Auf dem Boot an Ostern in Venedig.
Es gibt drei Marinas in Venedig, um mit dem Boot anzulegen. Doch dem Zentrum Venedigs ist man am nächsten in der Darsena San Giorgio auf der gleichnamigen winzigen Insel San Giorgio Maggiore. Von der Stille der Klosterinsel, die nur mit dem Vaporetto zu erreichen ist, und vor allem vom Glockenturm herunter hat man herrlichen Weitblick in die unzähligen Blautöne. Und kann man dem hektischen Treiben drüben auf der Piazza di San Marco gelassen zusehen. Im Foto die Einfahrt in die Darsena San Giorgio.
Die Stadt und das Wasser. Das Wasser und die Stadt. Auf kaum einem der nachfolgenden Fotos wird es fehlen, es lässt den Besucher nicht los. Selbst auf meinen Streifzügen durch Venedigs Zentrum bin ich ständig beim großen Wasserhellblau. Wie haben die das bloß angestellt, nicht nur ein paar windschiefe Holzhütten auf den Schlickbänken der Lagune zu errichten, sondern ihre steinernen Palazzi, die fünfstöckigen Wohnäuser und vor allem die wuchtigen Kirchtürme. Keine Sadt besitzt so viele Kirchenbauten wie Venedig. Allein im Zentrum listet Wikipedia 90 verschiedene steinerne Sakralbauten auf, im ganzen Stadtgebiet mit den umliegenden Inseln sind es insgesamt mehr als 130 Kirchen. Ich wundere mich immer wieder, wieso das alles nicht im Schlick versinkt, wo nur die Schwertmuscheln hausen. Nur die vielen schiefen Kirchtürme zeigen an, wie locker alles auf Sand gebaut ist – nicht nur im Stadtteil Dorsoduro, was soviel bedeutet wie „harter Rücken“, um den herum vor 1.500 Jahren Venedig als Siedlung begann.
Venedig und seine schiefen Glockentürme. Kaum einer der vielen steht steht gerade, selbst in Dorsoduro nicht.
Wo beginnt man seinen Spaziergang in Venedig am Karsamstag? Im hektischen Zentrum rund um den Markusplatz, wo der lebhafte Rummel um die zentrale Vaporettostation San Zaccharia einen ersten Eindruck gibt, wie es in den Sommermonaten überall in der Stadt zugehen wird? Oder an einem der
Über Venedigs Dächern thront der heilige Georg, der Drachentöter, und blickt hinunter auf die Giudecca, die langgezogene Inselgruppe links. Der gleichnamige Kanal trennt die Inselgruppe von der eigentlichen Hauptinsel und dem Zentrum Venedigs rechts.
stilleren Orte der Stadt. Nein, lieber abseits, da will ich hin, wo ich mich doch selbst in München viel lieber entlang der Isar als im Zentrum rumtreibe. Also irgendwo an einem stillen Kanal und dorthin, wo Venezianer wohnen und noch leben. Zum Beispiel auf der Giudecca. Entlang der Nordseite dieser Inselgruppe, die immer wieder von Nord nach Süd von Kanälen durchzogen ist, gibt es Osterien, Pizzerien, Tavernen oder kleine Läden, wo der freundliche Händler einem gerne ein Panino mit Prosciutto cotto, Kochschinken oder Crudo, rohem Schinken für ein Picnic auf einem der vielen öffentlichen Holzstege im Süden der Giudecca belegt.
So ist das in Venedig an einem Ostersamstag. Die See auf dem Canale della Giudecca brodelt von Fähren, Wassertaxis, Lastkähnen. Überall an den Canali wuchert Wasserkraut von den steinernen Wänden. Es webt und wogt wie Frauenhaar im Takt der Wellen, weil hier niemals etwas stillsteht im Wasserhellblau.
Ein Mann treibt sein schlankes Boot stehend mit gekreuzten Rudern übers Meer. Und wenn man nur lang genug dem Ballett des gleichförmigen Schwingens und Wiegens zusieht, dem Hin und Her der Hunderttausend Fäden, entspannt sich etwas in einem.
Die Stadt und die Glocken. Die Glocken und die Stadt. Während wir durch die Stadtviertel streifen, fällt uns an diesem Ostersamstag auf, dass kein Glockenschlag erklingt. Kein Mittagsläuten, kein Stundenschlag in einer Stadt mit so vielen Glockentürmen? Das kann nicht sein! Die einzige Erklärung ist, dass von Karfreitag bis Ostersonntag, also zwischen Kreuzigung und Auferstehung, die Glocken schweigen müssen, weil dies Tradition in der Stadt ist. Ich freue mich schon auf den Moment, wo man jenen blechernen Ton wieder hören kann, der jeder Kirche des Veneto zu eigen ist und den man vom Jingle der Donna Leon-Hörbuch-Krimis nur zu gut kennt.
Doch spät nachts in meiner Koje bin ich in die Zeilen eines Gedichts von Bert Brecht versunken, als draußen plötzlich eine Glocke anfängt zu läuten. Irgendwo in der Stadt. Dann fällt eine weitere ein. Dann noch eine. Und noch eine. Und wieder eine. Ein Crescendo aller Turmglocken mitten in der Nacht, das sich noch steigert, als plötzlich auch die Glocken von meinem Aussichtspunkt, dem Turm der San Giorgio Maggiore zu läuten beginnen und alles andere übertönen.
Ich stehe auf und schaue hinaus in die Nacht. Der Klang der vielen Glocken ist wie ein akkustisches Feuerwerk. Nach 10 Minuten scheint es vorbei zu sein. Und doch ist es immer noch nicht zu ende, weil immer wieder eine weitere Glocke irgendwo in der Stadt von neuem beginnt, nicht aufhören kann, immer wieder beginnt, als gäbe es keine Enden. Sondern nur Anfänge.
Ich denke viel an Mallorca, noch so eine Insel, die mir wie Venedig ans Herz gewachsen ist und wo ich die letzten Jahre Ostern verbrachte. Wo die Menschen das Osterfest ganz anders begehen als auf den Inseln Venedigs. Nicht mit einem furiosen akustischen Feuerwerk, sondern mit Umzügen. Aber die Tage auf Mallorca um Ostern: Das ist eine ganz andere Geschichte als hier in Venedig…