Heute in Griechenland (11): Was man von Griechenland lernen könnteindiesen Tagen.
Irgendwann in diesen Tagen wird es soweit sein, dass zum 100.000mal ein Leser auf MARE PIU klickt. Das ist natürlich ein seltenes Jubiläum, etwas, worauf ich, worauf wir über ein Jahr gewartet haben. Und um dem Tag die richtige, dem Ereignis angemessene Würde zu verleihen, haben wir uns für heute in unserer Artikelserie HEUTE IN GRIECHENLAND für unseren 11. Post etwas Milde und Nachdenklichkeit verordnet. Seien wir also zurückhaltend zumindest für den heutigen Tag nach diesen Wochen verbitternder Diskussion zwischen Nordeuropäern und Griechen, die gleichermaßen zu wissen schienen, woran dies Land nun wirklich zu kranken scheint.
Übersehen wir also zumindest für diesen einen Tag die Rohbauten, die überall rottend am Meer herumstehen.
Schauen wir einfach hinweg über die tollen Ferien-Anlagen, die brandneu fertiggestellt ihr Dasein als leblose Geisterstädte verfallend fristen.
Blicken wir hinweg über eine ungeheure Vielzahl an Betonmonumenten vielerlei Art, die uns alle nur das eine sagen: Dass dies Land irgendwie seine liebe Not hat mit Großprojekten aller Art.
Verdrängen wir für einen Moment, wieviele Hochbegabte, gut Ausgebildete dieses Land jeden Monat verlassen, Ärzte, Programmierer: weil sie hier keine adäquate Beschäftigung finden.
Legen wir gnädig einen Schleier des Schweigens über jene Schreihälse unter griechischen Politikern, die – wer weiß, aus welchem Spieltrieb heraus – europäische Kollegen als „Terroristen“ bezeichneten und das Land isolierten.
Freuen wir uns, dass sich die Wogen auf dem Meer vor Agios Nikolaos und in der Presse beruhigt haben und die Brecher jetzt gerade woanders als mit Kraft ans Ufer schlagen. Und denken wir für einen Moment darüber nach: Was man lernen könnte, in diesen Tagen, von Griechenland und den Griechen.
„Griechenland ist immer noch ein wunderbares Land,
um abzuhängen.“
Was eine deutsche Touristin gestern so schön formulierte, enthält einfach einen wahren Kern. Oder gleich mehrere: Man wird in Ruhe gelassen, in diesem Land. Keiner dreht einem irgendwo etwas an oder fragt, ob’s denn nun nach dem Essen auch noch ein doppelter Espresso sein dürfe. Die Männer in diesem Land sind noch Teddybären und haben eben nicht sieben Jahre „Vertrieb“ auf dem Buckel. In Restaurants – wie oben in Paleokastro ganz im Osten von Kreta – geht es beschaulich zu. Alles ist etwas verlangsamt und eben noch nicht vertriebsorientiert. Und dafür sitzt man dann über seinem 47. Tsatsiki während dieses Griechenland-Aufenthalts, zieht genüsslich die Joghurt-Gurken-kühle Gabel über die Zunge und ist der Meinung: dies sei ja nun wirklich das allerbeste Tsatsiki, das man auf dieser Reise serviert bekommen habe.
„So ganz habe ich es noch nicht raus:
Aber für Griechen scheint Geld eine andere Währung
zu sein als für den Rest der Welt.“
Haben Sie sich schon einmal gefragt: Was Geld für Sie bedeutet? Welchen Betrag Sie zum Beispiel im Portemonnaie haben müssen, um sich sicher zu fühlen, wenn Sie durch die Straßen ihrer Stadt laufen? 200 Euro? 100 Euro? 30 Euro?
Ab wann Sie nervös werden und nach dem nächsten Bankautomaten schielen, weil die „magische Grenze“ unterschritten ist?
Haben sie sich schon mal gefragt: Welcher Betrag täte mir richtig weh, wenn ich ihn auf der Straße verlieren würde? 10 Euro? 50 Euro? Nichts dergleichen?
In den zurückliegenden Wochen der Krise war es zumindest hier in Agios Nikolaos bewundernswert, wie die Griechen sich im Alltag mit dem herumschlugen, was im Ausland so schön „Kapitalverkehrskontrollen“ heißt. An den Geldautomaten zu gehen, und der spuckt täglich nur mehr 60 Euro für mich aus. Manchen von uns würde allein schon das Gefühl der Limitierung, nicht mehr im „Unbegrenzten“ leben zu können, an den Rand des Wahnsinns treiben.
Tatsächlich blieben die Griechen, die ich beobachten konnte, erstaunlich gelassen. Das hat einerseits damit zu tun, dass 60 Euro täglich, wie Mikhalis Farsaris im Interview sagte, für den durchschnittlichen Griechen eine Menge Geld seien, immerhin 1.800 Euro monatlich.
Weiterlesen bei: Mikhalis Farsaris. Was ein Manager sagt. Hier.
Lassen wir einmal außer Acht, dass die Griechen schon die letzten fünf Jahre in der Gewißheit verbrachten, dass ihnen demnächst – finanztechnisch – der Himmel auf den Kopf fällt. Dass alle sich vorbereitet haben. Die Kopfkissen mit Banknoten füllten. Auslandskonten anlegten. Konten am Wohnort bei möglichst drei bis vier Banken unterhalten (das ergibt dann beim morgendlichen Rundgang von Bankautomat zu Bankautomat für Cleverles statt 60 Euro schon mal 180 Euro, darüber spricht man nicht!). Wohlgemerkt: alles hier in Agios Nikolaos auf Kreta, nicht Athen oder Thessaloniki. Lassen wir dies alles außer Acht, denn der Kern ist ein anderer, nämlich: „Wofür soll ich hier schon 180 Euro brauchen?“. Geld ist in Griechenland etwas anderes als in Deutschland. Mit „Geld“ scheint es in Griechenland wie mit „Auto“ zu sein. Ein bisschen was davon ist immer da. Aber lebensnotwendig ist beides nicht.
Und das färbt wohltuend auch in diesen Tagen auf das Reiseland ab. Alles läuft einfach weiter. Weil es auf das, wovon halt jeden Tag „ein bisschen da sein muss“, nun wirklich nicht ankommt.
„Bei der gegenwärtigen Krise handelt es sich
weniger um eine ökonomische,
sondern um eine Krise der Werte.„
Sagt der Doktor.
Seit einigen Tagen denke ich über die letzten Interviews nach, die ich in den vergangenen Tagen hier führte. Dass Sven, aufgewachsen in der Nähe von Brüssel, mir über seine Heimat sagt, dass er aufgrund der sozialen Probleme und der wachsenden Kriminalität sein Land verlassen habe, weil er nicht möchte, dass sein Kind darin aufwächst?
Weiterlesen bei: Heute am Strand in Agios Nikolaos. Hier.
Oder dass mir der Doktor das mit der Krise der Werte sagt. Und beschlossen hat, eine Organisation zu gründen, um die Menschen durch Rückbesinnung auf traditionelle Anbaumethoden in Selbstversorgung zu schulen.
Weiterlesen bei: Was der Doktor sagt. Warum er eine Arche baut. Hier.
Natürlich geht es nicht, dass ein Nachbar dauerhaft auf Kosten seiner Nachbarn lebt. Und ein Land auf Dauer von anderen durchgefüttert wird. Die Ermutigung, sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, Verantwortung für sich selbst zu übernehmen, muss an erster Stelle stehen. Das tun die Griechinnen und Griechen, mit denen ich in den letzten Wochen Interviews führte, allesamt und ohne Ausnahme. Sie tun es nur ein wenig anders als wir Deutschen, wir Nordeuropäer oder Nordamerikaner insgesamt.
„Warum ist Wasser in Deutschland’s
Restaurants und Bahnhöfen
eigentlich so teuer?“ fragt Despina.
Manche der Fragen, die mir hier gestellt werden, haben durchaus ihre Berechtigugng. Ich bin zumindest nachdenklich geworden nach all dem, was ich hier sah, ob der deutsche Weg, ein Land auf Biegen und Brechen in die internationale Wettbewerbsfähigkeit zu führen, für Griechen und Griechenland der richtige Weg ist.
Ganz abgesehen davon, dass von vielem, was aus Brüssel in Griechenland oder in Deutschland landet, längstens der Schleier des Schweigens gezogen gehört:
Dieses Land würde vieles verlieren, was für andere Länder wertvoll ist.
Und kommenden Dienstag: Da schreibe ich darüber: Warum Thomas, 26, aufgewachsen unmittelbar neben dem Eifelturm in Paris nichts anderes möchte als: Hier leben. Auf Kreta.
Alle Fotos vom gestrigen Samstag entstanden im Osten von Kreta.
Weiterlesen bei: Die Palmen von Vai. Hier.