit Lust und auf der Backe liegend. Am späten Nachmittag stehe ich dann vor einer der wenigen Inseln im Golf von Korinth: Trizonia. Haben Sie nie gehört? Da geht es Ihnen wie mir. Aber als ich kurz überlege: Wo heute übernachten? Inselhafen? Festlandshafen? Fällt die Entscheidung schnell: Natürlich auf der Insel!

Soweit so gut. Aber kurz mal nachgehakt: Warum treffe ich diese Entscheidung so? Ist das Leben auf einer Insel denn wirklich so anders? Alles Einbildung? Oder gibt es tatsächlich objektive Gründe, warum auf-einer-Insel-sein soviel entspannender ist als auf dem Festland?

Nehmen wir nach einem langen Sommer voller vergessener Inseln Trizonia, das unbekannte Eiland, das Griechen [Tri:sonja:], mit kurzem „o“ und weichem „s“ sprechen. Wer über das Besondere dieser Insel recherchiert, findet – wenig. Nein, statt googeln führt ein Spaziergang von der Marina in den 54 Meter entfernt liegenden Hauptort mit Namen Trizonia zu Erkenntnissen. Man stößt einfach alle naselang auf das Thema „Entschleunigung“ in hunderterlei Formen. 
Zum Beispiel: Meine Ankunft in der Marina der Insel: entspannt. Die „Marina“: ein Betondenkmal, geschaffen mit EU-Geldern, um Griechenland in die „Wettbewerbsfähigkeit“ zu katapultieren. Aber weil sich im schönen Trizonia niemand findet, der mit Betonmolen Wettbewerb aufzuziehen Lust hätte: Drum rotten sie vor sich hin, zur Freude von etwa 20, 30 Fahrtenseglern wie mir. Und so liegen denn an die 30 Fahrtenyachten in Sonnenschein und klarem Wasser. Motorbootfahrer, Katsegler, Monos. Engländer, Finnen, Dänen, Schweizer, Franzosen. Nettes Völkchen. Niemand, der irgendwelche Bootspapiere sehen will, kein Marina-Office, kein Hafenmeister, keiner, der den Stromzähler abliest. Weil es Strom halt einfach nicht gibt.  Einfach nur gemütlich liegen, solange man will. Und gern auch über den Winter. 
Meine erste Begegnung: Die Besatzung der großen 42er, mit der wir uns draußen in den Böen über eineinhalb Stunden ein Rennen lieferten – „Faster, LEVJE! Go faster!“ wie im vorigen Post also auch hier. LEVJE wehrte sich tapfer, aber nach der Wende war Schluß, die 42 Fuß hängten LEVJE einfach ab. Jetzt stehen die beiden freundlich auf der Pier, nehmen meine Leinen an. Ein Pärchen aus Landsberg, fast meiner Heimat. Das Umfeld, die Kleinheit des Hafens, sie zwingt zum Miteinander auch unter Fremden. Wer hierher kommt, erkennt im anderen den Gleichgesinnten, auch wenn man sich vorher nie begegnet ist.

Kaum ist der Schwatz mit den Landsbergern vorbei, steht ein junges Pärchen auf der Pier: Endzwanziger beide, aus der Schweiz, die mir erklären: Dass sie noch viel langsamer reisen als ich mit LEVJE. Und während sie erzählen, komme ich mir fast wie ein bekloppter Raser vor: Die beiden sind seit Frühjahr im ihrer alten HALLBERG-RASSY 35 von Korfu bis hierher gesegelt. Gerade mal 150 Meilen. In 6 Monaten. Sind überall lange geblieben. Und finden Trizonia „ganz wunderbar zum Abhängen“. Beide arbeiten den Winter über im Skitourismus der Schweiz – und wenn die Skisaison am Schlepplift vorbei ist: verschwinden die beiden ab Frühjahr wieder auf ihr Boot, um bis in den Herbst langsam zu reisen. Und eine Insel ist der Ort, an dem sie sich austoben. ‚Nissomanie‘, die Inselsucht, von der Bloggerin Katharina auf ihrem gleichnamigen Blog schreibt: Sie grassiert nicht nur bei mir. 

Inseln widersetzen sich dem überall greifbaren Hang zur Beschleunigung unseres Alltags. Während in meinem Heimatland die Straßen immer gerader gemacht werden, damit wir noch schneller von A nach B kommen und dadurch noch „effektiver“ sein können, sind auf Trizonia Autos verboten. Genau so wie auf Spetses, auf Hydra, oder in Venedig und anderen Inseln. Der Effekt ist enorm, wenn man nach einer Woche „Insel“ wieder an einer vielbefahrenen Straße auf dem Festland steht.

Entschleunigung auch am Ufer. Drei Frauen, augenscheinlich drei der insgesamt 64 Bewohner, die die letzte Volkszählung auf Trizonia 2011 zählte. Frauen, die am Ufer sitzen und fischen, in dem sie immer wieder die auf ein knallbunter Plastik-Rädchen aufgewickelte Schnur geduldig ins Meer werfen und einholen. Fischen mit einem 1,50 €-Artikel. Den Frauen scheint das großen Spaß zu machen, sie sitzen auch am folgenden Abend am Ufer. Eigentlich traue ich ihren knallbunten Angel-Dinger ja nicht viel zu – aber zumindest eine der Frauen zeigt einem Fischer ihren Eimer-Inhalt, als die Sonne langsam verschwindet, und der Fischer nickt anerkennend. Die anderen beiden gönnen sich nach dem Fischen ein Eis in der Taverne. Und am nächsten Tag stehen auch meine Schweizer auf ihrem Boot, mit so einem knallbunten Angel-Dings in der Hand. Und werfen die Schnur wieder und wieder ins Wasser.

Zwei Fischer, die in der Dämmerung gemächlich hinaus in die Bucht tuckern, in ihren einfachen offenen Booten. Bis spät in die Nacht hinein sehe ich ihre Lichter draußen auf dem Meer. Sie sind nicht weit draußen, haben ihre Anker fallen lassen und Fischen offensichtlich mit der Leine. Für Menschen, die gerne bei jedem Wetter auf dem Meer sind, kann es nicht viel Schöneres geben, als hinauszufahren, nicht weil der Wecker klingelt, sondern weil der richtige Moment dafür da ist.

Ach ja: Und Neues aus Trizonia? Da muss ich Sie enttäuschen. Das gibt es hier auch nicht. Natürlich den Dorfschwatz, das ja. Aber sonst: Kein Zeitungsständer, der uns mit neuesten Krisen und Katastrophen kitzelt, auf die wir eh ohne Einfluß sind. Outlook, Excel? Hat man schon mal gehört, aber auf Trizonia geht es ohne. Der Wirt schreibt die Rechnung noch schön auf den Block. Tsatsiki und Auberginenpaste waren dafür umwerfend.

Nein, damit wir uns recht verstehen: Ich bin nicht für die Abschaffung von Autos, Outlook, Weckern oder gerader Straßen. Aber dafür: Ein bisschen mehr Trizonia, etwas mehr Insel-Dasein in unseren Alltag zu bringen – dafür bin ich allemal.

Die vergessenen Inseln: Neues aus Trizonia!

Der Tag, er war anstrengend im Golf von Korinth. Morgens eine halbe Stunde nach dem Ablegen fünf Windstärken von vorn, ein böig-fauchiger Wind aus West-Nordwest, der den Golf entlang aus Patras im Westen genau auf uns zu pfeifft. Nach sechs, sieben Stunden gegenan aufkreuzen gerade mal 17 Seemeilen Weg zurückgelegt. Aber das immerhin mit Lust und auf der Backe liegend. Am späten Nachmittag stehe ich dann vor einer der wenigen Inseln im Golf von Korinth: Trizonia. Haben Sie nie gehört? Da geht es Ihnen wie mir. Aber als ich kurz überlege: Wo heute übernachten? Inselhafen? Festlandshafen? Fällt die Entscheidung schnell: Natürlich auf der Insel!

Soweit so gut. Aber kurz mal nachgehakt: Warum treffe ich diese Entscheidung so? Ist das Leben auf einer Insel denn wirklich so anders? Alles Einbildung? Oder gibt es tatsächlich objektive Gründe, warum auf-einer-Insel-sein soviel entspannender ist als auf dem Festland?

Nehmen wir nach einem langen Sommer voller vergessener Inseln Trizonia, das unbekannte Eiland, das Griechen [Tri:sonja:], mit kurzem „o“ und weichem „s“ sprechen. Wer über das Besondere dieser Insel recherchiert, findet – wenig. Nein, statt googeln führt ein Spaziergang von der Marina in den 54 Meter entfernt liegenden Hauptort mit Namen Trizonia zu Erkenntnissen. Man stößt einfach alle naselang auf das Thema „Entschleunigung“ in hunderterlei Formen. 
Zum Beispiel: Meine Ankunft in der Marina der Insel: entspannt. Die „Marina“: ein Betondenkmal, geschaffen mit EU-Geldern, um Griechenland in die „Wettbewerbsfähigkeit“ zu katapultieren. Aber weil sich im schönen Trizonia niemand findet, der mit Betonmolen Wettbewerb aufzuziehen Lust hätte: Drum rotten sie vor sich hin, zur Freude von etwa 20, 30 Fahrtenseglern wie mir. Und so liegen denn an die 30 Fahrtenyachten in Sonnenschein und klarem Wasser. Motorbootfahrer, Katsegler, Monos. Engländer, Finnen, Dänen, Schweizer, Franzosen, Griechen. Nettes Völkchen. Niemand, der irgendwelche Bootspapiere sehen will, kein Marina-Office, kein Hafenmeister, keiner, der den Stromzähler abliest. Weil es Strom halt einfach nicht gibt.  Einfach nur gemütlich liegen, solange man will. Und gern auch über den Winter. 
Meine erste Begegnung: Die Besatzung der großen 42er, mit der wir uns draußen in den Böen über eineinhalb Stunden ein Rennen lieferten – „Faster, LEVJE! Go faster!“ wie im vorigen Post also auch hier. LEVJE wehrte sich tapfer, aber nach der Wende war Schluß, die 42 Fuß hängten LEVJE einfach ab. Jetzt stehen die beiden freundlich auf der Pier, nehmen meine Leinen an. Ein Pärchen aus Landsberg, fast meiner Heimat. Das Umfeld, die Kleinheit des Hafens, sie zwingt zum Miteinander auch unter Fremden. Wer hierher kommt, erkennt im anderen den Gleichgesinnten, auch wenn man sich vorher nie begegnet ist.

Kaum ist der Schwatz mit den Landsbergern vorbei, steht ein junges Pärchen auf der Pier: Endzwanziger beide, aus der Schweiz, die mir erklären: Dass sie noch viel langsamer reisen als ich mit LEVJE. Und während sie erzählen, komme ich mir fast wie ein bekloppter Raser vor: Die beiden sind seit Frühjahr im ihrer alten HALLBERG-RASSY 35 von Korfu bis hierher gesegelt. Gerade mal 150 Meilen. In 6 Monaten. Sind überall lange geblieben. Und finden Trizonia „ganz wunderbar zum Abhängen“. Beide arbeiten den Winter über im Skitourismus der Schweiz – und wenn die Skisaison am Schlepplift vorbei ist: verschwinden die beiden ab Frühjahr wieder auf ihr Boot, um bis in den Herbst langsam zu reisen. Und eine Insel ist der Ort, an dem sie sich austoben. ‚Nissomanie‘, die Inselsucht, von der Bloggerin Katharina auf ihrem gleichnamigen Blog schreibt: Sie grassiert nicht nur bei mir. 

Inseln widersetzen sich dem überall greifbaren Hang zur Beschleunigung unseres Alltags. Während in meinem Heimatland die Straßen immer gerader gemacht werden, damit wir noch schneller von A nach B kommen und dadurch noch „effektiver“ sein können, sind auf Trizonia Autos verboten. Genau so wie auf Spetses, auf Hydra, oder in Venedig und anderen Inseln. Der Effekt ist enorm, wenn man nach einer Woche „Insel“ wieder an einer vielbefahrenen Straße auf dem Festland steht.

Entschleunigung auch am Ufer. Drei Frauen, augenscheinlich drei der insgesamt 64 Bewohner, die die letzte Volkszählung auf Trizonia 2011 zählte. Frauen, die am Ufer sitzen und fischen, in dem sie immer wieder die auf ein knallbunter Plastik-Rädchen aufgewickelte Schnur geduldig ins Meer werfen und einholen. Fischen mit einem 1,50 €-Artikel. Den Frauen scheint das großen Spaß zu machen, sie sitzen auch am folgenden Abend am Ufer. Eigentlich traue ich ihren knallbunten Angel-Dinger ja nicht viel zu – aber zumindest eine der Frauen zeigt einem Fischer ihren Eimer-Inhalt, als die Sonne langsam verschwindet, und der Fischer nickt anerkennend. Die anderen beiden gönnen sich nach dem Fischen ein Eis in der Taverne. Und am nächsten Tag stehen auch meine Schweizer auf ihrem Boot, mit so einem knallbunten Angel-Dings in der Hand. Und werfen die Schnur wieder und wieder ins Wasser.

Zwei Fischer, die in der Dämmerung gemächlich hinaus in die Bucht tuckern, in ihren einfachen offenen Booten. Bis spät in die Nacht hinein sehe ich ihre Lichter draußen auf dem Meer. Sie sind nicht weit draußen, haben ihre Anker fallen lassen und Fischen offensichtlich mit der Leine. Für Menschen, die gerne bei jedem Wetter auf dem Meer sind, kann es nicht viel Schöneres geben, als hinauszufahren, nicht weil der Wecker klingelt, sondern weil der richtige Moment dafür da ist.

Ach ja: Und Neues aus Trizonia? Da muss ich Sie enttäuschen. Das gibt es hier auch nicht. Natürlich den Dorfschwatz, das ja. Aber sonst: Kein Zeitungsständer, der uns mit neuesten Krisen und Katastrophen kitzelt, auf die wir eh ohne Einfluß sind. Outlook, Excel? Hat man schon mal gehört, aber auf Trizonia geht es ohne. Der Wirt schreibt die Rechnung noch schön auf den Block. Tsatsiki und Auberginenpaste waren dafür umwerfend.

Nein, damit wir uns recht verstehen: Ich bin nicht für die Abschaffung von Autos, Outlook, Weckern oder gerader Straßen. Aber dafür: Ein bisschen mehr Trizonia, etwas mehr Insel-Dasein in unseren Alltag zu bringen – dafür bin ich allemal.

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Soeben erschienen als Film
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                         Als Download und auf DVD: € 19,99

Was passiert, wenn das Leben die gewohnten Bahnen verlässt? 
Was geschieht, wenn man sich einfach aufmacht und fünf Monate Segeln geht? 
Darf man das? Und wie ändert sich das Leben?
Der Film einer ungewöhnlichen Reise, der Mut macht, seinen Traum zu leben.

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Der Film entstand nach diesem Buch: 
Geschichten über die Entschleunigung, übers langsam Reisen 
und die Kunst, wieder sehen zu lernen
Einmal München – Antalya, bitte. 
Das Buch: Mehr erfahren: Hier.

Unter Segeln: Auf LEVJE nachts durch den Kanal von Korinth. Oder: Im Reich der Lichter.

Am Morgen war ich von Athen aufgebrochen. Windstill begann der Tag in der verlassenen ATHENS MARINA direkt neben dem Olympia-Stadion. Ein langsames Hinaustuckern in die Sonne, vorbei an der Insel Salamis, nicht ohne mir die Bucht angesehen zu haben, in der im September vor bald 2.500 Jahren die übermächtige persische Flotte auf eine hoffnungslos unterlegene griechische Flotte getroffen war. Kaum war ich dort an dem Ort, der heute zwischen Container-Terminals, den Werften von Perama liegt und heute eher einem Schiffsfriedhof gleicht, kam der Wind: ein netter Süd mit 10, 12 Knoten, zum ersten Mal, seit ich zwischen den Inseln unterwegs bin, ein Südwind. Das bedeutete: Regen für den nächsten Tag, aber soweit war es noch nicht, der nette Süd, er schob mich mit fünfeinhalb Knoten westwärts, zum Kanal von Korinth. 

Am frühen Abend hatte der Wind weiter aufgefrischt. Ich war bis kurz vor die Kanaleinfahrt gesegelt, hatte brav drei Kabellängen davor gewendet und die Segel fallen lassen. Hatte brav den Funkkanal 11 eingestellt, mich brav eine Stunde vor Erreichen bei der CHANNEL AUTHORITY angemeldet, noch einmal brav den Wetterbericht angesehen: Starkregen für den nächsten Morgen, Regen den ganzen Tag. Und was mir gar nicht gefiel: fünf, sechs Windstärken genau in die Bucht vor dem Kanal.

Ich entschloß mich, noch am Abend die Durchfahrt zu wagen, im Dämmer, statt am nächsten Tag im Mistwetter. Vorausgesetzt, die CHANNEL AUTHORITY spielte mit. „Yes, you can pass this evening“, war die Antwort der Frauenstimme per Funk. Also legte ich LEVJE im auflandigen Wind an die Pier der CHANNEL AUTHORITY, ein grausiger Ort bei diesem Wind. Ich hatte alle Fender draußen an Steuerbord, Rod Heikell’s immer noch schätzenswertes Buch hatte mich gewarnt, es half trotzdem nichts. Die auf die Betonmole platschenden Wellen warfen LEVJE auf und ab, die Klampen ächzten fürchterlich, Festmacher zum Zerreissen gespannt. Es wurde erst besser, als ich Springs ausgebracht hatte, da schleuderte LEVJE nicht mehr gar so wild herum. Aber ich schaute trotzdem sorgenvoll in den Kanal hinein: Jetzt noch ein Frachter, der aus dem Kanal käme und genau hier an dieser Stelle wenige Meter neben LEVJE die Schrauben beschleunigte: Herausgerissene Klampen und was sonst für Bruch wären unvermeidlich. Doch der Kanal war leer. Der Frachter, den die CHANNEL AUTHORITY über Funk anpreite, war auf der anderen Seite noch fünf Seemeilen von der Einfahrt entfernt. Jetzt also los. Mit einem Sprung auf die Pier, ins Gebäude gespurtet, bei einem freundlichen Beamten für das Passieren von LEVJE’s 9,40 Meter 109,72 € bezahlt. Wie Rod Heikell schreibt: Gemessen in Euro pro Seemeilen ist der Kanal von Korinth die teuerste Wasserstraße der Welt.

Ganze dreieinhalb Seemeilen misst das Wegstück, das um 1890 ungarische Ingenieure und griechische Arbeiter über 85 Meter tief in den Fels sprengten, hackten, kratzten. Ganze dreieinhalb Seemeilen lang. Und 24,60 Meter breit. Mit 7,50 Wassertiefe. Ich hatte Zeit darüber nachzudenken, während ich auf der schwankenden LEVJE saß und auf die Freigabe zur Einfahrt wartete. Das dauert. Es dämmerte schon. Bis sich plötzlich ganz oben im Kontrollturm ein Fenster öffnete und eine Frauenstimme herunterrief: „Go! Go!“ Und mich mit der unnachahmlichen Geste griechischer Frauen von meiner wackeligen Pier hinein in den Kanal wegscheuchte. Die Brücke, die mir vorher den Weg in die Einfahrt versperrt hatte, war weg, einfach versunken in 7.50 Meter Wassertiefe. Der Weg lag frei vor mir.

Kaum war ich drin, steigen die Felswände zu beachtlicher Höhe an. Felswand links, Felswand rechts, Vor mir die mit dem Lineal gezogene Wasserstraße durch den Fels. Bäume und Büsche, die von ganz oben heruntergrüßen, manchmal auf einer der vier Brücken in luftiger Höhe ein Fußgänger, der herunterschaut, ein Hund, der in die aufkommende Nacht zu mir herunterbellt. Ich bin mit LEVJE allein im Kanal. Vor mir: Sechs Kilometer Fahrt durch den Fels.

Kaum bin ich drin, meldet sich über Funk die Frauenstimme aus dem Tower, die mit der unnachahmlich wegscheuchenden Handbewegung. Ich habe alle Hände voll zu tun. Die Pinne halten. Gleichzeitig quer durchs Cockpit mich nach dem Funkgerät recken, ich mir vorsorglich im Niedergang unter größter Dehnung das Mikro festgeklemmt. „Das nächste Mal: Nur mit Handfunke!“ Es dauert, bis ich das Mikro in der Hand habe, LEVJE derweil auf die Felswände zudriftet, weil ich die Pinne gerade noch so eben mit den Fingerspitzen halte, während ich mit der anderen vorne nach Knopf am Mikro taste. Die Botschaft der Frau mit der unnachahmlichen Geste an mich ist eindeutig: „Faster, LEVJE! Faster!“

Wieso?? Ich fahr doch hier schon mit 4,8 Knoten. Strom setzt dagegen, der Motor jault, ich gebe noch mehr Gas. Immerhin 5,3 Knoten über Grund. Jetzt quäle ich die Maschine ganz ordentlich.

Aber während ich im Kanal bin, ist die Nacht lautlos und mit einem Schlag herangeschlichen. Gelbe Lampen an den Tunnelwänden, abwechselnd links, abwechselnd rechts erleuchten meinen einsamen Weg. Die Feslwände, LEVJE’s Mast, das ganze Boot. Alles ist in rotes Licht getaucht, ein unbeschreiblicher Anblick. Passiere ich eine der Lampen, glüht LEVJE richtig auf. Mast, Wanten und Stagen, Seezaun, Dinghi: alles ist ins gelbrot der Lampen getaucht, das langsam verglimmt, wenn ich sie hinter mir lasse und LEVJE wieder in die Dunkelheit taucht.

LEVJE’s roter Mast, der hinaufragt, zur Brücke, hoch oben über mir, mit einem Scheinwerfer. Ganz versunken bin ich in den Anblick, hin und weg. Ein Fußgänger, der hoch oben zu mir heruntersieht, reglos. Als sich wieder die Frau mit der unnachahmlichen Geste meldet, unbarmherzig: „Faster, LEVJE! Faster!“

5,3 Knoten! Also wirklich! Noch mehr Gas geben wäre unverantwortlich. Was passiert eigentlich, wenn hier drin plötzlich der Motor aussetzt? Mit einem Schlag abstirbt, vielleicht noch ein einziges Mal bullernd hustet, dann unabänderlich – weg ist? Und LEVJE dann noch mit dem Schwung, den sie jetzt hat, lautlos gerade noch 211 Meter weiterläuft, langsamer wird und langsamer und dann plötzlich liegenbleibt, bei Kilometer 1,6 und auf 24,5 Meter Breite? Läßt man den Anker fallen? Teilt man der Frau mit der unnachahmlichen Handbewegung das dann mit wie APOLLO 13: „Houston, we have a problem.“? Schickt sie dann ein Lotsenboot, das LEVJE und mich ans andere Ende schleppt? Werde ich dort dann geteert und gefedert? Oder zusätzlich zu den 109€ mit Rechnungen in unfasslicher Größenordnung überschüttet?

Das Funkgerät reißt mich aus meinen Gedanken: „Faster, LEVJE! Faster!“
„Jaaajaaa.“
Das war Slobo’s Antwort, wenn es nichts mehr zu anatworten gab. Slobo, dem einer meiner ersten Posts galt und dem ich in meinem Buch ein kleines Denkmal gesetzt habe. Also gut. Weil sie es will. 5,4 Knoten jetzt.

Je weiter ich in den Kanal eindringe, je höher die Felswände links und rechts von LEVJE steigen: Um so faszinierender wird das Schauspiel der Lichter. Es ist, als wäre ich tief im Gestein der Erde unterwegs. Malereien, die die gelben Lampen auf Felswände zeichnen, gewaltige Schattenbilder rings um mich herum, neben mir auf dem Wasser. Felswände, in sanftes Rot getaucht wie vom matten Licht einer Fackel, bei der ein Steinzeit-Künstler seine Stiere an die Felsen zeichnet, seine Hand. Felswände, die zu Kino-Leinwänden werden, wenn LEVJE und ich daran vorbeifahren, dann: LEVJEs und mein Schatten an der Felswand, der uns überholt. Ein Mast, ein Bootskörper, der hinter mir als als kleiner Schatten an der Wand auftaucht, größer wird, uns langsam überholt, während wir an der Felswand entlanggleiten. Und vor uns im Dunkel wieder versinkt.

„Faster, LEVJE! Faster!“

LEVJE’s Motor gibt nun wirklich, was er hat. Er jault und jodelt, und wäre die Gegenströmung nicht: dann wären wir ganz sicher jetzt mit sechseinhalb, sieben Knoten unterwegs. Aber so: Sind es gerade mal fünfeinhalb Knoten. Was macht das. Denn das Reich der Lichter im Kanal, es hat mich gefangengenommen. Das Rot der Felswände. Das Fackelleuchten auf dem fast unbewegten Wasser. Die beiden Grüns, die am anderen Ende des Kanals langsam sichtbar werden, langsam, langsam näher kommen, eins links. Eins rechts.

Langsam verlieren die Felswände an Höhe. Hingen Buschwerk und Bäume vorher vom Kanalrand hoch über mir herunter, sind sie jetzt fast schon wieder auf meiner Höhe. Ein Nachtvogel singt. Das Rot der Lampen verschwindet, nichts mehr, das ihnen Kinoleinwand wäre, auf Nimmerwiedersehen versickert es in der umgebenden Nacht, als ich aus dem Kanal heraus bin und ins Hafenbecken des westlichen Kanalendes einfahre. Für einen Moment verliere ich die Orientierung. Nichts mehr links, nichts mehr rechts. Nur noch Dunkelheit. Und die beiden grünen Lichter vor mir.

„Faster, LEVJE! Faster!“ Wieder die Stimme.

Als ich näherkomme, sehe ich, dass auch die beiden grünen Lichter eine Brücke markieren. Eine Brücke, die im Kanal versenkt ist. Autos stehen links und rechts, mit leuchtenden Schweinwerfern, Menschen unter den grünen Lichtern. Sie warten auf – mich? Applaus brandet auf, als ich näherkomme. Es sind tatsächlich geschätzt 100 Autos, die links und rechts der grünen Lichter warten. Fahrer sind ausgestiegen. Hämischer Applaus und wütendes Geschimpfe bricht los, als ich die grünen Lichter erreiche. Ein Mann gestikuliert wütend und deutet auf seine Uhr. Vier, fünf Leute daneben klatschen. Ein Mann am anderen Ufer, der mir einen Vogel zeigt. Aus der Dunkelheit und dem Gebüsch neben mir dringt erneut Applaus. Und wie erklärt man jetzt mit freundlichen Worten seinen griechischen Mannsgenossen, dass LEVJE’s Motor ja nunmal nur seine 19 PS hat und der Faltpropeller bei Gegenströmung nicht unbedingt kraftvoller zubeißt? Ich lasse es lieber. Und denke mir: Vielleicht ist das so. Keine Schönheit, ohne dass nicht jemand dafür leiden müßte.

„Faster, LEVJE! Faster!“

Unter Segeln: Auf LEVJE nachts durch den Kanal von Korinth. Oder: ImReich der Lichter.

Am Morgen war ich von Athen aufgebrochen. Windstill begann der Tag in der verlassenen ATHENS MARINA direkt neben dem Olympia-Stadion. Ein langsames Hinaustuckern in die Sonne, vorbei an der Insel Salamis, nicht ohne mir die Bucht angesehen zu haben, in der im September vor bald 2.500 Jahren die übermächtige persische Flotte auf eine hoffnungslos unterlegene griechische Flotte getroffen war. Kaum war ich dort an dem Ort, der heute zwischen Container-Terminals, den Werften von Perama liegt und heute eher einem Schiffsfriedhof gleicht, kam der Wind: ein netter Süd mit 10, 12 Knoten, zum ersten Mal, seit ich zwischen den Inseln unterwegs bin, ein Südwind. Das bedeutete: Regen für den nächsten Tag, aber soweit war es noch nicht, der nette Süd, er schob mich mit fünfeinhalb Knoten westwärts, zum Kanal von Korinth. 

Am frühen Abend hatte der Wind weiter aufgefrischt. Ich war bis kurz vor die Kanaleinfahrt gesegelt, hatte brav drei Kabellängen davor gewendet und die Segel fallen lassen. Hatte brav den Funkkanal 11 eingestellt, mich brav eine Stunde vor Erreichen bei der CHANNEL AUTHORITY angemeldet, noch einmal brav den Wetterbericht angesehen: Starkregen für den nächsten Morgen, Regen den ganzen Tag. Und was mir gar nicht gefiel: fünf, sechs Windstärken genau in die Bucht vor dem Kanal.

Ich entschloß mich, noch am Abend die Durchfahrt zu wagen, im Dämmer, statt am nächsten Tag im Mistwetter. Vorausgesetzt, die CHANNEL AUTHORITY spielte mit. „Yes, you can pass this evening“, war die Antwort der Frauenstimme per Funk. Also legte ich LEVJE im auflandigen Wind an die Pier der CHANNEL AUTHORITY, ein grausiger Ort bei diesem Wind. Ich hatte alle Fender draußen an Steuerbord, Rod Heikell’s immer noch schätzenswertes Buch hatte mich gewarnt, es half trotzdem nichts. Die auf die Betonmole platschenden Wellen warfen LEVJE auf und ab, die Klampen ächzten fürchterlich, Festmacher zum Zerreissen gespannt. Es wurde erst besser, als ich Springs ausgebracht hatte, da schleuderte LEVJE nicht mehr gar so wild herum. Aber ich schaute trotzdem sorgenvoll in den Kanal hinein: Jetzt noch ein Frachter, der aus dem Kanal käme und genau hier an dieser Stelle wenige Meter neben LEVJE die Schrauben beschleunigte: Herausgerissene Klampen und was sonst für Bruch wären unvermeidlich. Doch der Kanal war leer. Der Frachter, den die CHANNEL AUTHORITY über Funk anpreite, war auf der anderen Seite noch fünf Seemeilen von der Einfahrt entfernt. Jetzt also los. Mit einem Sprung auf die Pier, ins Gebäude gespurtet, bei einem freundlichen Beamten für das Passieren von LEVJE’s 9,40 Meter 109,72 € bezahlt. Wie Rod Heikell schreibt: Gemessen in Euro pro Seemeilen ist der Kanal von Korinth die teuerste Wasserstraße der Welt.

Ganze dreieinhalb Seemeilen misst das Wegstück, das um 1890 ungarische Ingenieure und griechische Arbeiter über 85 Meter tief in den Fels sprengten, hackten, kratzten. Ganze dreieinhalb Seemeilen lang. Und 24,60 Meter breit. Mit 7,50 Wassertiefe. Ich hatte Zeit darüber nachzudenken, während ich auf der schwankenden LEVJE saß und auf die Freigabe zur Einfahrt wartete. Das dauert. Es dämmerte schon. Bis sich plötzlich ganz oben im Kontrollturm ein Fenster öffnete und eine Frauenstimme herunterrief: „Go! Go!“ Und mich mit der unnachahmlichen Geste griechischer Frauen von meiner wackeligen Pier hinein in den Kanal wegscheuchte. Die Brücke, die mir vorher den Weg in die Einfahrt versperrt hatte, war weg, einfach versunken im Wasser. Der Weg lag frei vor mir.

Kaum war ich drin, steigen die Felswände zu beachtlicher Höhe an. Felswand links, Felswand rechts, Vor mir die mit dem Lineal gezogene Wasserstraße durch den Fels. Bäume und Büsche, die von ganz oben heruntergrüßen, manchmal auf einer der vier Brücken in luftiger Höhe ein Fußgänger, der herunterschaut, ein Hund, der in die aufkommende Nacht zu mir herunterbellt. Ich bin mit LEVJE allein im Kanal. Vor mir: Sechs Kilometer Fahrt durch den Fels.

Kaum bin ich drin, meldet sich über Funk die Frauenstimme aus dem Tower, die mit der unnachahmlich wegscheuchenden Handbewegung. Ich habe alle Hände voll zu tun. Die Pinne halten. Gleichzeitig quer durchs Cockpit mich nach dem Funkgerät recken, ich hatte mir vorsorglich im Niedergang unter größter Dehnung das Mikro festgeklemmt. „Das nächste Mal: Nur mit Handfunke“, schwöre ich mir.  Es dauert, bis ich das Mikro in der Hand habe, LEVJE derweil auf die Felswände zudriftet, weil ich die Pinne gerade noch so eben mit den Fingerspitzen halte, während ich mit der anderen Hand  vorne nach dem Knopf am Mikro taste. Die Botschaft der Frau mit der unnachahmlichen Geste an mich ist eindeutig: „Faster, LEVJE! Faster!“

Wieso?? Ich fahr doch hier schon mit 4,8 Knoten. Strom setzt dagegen, der Motor jault, ich gebe noch mehr Gas. Immerhin 5,3 Knoten über Grund. Jetzt quäle ich die Maschine ganz ordentlich.

Aber während ich im Kanal bin, ist die Nacht lautlos und mit einem Schlag herangeschlichen. Gelbe Lampen an den Tunnelwänden, abwechselnd links, abwechselnd rechts erleuchten meinen einsamen Weg. Die Felswände, LEVJE’s Mast, das ganze Boot. Alles ist in rotes Licht getaucht, ein unbeschreiblicher Anblick. Passiere ich eine der Lampen, glüht LEVJE richtig auf. Mast, Wanten und Stagen, Seezaun, Dinghi: alles ist ins gelbrot der Lampen getaucht, das langsam verglimmt, wenn ich sie hinter mir lasse und LEVJE wieder in die Dunkelheit taucht.

LEVJE’s roter Mast, der hinaufragt, zur Brücke, hoch oben über mir, mit einem Scheinwerfer. Ganz versunken bin ich in den Anblick, hin und weg. Ein Fußgänger, der hoch oben zu mir heruntersieht, reglos. Als sich wieder die Frau mit der unnachahmlichen Geste meldet, unbarmherzig: „Faster, LEVJE! Faster!“

5,3 Knoten! Also wirklich! Noch mehr Gas geben wäre unverantwortlich. Was passiert eigentlich, wenn hier drin plötzlich der Motor aussetzt? Mit einem Schlag abstirbt, vielleicht noch ein einziges Mal bullernd hustet, dann unabänderlich – weg ist? Und LEVJE dann noch mit dem Schwung, den sie jetzt hat, lautlos gerade noch 211 Meter weiterläuft, langsamer wird und langsamer und dann plötzlich liegenbleibt, bei Kilometer 1,6 und auf 24,5 Meter Breite? Läßt man den Anker fallen? Teilt man der Frau mit der unnachahmlichen Handbewegung das dann mit wie APOLLO 13: „Houston, we have got a problem.“? Schickt sie dann ein Lotsenboot, das LEVJE und mich ans andere Ende schleppt? Werde ich dort dann geteert und gefedert? Oder zusätzlich zu den 109€ mit Rechnungen in unfasslicher Größenordnung überschüttet?

Das Funkgerät reißt mich aus meinen Gedanken: „Faster, LEVJE! Faster!“
„Jaaajaaa.“
Das war Slobo’s Antwort, wenn es nichts mehr zu anatworten gab. Slobo, dem einer meiner ersten Posts galt und dem ich in meinem Buch ein kleines Denkmal gesetzt habe. Also gut. Weil sie es will. 5,4 Knoten jetzt.

Je weiter ich in den Kanal eindringe, je höher die Felswände links und rechts von LEVJE steigen: Um so faszinierender wird das Schauspiel der Lichter. Es ist, als wäre ich tief im Gestein der Erde unterwegs. Malereien, die die gelben Lampen auf Felswände zeichnen, gewaltige Schattenbilder rings um mich herum, neben mir auf dem Wasser. Felswände, in sanftes Rot getaucht wie vom matten Licht einer Fackel, bei der ein Steinzeit-Künstler seine Stiere an die Felsen zeichnet, seine Hand. Felswände, die zu Kino-Leinwänden werden, wenn LEVJE und ich daran vorbeifahren, dann: LEVJEs und mein Schatten an der Felswand, der uns überholt. Ein Mast, ein Bootskörper, der hinter mir als als kleiner Schatten an der Wand auftaucht, größer wird, uns langsam überholt, während wir an der Felswand entlanggleiten. Und vor uns im Dunkel wieder versinkt.

„Faster, LEVJE! Faster!“

LEVJE’s Motor gibt nun wirklich, was er hat. Er jault und jodelt, und wäre die Gegenströmung nicht: dann wären wir ganz sicher jetzt mit sechseinhalb, sieben Knoten unterwegs. Aber so: Sind es gerade mal fünfeinhalb Knoten. Was macht das. Denn das Reich der Lichter im Kanal, es hat mich gefangengenommen. Das Rot der Felswände. Das Fackelleuchten auf dem fast unbewegten Wasser. Die beiden Grüns, die am anderen Ende des Kanals langsam sichtbar werden, langsam, langsam näher kommen, eins links. Eins rechts.

Langsam verlieren die Felswände an Höhe. Hingen Buschwerk und Bäume vorher vom Kanalrand hoch über mir herunter, sind sie jetzt fast schon wieder auf meiner Höhe. Ein Nachtvogel singt. Das Rot der Lampen verschwindet, nichts mehr, das ihnen Kinoleinwand wäre, auf Nimmerwiedersehen versickert es in der umgebenden Nacht, als ich aus dem Kanal heraus bin und ins Hafenbecken des westlichen Kanalendes einfahre. Für einen Moment verliere ich die Orientierung. Nichts mehr links, nichts mehr rechts. Nur noch Dunkelheit. Und die beiden grünen Lichter vor mir.

„Faster, LEVJE! Faster!“ Wieder die Stimme.

Als ich näherkomme, sehe ich, dass auch die beiden grünen Lichter eine Brücke markieren. Eine Brücke, die im Kanal versenkt ist. Autos stehen links und rechts, mit leuchtenden Schweinwerfern, Menschen unter den grünen Lichtern. Sie warten auf – mich? Applaus brandet auf, als ich näherkomme. Es sind tatsächlich geschätzt 100 Autos, die links und rechts der grünen Lichter warten. Fahrer sind ausgestiegen. Hämischer Applaus und wütendes Geschimpfe bricht los, als ich die grünen Lichter erreiche. Ein Mann gestikuliert wütend und deutet auf seine Uhr. Vier, fünf Leute daneben klatschen. Ein Mann am anderen Ufer, der mir einen Vogel zeigt. Aus der Dunkelheit und dem Gebüsch neben mir dringt erneut Applaus. Und wie erklärt man jetzt mit freundlichen Worten seinen griechischen Mannsgenossen, dass LEVJE’s Motor ja nunmal nur seine 19 PS hat und der Faltpropeller bei Gegenströmung nicht unbedingt kraftvoller zubeißt? Ich lasse es lieber. Und denke mir: Vielleicht ist das so. Keine Schönheit, ohne dass nicht jemand dafür leiden müsste.

„Faster, LEVJE! Faster!“

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Und wenn Ihnen diese Geschichte gefallen hat:

Soeben erschienen vom Autor von Mare Pius als Film
für Download und auf DVD:


                         Als Download und auf DVD: € 19,99

Was passiert, wenn das Leben die gewohnten Bahnen verlässt? 
Was geschieht, wenn man sich einfach aufmacht und fünf Monate Segeln geht? 
Darf man das? Und wie ändert sich das Leben?
Der Film einer ungewöhnlichen Reise, der Mut macht, seinen Traum zu leben.

Mehr erfahren. Filmtrailer ansehen. Bestellen. Hier.

Der Film entstand nach diesem Buch: 
Geschichten über die Entschleunigung, übers langsam Reisen 
und die Kunst, wieder sehen zu lernen
Einmal München – Antalya, bitte. 
Das Buch: Mehr erfahren: Hier.

Menschen am Meer: Kostas. Hafenmeister auf Spetses.

Manchmal: Da begegnet man einem Menschen, und man weiß gar nicht, wie einem geschieht.
Kennt man sich aus einem früheren Leben?
Ist man sich schon mal begegnet?
Strahlten in der Minute der Geburt hell die gleichen Gestirne?
Was ist es, was Verstehen und Verständigung zwischen zwei Menschen möglich macht ganz ohne Worte?
Ich weiß es nicht. Nur das: Jenseits von Sprache, Inhalt, Herkunft, Rang gibt es etwas, das Verstehen möglich macht, ganz ohne Worte und Zeichen. Vieles, was man eben noch im Kopf hatte, was zu tun, zu erledigen, dringlich hinzubekommen wäre, ist im Moment einer solchen Begegnung zweitrangig, es zählt nicht mehr. Und dann ist da nur noch ein Gegenüber, das tief vertraut ist, obwohl ich dieses Gegenüber gerade mal zwei Sekunden kenne. Und so erging es mir mit Kostas.

Drei, vier Tage war ich in der Bucht im Osten von Spetses geblieben, da wo Spetses und Spetsoupola, die Privatinsel des Reeders Niarchos, sich am nächsten kommen. Drei, vier Tage, bis ich mich auf den Weg machte, um nach einem Liegeplatz im Hafen von Spetses zu suchen. Und weil es in der Hafenbucht Ormos Baltizas sehr eng zugeht, unternahm ich meine Erkundungstour zu Fuß, ließ LEVJE einfach in der Bucht zurück und wackelte die drei Kilometer zu Fuß/per Anhalter im Elektro-Golfcart nach Spetses.

Die ersten fünf, sechs Werftbesitzer, die ich nach einem Liegeplatz fragte, lehnten ab. Zu voll. Zu eng. Zu seicht das Wasser. Zu ausgebucht jetzt. Kopfschütteln in verschiedenen Farben und Formen. Ich schlich mich auf die andere Seite des Hafens, auf die Ostseite. Im Werftladen Kopfschütteln. Zwei Marineros weiter ebenso. Ich kam langsam ans Ortsende, die Häuser wichen einem kleinen Kiefernwäldchen, eigentlich ist hier nichts mehr – oder doch? Da war ein Weg, der vom Wasser wegführte, hügelan, zum Leuchtturm. Fast wollte ich schon aufgeben, aber der Weg führte zum Wasser zurück auf eine Betonpier. Da lagen Segelyachten. Und da stand: Kostas, Hafenmeister.

Ob er denn einen Platz hätte? Ja, klar. Und ob er eine Mooring hätte, ich müsste meine Ankerwinsch zerlegen und bräuchte Ersatzteile? Hm. Auch das. Wie lange ich denn bleiben wolle? Und wenn ich käme: dann bitte bleiben und nicht dauernd rein und raus. Sprachs. Und stapfte weiter. Ich quengelte weiter: Was denn das kosten würde, für zehn Meter Schiffslänge? Kostas blieb stehen und sah mich an: „You give me, what you want to give.“ Und stapfte weiter.

Damit hatte ich Denkstoff für den späten Nachmittag genug. Gibts das? Einer der nicht das Maximum rausholt? Einer der sagt: „Gib mir, was Du willst.“? Ich war jedenfalls zufrieden und machte mich am nächsten Vormittag auf den Weg zu Kostas Mole. Da hing ich dann zuerst an einem anderen Schiff. Ohne Buganker. Heck zur Pier. Im ständigen Geschaukel der mit unanständiger Geschwindigkeit vorbeidonnernden Wassertaxis. Mir war Angst und Bang. Um LEVJE. Und was würde erst, wenn der Wind heute Nacht mit angekündigten 5-6 bft. in den Hafen stünde? „Don’t worry, be happy“, brummte Kostas, und zog sich unter das Dach seines schneeweißen Fischerbootes zurück, von wo er alles im Blick hatte. Nix happy – was mach ich bloß? Kann das hinhauen, dies griechische „alles wird gut?“, ganz ohne eigenes Mühen und sich kümmern? Ich hatte arge Zweifel.

Der Nachmittag verstrich. Die Mooring, die ich bekommen sollte, war belegt mit einer Yacht mit Baterrieschaden, den die Crew eben beschlossen hatte, mit einem Besuch im weltberühmten Epidaurus per Auto zu krönen. „Ich-brauch-die-Mooring“, hämmerte mein Hirn. Kostas linste unter seinem Sonnensegel hervor. Es wurde Abend. Da erschien Kostas, nach gebotener Zeit des Nachdenkens. Stieg auf ein Schlauchboot, das an der Pier lag, verlegte es auf die andere Seite und strahlte mich an: „Here is your Mooring!“. Und so kam ich zu meinem Platz in Kostas‘ Hafen.

Spetses und Kostas‘ Hafenmole: Noch nie habe ich in einem Hafen ein derartiges Durcheinander erlebt. Kaum lag ich fest, dirigierte Kostas die riesige BILMAR genau neben mich. Kaum lag die fest, legten drei, vier, fünf andere Motoryachten ihre Anker über den der BILMAR. Und noch einer. Und noch eine Yacht, 15 Meter vor der BILMAR, mitten in der Hafeneinfahrt. Kostas Aufgabe bestand darin, aus seiner Betonmole mit ihren klar viereckigen Abmessungen möglichst viel Platz für Boote herauszuholen. Und so lagen jeden Abend die Boote im Halbkreis um Kostas‘ Mole, Heck zur Pier und übles Geschaukel mit jedem roten Wassertaxi, das nah vorbeibrauste. Und Kostas‘ Flüche weckte. „Don’t worry, be happy.“


Unsere Konversation beschränkte sich überhaupt auf einfache Äußerungen. Sah er mich, rief er einfach nur laut, dass jedermann auf der Pier es hören konnte: „Jermanooooz“. „Deutscher“. Was ich mit einem ebenso lauten „Elljinaaaaaz“, „Grieche“, beantwortete. Worauf wir uns verständnisinnig angrinsten. Vielleicht lag es daran, dass er die Tiere an seinem Steg liebte: Ständig wuselten auf seinem Steg fünf Katzen herum, ich lernte das griechische Wort für Katze, nämlich „Rata“, und als Kostas Brot brauchte, weil die 20 Gänse von Spetses mal wieder an seiner Mole haltmachten und herumschwammen wie auf einem Dorfteich, half ich ihm aus und gab ihm, was an Brot noch auf LEVJE war. Sonst nahm Kostas nichts an von niemand und von mir auch nicht, keine Melone, keine eiskalte Bierdose. Die ersten zwei Tage jedenfalls nicht. Am dritten aber nahm er abends meine Bierdose an. Da saßen wir dann, in der Abenddämmerung, auf seiner Parkbank auf der Pier. Wir redeten wenig, tranken unser Bier und schauten aufs Wasser und die Boote, die ihre Anker und Ketten kunterbunt übereinander warfen, und die Welt drehte sich in diesem Moment in der richtigen Richtung.

Vom nächsten Tag an besuchte ich Kostas öfter auf seinem Fischerboot unter dem blauen Sonnensegel. Da steckte er, wenn ihn etwas ärgerte und wenn ihm einfach zu heiß war. Hin und wieder saßen wir da, „Jermanoooz“ und „Elljinaaaaaz“, schauten aufs Wasser und redeten wenig. Als ich ihn fragte, warum er denn das mache, mit der Pier, den Job als Hafenmeister, sagte er: „I want to help people.“ Fuhr ein Fischer vorbei, brüllte er ihm etwas Unverständliches zu, ein lautes „Kaptanjeeeeee“ oder irgendetwas, das ich nicht verstand.

Am Montag war das Ersatzteil für meine Winsch aus Athen da, das ich Samstag Mittag um halb eins – so geht Griechenland! – telefonisch in Athen bei NAVTILUS bestellt hatte. Kostas organisierte mir binnen drei Minuten einen Motorroller, damit ich das Teil vom Kurierdienst holen konnte. Nach einem halben Tag tat die Ankerwinsch wieder, und zwei Tage später habe ich Spetses verlassen. Kostas stand auf der Pier und rief sein „Jermaneeeeeeeee“ und ich mein „Elljinaaaaaaz“ – aber das dauerte nicht lang, denn ich hatte den Patzer meines Lebens gebracht: War langsam aus der Box getuckert – und hatte vorher – ich weiß nicht, was mich geritten hat – die Mooring nicht losgeworfen! Also endete das  „langsam aus der Box tuckern“ schon gleich nach der Box. LEVJE drehte einen Halbkreis, Kostas begann auf der Pier zu schimpfen, ich schalt mich einen Idioten.
Aber vielleicht: War das ja alles so richtig mit der Mooring, die mich festhalten wollte, auf Spetses, und bei Kostas, an seiner Pier.

Ganz sicher ist: Dass unsere Seele machmal mehr weiß als wir selbst.


Übrigens: Kostas ist seit 35 Jahren in Spetses. Bis Oktober steht er noch auf seiner Pier in Spetses. Über den Winter hilft er, Boote ausbessern, hier in Spetses, in Porto Cheli und Ermioni auf dem Festland – wenn es gerade nicht zuviel regnet. Auf meine Frage, wie lange er das denn noch machen wolle, meinte er: „Twentythree years.“ Dann wäre Kostas achzig…
 

 
Und wenn Ihnen diese Geschichte gefallen hat:
In diesem Buch gibts mehr davon: Geschichten über die Entschleunigung, übers langsam Reisen und die Kunst, wieder zu sehen, wer und was einem da gegenüber sitzt:

Einmal München nach Antalya.

Mehr erfahren: Hier.

Demnächst auch als Film:
Mehr erfahren: Hier.

 

Menschen am Meer: Kostas. Hafenmeister auf Spetses.

Manchmal: Da begegnet man einem Menschen, und man weiß gar nicht, wie einem geschieht. 
Kennt man sich aus einem früheren Leben? 
Ist man sich schon mal begegnet? 
Strahlten in der Minute der Geburt hell die gleichen Gestirne?
Was ist es, was Verstehen und Verständigung zwischen zwei Menschen möglich macht ganz ohne Worte?
Ich weiß es nicht. Nur das: Jenseits von Sprache, Inhalt, Herkunft, Rang gibt es etwas, das Verstehen möglich macht, ganz ohne Worte und Zeichen. Vieles, was man eben noch im Kopf hatte, was zu tun, zu erledigen, dringlich hinzubekommen wäre, ist im Moment einer solchen Begegnung zweitrangig, es zählt nicht mehr. Und dann ist da nur noch ein Gegenüber, das tief vertraut ist, obwohl ich dieses Gegenüber gerade mal zwei Sekunden kenne. Und so erging es mir mit Kostas.

Drei, vier Tage war ich in der Bucht im Osten von Spetses geblieben, da wo Spetses und Spetsoupola, die Privatinsel des Reeders Niarchos, sich am nächsten kommen. Drei, vier Tage, bis ich mich auf den Weg machte, um nach einem Liegeplatz im Hafen von Spetses zu suchen. Und weil es in der Hafenbucht Ormos Baltizas sehr eng zugeht, unternahm ich meine Erkundungstour zu Fuß, ließ LEVJE einfach in der Bucht zurück und wackelte die drei Kilometer zu Fuß/per Anhalter im Elektro-Golfcart nach Spetses.

                                                                          Weiterlesen bei: Die vergessenen Inseln. Spetses.

Die ersten fünf, sechs Werftbesitzer, die ich nach einem Liegeplatz fragte, lehnten ab. Zu voll. Zu eng. Zu seicht das Wasser. Zu ausgebucht jetzt. Kopfschütteln in verschiedenen Farben und Formen. Ich schlich mich auf die andere Seite des Hafens, auf die Ostseite. Im Werftladen Kopfschütteln. Zwei Marineros weiter ebenso. Ich kam langsam ans Ortsende, die Häuser wichen einem kleinen Kiefernwäldchen, eigentlich ist hier nichts mehr – oder doch? Da war ein Weg, der vom Wasser wegführte, hügelan, zum Leuchtturm. Fast wollte ich schon aufgeben, aber der Weg führte zum Wasser zurück auf eine Betonpier. Da lagen Segelyachten. Und da stand: Kostas, Hafenmeister.

Ob er denn einen Platz hätte? Ja, klar. Und ob er eine Mooring hätte, ich müsste meine Ankerwinsch zerlegen und bräuchte Ersatzteile? Hm. Auch das. Wie lange ich denn bleiben wolle? Und wenn ich käme: dann bitte bleiben und nicht dauernd rein und raus. Sprachs. Und stapfte weiter. Ich quengelte weiter: Was denn das kosten würde, für zehn Meter Schiffslänge? Kostas blieb stehen und sah mich an: „You give me, what you want to give.“ Und stapfte weiter.

Damit hatte ich Denkstoff für den späten Nachmittag genug. Gibts das? Einer der nicht das Maximum rausholt? Einer der sagt: „Gib mir, was Du willst.“? Ich war jedenfalls zufrieden und machte mich am nächsten Vormittag auf den Weg zu Kostas Mole. Da hing ich dann zuerst an einem anderen Schiff. Ohne Buganker. Heck zur Pier. Im ständigen Geschaukel der mit unanständiger Geschwindigkeit vorbeidonnernden Wassertaxis. Mir war Angst und Bang. Um LEVJE. Und was würde erst, wenn der Wind heute Nacht mit angekündigten 5-6 bft. in den Hafen stünde? „Don’t worry, be happy“, brummte Kostas, und zog sich unter das Dach seines schneeweißen Fischerbootes zurück, von wo er alles im Blick hatte. Nix happy – was mach ich bloß? Kann das hinhauen, dies griechische „alles wird gut?“, ganz ohne eigenes Mühen und sich kümmern? Ich hatte arge Zweifel.

Der Nachmittag verstrich. Die Mooring, die ich bekommen sollte, war belegt mit einer Yacht mit Baterrieschaden, den die Crew eben beschlossen hatte, mit einem Besuch im weltberühmten Epidaurus per Auto zu krönen. „Ich-brauch-die-Mooring“, hämmerte mein Hirn. Kostas linste unter seinem Sonnensegel hervor. Es wurde Abend. Da erschien Kostas, nach gebotener Zeit des Nachdenkens. Stieg auf ein Schlauchboot, das an der Pier lag, verlegte es auf die andere Seite und strahlte mich an: „Here is your Mooring!“. Und so kam ich zu meinem Platz in Kostas‘ Hafen.

Spetses und Kostas‘ Hafenmole: Noch nie habe ich in einem Hafen ein derartiges Durcheinander erlebt. Kaum lag ich fest, dirigierte Kostas die riesige BILMAR genau neben mich. Kaum lag die fest, legten drei, vier, fünf andere Motoryachten ihre Anker über den der BILMAR. Und noch einer. Und noch eine Yacht, 15 Meter vor der BILMAR, mitten in der Hafeneinfahrt. Kostas Aufgabe bestand darin, aus seiner Betonmole mit ihren klar viereckigen Abmessungen möglichst viel Platz für Boote herauszuholen. Und so lagen jeden Abend die Boote im Halbkreis um Kostas‘ Mole, Heck zur Pier und übles Geschaukel mit jedem roten Wassertaxi, das nah vorbeibrauste. Und Kostas‘ Flüche weckte. „Don’t worry, be happy.“

Unsere Konversation beschränkte sich überhaupt auf einfache Äußerungen. Sah er mich, rief er einfach nur laut, dass jedermann auf der Pier es hören konnte: „Jermanooooz“. „Deutscher“. Was ich mit einem ebenso lauten „Elljinaaaaaz“, „Grieche“, beantwortete. Worauf wir uns verständnisinnig angrinsten. Vielleicht lag es daran, dass er die Tiere an seinem Steg liebte: Ständig wuselten auf seinem Steg fünf Katzen herum, ich lernte das griechische Wort für Katze, nämlich „Rata“, und als Kostas Brot brauchte, weil die 20 Gänse von Spetses mal wieder an seiner Mole haltmachten und herumschwammen wie auf einem Dorfteich, half ich ihm aus und gab ihm, was an Brot noch auf LEVJE war. Sonst nahm Kostas nichts an von niemand und von mir auch nicht, keine Melone, keine eiskalte Bierdose. Die ersten zwei Tage jedenfalls nicht. Am dritten aber nahm er abends meine Bierdose an. Da saßen wir dann, in der Abenddämmerung, auf seiner Parkbank auf der Pier. Wir redeten wenig, tranken unser Bier und schauten aufs Wasser und die Boote, die ihre Anker und Ketten kunterbunt übereinander warfen, und die Welt drehte sich in diesem Moment in der richtigen Richtung.

Vom nächsten Tag an besuchte ich Kostas öfter auf seinem Fischerboot unter dem blauen Sonnensegel. Da steckte er, wenn ihn etwas ärgerte und wenn ihm einfach zu heiß war. Hin und wieder saßen wir da, „Jermanoooz“ und „Elljinaaaaaz“, schauten aufs Wasser und redeten wenig. Als ich ihn fragte, warum er denn das mache, mit der Pier, den Job als Hafenmeister, sagte er: „I want to help people.“ Fuhr ein Fischer vorbei, brüllte er ihm etwas Unverständliches zu, ein lautes „Kaptanjeeeeee“ oder irgendetwas, das ich nicht verstand.

Am Montag war das Ersatzteil für meine Winsch aus Athen da, das ich Samstag Mittag um halb eins – so geht Griechenland! – telefonisch in Athen bei NAVTILUS bestellt hatte. Kostas organisierte mir binnen drei Minuten einen Motorroller, damit ich das Teil vom Kurierdienst holen konnte. Nach einem halben Tag tat die Ankerwinsch wieder, und zwei Tage später habe ich Spetses verlassen. Kostas stand auf der Pier und rief sein „Jermaneeeeeeeee“ und ich mein „Elljinaaaaaaz“ – aber das dauerte nicht lang, denn ich hatte den Patzer meines Lebens gebracht: War langsam aus der Box getuckert – und hatte vorher – ich weiß nicht, was mich geritten hat – die Mooring nicht losgeworfen! Also endete das  „langsam aus der Box tuckern“ schon gleich nach der Box. LEVJE drehte einen Halbkreis, Kostas begann auf der Pier zu schimpfen, ich schalt mich einen Idioten. 
Aber vielleicht: War das ja alles so richtig mit der Mooring, die mich festhalten wollte, auf Spetses, und bei Kostas, an seiner Pier. 

Ganz sicher ist: Dass unsere Seele machmal mehr weiß als wir selbst.

Übrigens: Kostas ist seit 35 Jahren in Spetses. Bis Oktober steht er noch auf seiner Pier in Spetses. Über den Winter hilft er, Boote ausbessern, hier in Spetses, in Porto Cheli und Ermioni auf dem Festland – wenn es gerade nicht zuviel regnet. Auf meine Frage, wie lange er das denn noch machen wolle, meinte er: „Twentythree years.“ Dann wäre Kostas achzig…

Und wenn Ihnen diese Geschichte gefallen hat:
In diesem Buch gibts mehr davon: Geschichten über die Entschleunigung, übers langsam Reisen und die Kunst, wieder zu sehen, wer und was einem da gegenüber sitzt:

Einmal München nach Antalya.

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Demnächst auch als Film:
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Die vergessenen Schiffe: Unterwegs mit dem FLYING DOLPHIN zwischen den vergessenen Inseln.

Ist man in Griechenland unterwegs von einer vergessenen Insel zur anderen, dann ist für den Inselhopper der  FLYING DOLPHIN, das Tragflügelboot, das schnellste Reisemittel. Von Spetses nach Athen sind es mit dem Auto vier Stunden, per Katamaran-Fähre zweieinhalb Stunden – und mit dem FLYING DOLPHIN etwas über zwei. Und dabei genießt man das einzigartige Erlebnis, in eine Technik einzusteigen, die es heute so gar nicht mehr gibt. Ein bisschen ist es, als wäre man mit der CONCORDE unterwegs, dem Technik-Denkmal der Sechziger und Siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts, einer Technik-Ikone, die nur von einem kündet: dem Glauben daran, dass technisch alles, wirklich alles hinzukriegen ist.

Betritt man den engen Bootskörper des FLYING DOLPHIN, der an der Kaimauer schaukelt und schwankt, dann empfängt den Reisenden zweierlei: Die Enge der geschlossenen Röhre, angefüllt mit dem wohligen Geruch nach Diesel und Schmiermittel. Ein Geruch, den Teppiche, Sitze, Sessel in einem FLYING DOLPHIN in den 30, 40 Jahren seiner Nutzung so ausgesetzt waren, dass er diesen vollkommen Unbeteiligten nun auch schon zu eigen wurde. Das Verstauen des Gepäcks in der kleinen Kammer am Einstieg durch ein Besatzungsmitglied ist jedes Mal ein Abenteuer: Der Reisende wird nicht nach der Größe seines Gepäckstücks befragt; sondern danach, wo er hin will. Ist das der letzte Ort auf der Fahrt, kommt das Gepäckstück ganz zuunterst. Alles andere kommt obendrüber, und man darf nicht zu mitfühlend mit der eigenen Bagage sein: Wer zuletzt aussteigt, liegt zuunterst, basta. 

Noch an der Pier wird der FLYING DOLPHIN bei laufendem Motor betankt. Ein Wummern in der engen Röhre von vielen PS, die in den beiden betagten Motoren herumtoben und herumtollen. Tragflächenboote sind eine relativ alte Erfindung, sie kamen, als die ersten Autos über die Straßen rumpelten, Anfang des 20. Jahrhunderts auf. Es ist kein Zufall, dass ein Italiener sie erfand. Kein Zufall deshalb, weil das Italien jener Jahre am ungebremstesten dem Futurismus fröhnte, dem Glaubend daran, dass die Zukunft ja nur eines bringen könne: Das Paradies, erwachsen aus Fortschritt. Aber schon bald beschäftigten sich nur noch Militärs mit der Idee, dass man mit etwas Geschwindigkeit auf zwei kleinen Flügeln fast ohne Widerstand übers Wasser fliegen könne. Deutsche, Engländer, Russen, Amerikaner, selbst der legendäre Felix Wankel war so hingerissen, dass er seinen sagenhaften WANKEL-Motor in ein übers Wasser auf Gleitkufen dahinschießendes Etwas namens ZISCH-2 verbaute. Die Tragflügelboote hatten den Weg in die zivile Nutzung gefunden.

Und unser FLYING DOLPHIN? Mittlerweile nebelt der Ausstoß seiner riesigen schwarzen Qualmwolken die kleinen Verkaufsbuden auf der Pier ein, als wir im Hafenbecken drehen. Kaum legt einer der beiden Piloten oben in der engen Steuerkanzel den Gang ein, macht der FLYING DOLPHIN einen Satz nach vorne. Schiere Kraft, schiere PS schon im Leerlauf, noch ohne dass jemand überhaupt am Gashebel gezupft hätte. Der FLYING DOLPHIN ist ein Kind einer Zeit, in der die Frage nach Spritverbrauch oder Umweltverträglichkeit überhaupt noch nicht erfunden war. „Wir wollen ein möglichst schnelles Transportmittel bauen, das von A nach B übers Wasser fliegt“ lautete die Aufgabe. Und los gings.

Die schwarzen Qualmwolken werden nun wirklich beängstigend, als der Pilot an den Gashebeln spielt und den FLYING DOLPHIN mit der römischen Nummer XVIII aus der Drehung in Fahrt bringt.. Ein Donnern, ein Heulen, ein Pfeiffen aus dem hinteren Viertel des FLYING DOLPHIN, das allein die Motoren bewohnen in einem Reich, das kein Reisender stört. Die Röhre vibriert, der kleine Fernseher, der vorne auf einer Konsole steht, ist mit zwei roten Gurtbändern, wie sie muskulöse Klavier-Transporteuren nutzen, gesichert. Noch mehr Gas, noch mehr Dieselgeruch im Inneren, der Lärm der Vibrationen von allem, was beschlossen hat, im Takt der Kolben nun auch mitzuschwingen: Fensterscheiben, Türen, Innenverkleidungen, Sitze: ein einziges Schwingen, ein einziger Freischwinger, als der Pilot an der Hafenausfahrt erst richtig Gas gibt.

Und dann passiert auch das Wunderbare: Der Rumpf des Tragflügelbootes hebt sich langsam, langsam aus dem Wasser, solange, bis die halbe Fußballfeld große Blechzigarre über dem Wasser schwebt und nur noch auf den metergroßen Flügeln durchs Wasser gleitet, eine feine Schaumspur hinter sich herziehend: Mit sagenhaften 35 Knoten, also über sechzig Stundenkilometer. Ein Brüllen, während der FLYING DOLPHIN roh wie ein ungefederter Güterwaggon über die spiegelglatte See rumpelt und sich leise wiegend elegant wie ein Wasserskifahrer in die Kurven legt.

Aber plötzlich nimmt das Vibrieren ins ungeahnte zu, der Lärm wird infernalisch, die Passagiere halten sich die Ohren zu vor Lärm, fast, dass sie um Gnade betteln, die dann auch der Pilot keine fünf Minuten später erlösend gewährt, indem er mitten auf dem offenen Meer den Motor drosselt, Fahrt herausnimmt. Und dann liegen wir auf dem offenen Meer. Der Motor wummert, der FLYING DOLPHIN schaukelt reglos auf dem Meer, während ein Schiffsmechaniker im ölig-grauen Werkstatt-Overall – jawoll, auch der gehört fest zur Besatzung des kleinen Gefährts – mit einem riesigen Schraubenschlüssel nach hinten in den Motorraum eilt. Die griechischen Passagiere des FLYING DOLPHIN scheinen derlei gewohnt, kaum einer, der von seiner Zeitung aufschaut, als abgehackt eine Entschuldigung der Stewardess über die Bordlautsprecher knackt. Dann gibt der Pilot etwas Gas. Aber das Vibrieren ist immer noch infernalisch, ich rechne fest damit, dass gleich in der Decke der Aluminiumhaut des FLYING DOLPHIN ein Riß klaffen und der FLYING DOLPHIN auseinanderbrechen wird wie die TITANIC. Wieder nimmt der Pilot die Fahrt aus dem Gefährt, die Passagiere bangen nun mit dem Mechaniker im verschmierten Overall, ein Bulle von Mann, er wirds schon richten. Nach fünf Minuten nimmt der FLYING DOLPHIN wieder zaghaft Fahrt auf, mehr, dann noch mehr. Vibrieren weg. Jetzt schießt die Blechzigarre wieder mit Vollgas über die Wellen, die sich jetzt aufbauen, das Vibrieren ist wieder auf Normalmaß reduziert. Bugs, die man noch mit großem Schraubenschlüssel in der Hand eines Bullen reparieren kann: Wo gibts denn das heute noch?

Und so schießt der FLYING DOLPHIN jetzt wieder dahin. Seegang hat sich aufgebaut. Es ist, als wäre man auf einen Preßlufthammer geschnallt, der sich sanft von links nach rechts und rechts nach links wiegt, während er in seiner engen Röhre auf und ab hämmert. An Schlaf ist nicht zu denken. An schreiben dreimal nicht, die Tastatur vor mir würde hüpfen. Es macht aber alles nichts, denn zu schön, zu urtümlich ist die Reise in der engen Blechröhre. Und ich bedauere nur eins: Dass es mir nie möglich war, einmal an Bord einer CONCORDE mitzufliegen. Aber für alle, denen es ja so geht wie mir: gibt es zwischen den vergessenen Inseln ja den FLYING DOLPHIN, den kleinen Bruder der wunderschönen großen Hübschen. Um mal zu sehen, wie das war, damals in den Sechzigern, mit moderner Technik.