Die vergessenen Inseln: Milos. Oder: Wenn Tonscherben erzählen.
Die Bucht Agiou Dimitriou im Norden des Vulkankraters, der die Insel Milos heute bildet. Genau gegenüber, auf der anderen Seite der Bucht, ein Hang voller Tonscherben. Um ihn geht es in diesem Beitrag.
Es gehört zu den Besonderheiten einer Reise durch die griechische und türkische Ägäis: Wo immer man den Fuß an Land setzt, tritt man in antike Tonscherben. Für einen Historiker ist allein das schon jeden Tag ein Fest: Scherben von Tonkrügen. Von Weinbechern, mit denen gefeiert und gelacht wurde. Reste von Amphoren, in denen Brotgetreide, Haselnüsse, Fischsauce transportiert wurde. Tonkrüge, in den Kräuter, Weihrauch, Parfüm, Gewürze gehandelt wurden. Zeugnisse des Lebens vor 2.000, 3.000 Jahren, wohin man auch schaut, wohin man auch tritt. Siedlungen, Händlerorte, Festungen, Hafenstädte, Werften zur Reparatur von Kriegsschiffen oder dickbauchigen Handelskähnen. Belebt in den 1.000 Jahren vor Christi Geburt. Untergegangen, aufgegeben, verlassen meist 500 Jahre nach dessen Ende.
Und weil das Entdecken dieser untergegangenen Welt so fesselnd ist, habe ich schon vor längerer Zeit ein Abendritual entwickelt. Wo immer ich gerade bin, rudere ich mit dem Schlauchboot an Land. Und streife bis Sonnenuntergang in der Landschaft umher. Den Kopf gebeugt, immer auf der Suche nach der einen Tonscherbe, die plötzlich zu reden beginnt. Es ist wie eine Detektivarbeit.
Für die meisten Menschen sind Tonscherben – wie alles aus der Antike – „tote Steine“. Auch für Andreas, der mich bei meinen Wanderungen auf Milos begleitet. Aber auch er wird leise, als ich ihm die Geschichte erzähle, die eine Handvoll Tonscherben vom Leben in dieser Bucht vor über 2.600 Jahren erzählen, die wir oberhalb der Bucht von Agiou Dimitrou, unserem Ankerplatz, finden.
Tonscherben sind so eine Art „Plastiktüten-Reste der Antike“: Behälter für Transport und Aufbewahrung. Von Nahrung und anderem. Und genauso wie Plastiktüten sind Tonscherben individuell gestaltet: Mal sind sie dickwandig, aus grobem Material, von grobschlächtiger Hand geformt. Mal ganz fein und zerbrechlich und zeugen von teurem Geschmack. Mal sind sie geriffelt, mal bemalt. Mal dünnwandig, mal dick. Mal Bruchstücke eines großen Gefäßes, einer Amphore, mal von einem kleinen Weinbecher, einem Krater.
Das besondere an antiken Tongefässen ist zweierlei: Meistens wurden sie nicht an dem Ort hergestellt, an dem man sie findet. In verschiedenen Phasen der Antike gab es jeweils andere Produktionsstandorte, die den Markt beherrschten: Die Minoer auf Kreta um 1.500 vor Christi Geburt. Danach die Mykenier, die das Handelsnetz der Minoer übernahmen, bis 1.200 v. Chr. Danach die dunklen Jahrhunderte. Dann die Korinther ab 800. Dann die Athener um 500. Zuletzt die Römer. Und jede dieser Keramik-Produktionsstätten hatte eine ganz eigene Art, Tongefässe zu gestalten. So dass sich aus Verarbeitung und Gestaltung Hinweise ergeben, welchem großen Exporteur und welcher Epoche die Tonscherben zuzurechnen sind.
Und je nachdem, was man so findet, kann man sich ein bisschen von dem zusammenreimen, wer hier wann, warum und wie gelebt hat. Das geht auch als Laie. Zwar nicht annähernd mit der Treffsicherheit der Archäologen. Aber die liegen oft auch Jahrhunderte daneben.
Und das ist, was wir an diesem Abend auf Milos entdeckt haben:
Und diese Scherben erzählen folgende Geschichte über die Besiedlung der Bucht (im Uhrzeigersinn, beginnend ganz oben):
Die ersten Menschen kamen übers Meer, und sie siedelten hier vermutlich bereits zwischen 5.000 und 3.000 vor Christi Geburt. Damals lagen die Meeresspiegel noch mehr als 100 Meter tiefer, es war erheblich kälter, die letzte Eiszeit lag gerade mal 5.000 Jahr zurück. Wegen des niedrigeren Meeresspiegels waren die Inseln alle etwas näher als heute. Trotzdem müssen die Siedler, die das kleine Steinzeitmesser, das Microlith (ganz oben im Bild auf 12 Uhr) benutzten, schon eine weite Strecke über das Meer gefahren sein – und das vermutlich in kleinen, aus Schilf geflochtenen Kanus. Es war eine Gemeinschaft von Jägern, die an dieser Stelle lebte. Und: weil sie ganz oben auf dem Grat lebten, nach damaliger Rechnung 200 Höhenmeter über dem Meer, muss es in einer Zeit gewesen sein, in der kriegerische Auseinandersetzung zwischen einzelnen Clans auf der Tagesordnung waren. Auch dies: Krieg, die Waffen gegen die eigene Art erheben, ist eine Erfindung des neueren Menschen.
In den Jahrhunderten zwischen 1.700 und 1.300 vor Christus schufen die Kreter zum ersten Mal ein Handelsnetz im östlichen Mittelmeer: Die Bronzezeit war angebrochen, der Hunger nach dem neuen Werkstoff für Werkzeug und Waffen unersättlich. Die Kreter schafften Kupferbarren von der Kupferinsel, von Zypern, heran. Und die für die Legierung erforderlichen 10% Zinn aus dem Schwarzen Meer. Und von dort überall hin im östlichen Mittelmeer, bis hinunter nach Tameri, nach Ägypten. Und später Getreide, Wein, Textilien, Weihrauch, Bauholz, wer weiß was noch alles, in alle Richtungen. Es war eine Welt in der Blüte. Und die kleine Bucht von Milos war Teil dieser Welt: hier existierte vermutlich eine kretische, wahrscheinlicher: eine mykenische Handelssiedlung – die kleine Tonscherbe rechts neben dem Microlith gehört aufgrund des geometrischen Musters vermutlich in die Zeit um 1.000 vor Christus. Händlersiedlung: das bedeutet Händler. Und Handwerker, die Waren schufen, die ihrerseits für den Export geeignet waren. Wer weiß, worauf sich die Handwerker von Milos spezialisiert hatten. Und Bauern, die für die Versorgung der Bevölkerung zuständig waren.
Um 1.200, zeitgleich mit dem Untergang Troyas, brach diese Händlerwelt im östlichen Mittelmeer komplett zusammen. Die Seevölker, aus Völkerwanderungsprozessen hervorgegangene Gemeinschaften von Plünderern verheerten, zerstörten, plünderten binnen Stunden, was Jahrhunderte lang ein funktionierende Wirtschafträume waren. Vom Peloponnes über die türkische und libanesische Küste bis hinunter nach Ägypten zog sich sich die Verwüstung über 200 Jahre. Erst die Phönizier, die Purpurhändler um 1.000 vor Christus aus Tyros im heutigen Libanon, begannen, wieder ein Handelsnetz aufzubauen. Doch diesmal noch weiter: Erst bis Sizilien, dann Sardinien, dann Nordafrika, wo sie Karthago gründeten. Bis über Gibraltar hinaus nach Protugal zog sich ihr Handelsnetz.
Um 800 vor Christus trat Korinth als führender Händler neben den Phöniziern mit auf den Plan, wurde um 500 vor Christus durch Athen abgelöst. Korinthische und athenische Töpferwaren fanden reissenden Absatz, man findet ihre Überreste fast im gesamten Mittelmeer-Raum – auch in unserer Bucht auf Milos: Die braun bemalten Tonscherben rechts oben im Bild stammen aus dieser Zeit und zeigen, dass Milos wieder eine Händlersiedlung hatte. Und eine, die funktionierte: Denn auch der Großteil der übrigen Tonscherben gehört vermutlich in diese Zeit, in der die Siedlung wahrscheinlich am größten war. Hier müssen viele Menschen gelebt haben, der Hang ist voll von Amphorenhenkeln, Krugscherben, Becherresten.
Ganz oben auf dem Grat finde ich Teile eines fein gearbeiteten, dünnwandigen Weingefässes aus dieser Zeit. Vielleicht war es – wie so oft – so: Am Hang, um den heute verlandeten Hafen, lebten Händler, Handwerker, Sklaven. Produzierten, fabrizierten, trieben Handel, kochten. Stritten, liebten, lebten. Oben auf dem Grat war die Garnison, die den Händlerort schützte. Vielleicht auch ein Tempel. Und vielleicht war mein kleiner Tonrest Teil eines Weihegeschenks, bevor der Ort vermutlich am Ende der Römerzeit aufgegeben, verlassen und nie wieder richtig besiedelt war. So wie in der Antike.
Alle im Bild gezeigten Tonscherben verblieben an ihrem Fundort: dem Nordhand über der Bucht Agiou Dimitrou auf der Insel Milos.
Special Thanks to Andreas Meyer for Fotography.