Von England nach Irland und Schottland(2): Wenn der Westwind weht. Hayling Island bei 43 Knoten.
Meine diesjährige Segelreise wird mich von Juni an die englische Südküste nach Westen
und von dort nach Irland führen. Spielt das Wetter mit, will ich weiter nach Norden.
In meinem letzten Post schrieb ich über den Start meiner Reise
auf einem kleinen Gezeitenfluss auf Hayling Island nahe der Isle of Wight.
Von Wilsons Boatyard aus steuere ich Levje bei Springtide den Mengham Rythe, den kleinen Gezeitenfluss eine Meile ostwärts durch die Marschen Hampshires in die kleine Sparke’s Marina. Bei Hochwasser komme ich an, und die Stege der Sparke’s Marina scheinen frei in der Weite der See vor der Ostküste von Hayling Island Island zu liegen.
Stunden später ist das Bild der Marina bei Niedrigwasser ein ganz anderes. Die Stege liegen jetzt wie einer Badewanne in der Weite einer Schlammfläche, selbst die Einfahrt wäre bei Niedrigwasser mit den zwei Metern Tiefgang meines Schiffes nicht mehr zu machen. Gezeitensegeln ist für einen, der fast 20 Jahre nur im Mittelmeer und in der Karibik unterwegs war, immer wieder aufregend. Dass sich die freie Weite einer frei befahrbaren Wasserfläche zweimal täglich in ihr absolutes Gegenteil verwandelt, will einem, der an einer solchen Küste nicht aufgewachsen ist, nur widerwillig in den Kopf. Und die Erfahrungen, die sich aus den geänderten Wasserständen für mich ergeben, sind jedesmal neu.
Ich finde mit Levje einen Liegeplatz an der Visitorpier längs der Mole. Ein scheinbar guter Platz, geschützt vor dem kalten Ostwind, der die Tage über böig geweht hatte und dessen Böen bei Niedrigwasser gnädig drei Meter über uns hinweg streichen.
Für die Nacht ist eine Winddrehung angesagt. Der Wind soll von Ost auf Südwest gehen. Und von 5 bft. am frühen Morgen auf 8 bft. mit Starkregen. Sven, der mich in dieser Woche begleitet, dichtet die Sprayhood mit Nahtdichter ab und imprägniert sie, während ich die weiße Persenning über Levjes Cockpit spanne. Das sollte reichen.
Eine Bewegung Levjes weckt mich am Morgen. Ein Reißen, ein Zerren. Dann schlagende Geräusche. Als ich im Dunkeln die Uhr vor meine Augen halte, ist es kurz nach vier. Erstes grau draußen, durch das ich über meiner Koje die kleine deutsche Flagge an Levjes Achterstag hektisch schlagen sehe. Das laute Tack-tack-tack dreier Fallen, die irgendwo neben mir im Dunkel schlagen. Eine heftige Böe lässt Levje erst stark krängen, dann presst sie den Schiffsrumpf mit Kraft so an die Schwimmpier, dass der Rumpf zu knistern beginnt. Dann setzt prasselnd der Starkregen ein.
Die Kakophonie des Starkwinds: Das Heulen und Brausen in Masten und Stagen, das Singen und Orgeln, das Schlagen der Fallen am Mast. Das kenne ich alles. Das neuerliche knistern von Levjes Rumpf kenne ich noch nicht. Geräusche, die ich nicht kenne, machen mich nervös. Die nächste Böe lässt Levje wieder stark krängen. Ich habe zwar mein Schiff gut abgefendert, aber jetzt gerade dürfte Niedrigwasser sein. Während ich aufstehe und mich anziehe, malt mein Hirn Sorgen in die Luft: Hoffentlich halten die Fender den Druck aus und platzen nicht. Hoffentlich neigt Levje sich nicht so stark nach backbord, dass die Saling an die die fünf Meter hohe Spundwand neben dem schlägt?
Ich ziehe das Schiebeluk auf. Nur gut, dass Sven und ich gestern die Sprayhood abgedichtet haben. Sie hält. Ich setzte mich unter die Sprayhood und beobachte im prasselnden Regen unter der weißen Persenning erstmal was geschieht. Vor allem den Windmesser. 22 Knoten zeigt er. Dann beschleunigt sich das nervige Takk-takk-takk neben mir in ein lärmendes Stakkato, der Windmesser geht auf 25, 28 Knoten in der Böe hoch, während Levje sich überlegt. Geht ja alles.
Ich stecke den Kopf unter der weißen Persenning hervor. Die Fender sehen gut aus, sie haben fast 30 Zentimeter durchmesser, sind dicker und größer als normale. Vier Stück habe ich gestern nebeneinander gehängt. Während der prasselnde Regen Wasser in meine Nacken rieseln lässt, sehe ich, dass die vier Fender in der Böe platt wie Rochen sind. Als die Böe nachlässt, drücken sie das Schiff wieder weg von der Pier. Ich beschließe, auch meinen fünften Fender, meinen letzten noch zu den vier anderen dazuzupacken, es ist alles, was ich habe. Ich krieche unter der Persenning hinaus in den Regen, zerre den Fender vom Seezaun und befestige ihn bei seinen vier Brüdern. „Mehr hab ich nicht. Mehr geht nicht.“ denke ich, während die nächste Böe anrollt. Über 30 Knoten. Dann verharrt der Windmesser, steigt auf 33 Knoten. Wieder werden meine dicken Fender zusammengespresst, ob die das abkönnen? Was mache ich, wenn einer aufgibt?
Die Persenning schlägt wie wild über mir, zwei Bändsel haben sich gelöst, Sven hatte gestern geraten, ich solle meine hübschen Webeleinsteke statt mit seitlichem halbem Schlag mit einem halben Schlag um die Leine befestigen. Dummerweise hat Sven bei technischen Dingen immer recht und ich fast nie. Das geht seit 20 Jahren so, seit wir zusammen segeln. Jetzt schläft er unten seelenruhig, und ich betrachte meine 20 Webeleinsteke und den verkehrt angebrachten halben Schlag. Naja, ich bin etwas eingerostet im langen Winter mit meiner Kunst, Knoten zu schlagen. Na dann los. Als ich einen Knoten löse, beschleunigt der Wind auf 37 Knoten. Ich halte den Knoten, zerre daran, doch der Wind ist stärker, Regenwasser läuft mir von der Persenning in den Ärmel meiner Segeljacke, ich schaff es nicht, den einfachen Webeleinstek zu knüpfen. Weder kann ich ihn loslassen, um meine Ärmel vor den Sturzbächen in Sicherheit zu bringen. Nich kann ich den Knoten machen. Ein Weichei ist, wer loslässt. Und ein Trottel, wer weitermacht.
Beim dritten Webeleinstek sind meine Ärmel innen tropfnass. Ich glaub, ich bin lieber Trottel als Feigling. Ich mache einen Moment Pause und beobachte den Windmesser. Er verharrt jetzt bei 33 Knoten, Levje wird hart an den Schwimmsteg gepresst, ich überlege, ob ich die Festmachen irgendwie zu einem Reservefender umfunktionieren könnte. Da nimmt der Lärm plötzlich zu. Mit spielerischer Leichtigkeit, als wäre es nichts, bewegt sich die Anzeige plötzlich ganz spielerisch von 33 auf 43 Knoten. Das Schiff legt sich jetzt brutal über, an meine fünf blauen Brüder an der Bordwand mag ich in diesem Moment gar nicht denken. Wie leicht es dem Starkwind fällt, wenn er schon bei 33 Knoten verharrt, mal eben auf 43 zu beschleunigen! Aber ich habe keine Zeit, über die Kräfte der Natur nachzudenken, die Sorge um mein Schiff überwiegt. Die harte Böe ist vorüber, der Windmesser fällt wieder auf 25. Und ich: widme mich wieder den falsch geknüpften Webeleinsteken, solange der Wind mich lässt.
Noch vier fünf Mal beschleunigt der Wind über dem Hafen im Osten von Hayling Island auf über 40 Knoten. Ich mache meine leewärtigen Webeleinsteke neu, bis meine Arme schwer und vollgesogen vom kalten Regenwasser sind. Nach einer Stunde fällt der Windmesser auf 22 Knoten, meine Müdigkeit übermannt mich.
Am Morgen hat der Wind den Himmel blankgeputzt, in Böen bläst es noch bis 25 Knoten. Sven schläft bis neun. „War alles ok?“, fragt er mich. Ich erzähle ihm von meiner nächtlichen Wache, und frage ihn, ob er nichts mitbekommen hat. „Doch“, sagt Sven, „ich hab das Schiff knarzen hören und die Fender quietschen. War doch alles wie es sein soll. Deshalb hab ich mich rumgedreht und weitergeschlafen.“
Das Frustrierende an meinem Sven ist: In technischen Dingen hat Sven einfach immer recht. Er kam mit dieser Art, die Dinge zu betrachten, auf die Welt. Da kann ich mit meinen nassen Ärmeln nur blöd schauen. Aber das Gute ist hier draussen: Ich lerne. Und jeden Tag wieder was. Und egal wie: Gut ist, dass ich es in dieser Nacht hingekriegt habe.
Besser so als nie.