Seit Mitte Mai folge ich nun einhand segelnd für mein neues Buch den Küsten und Inseln West-Europas. Von Sizilien zu den Balearen.
Über Südspanien durch die Straße von Gibraltar nach Portugal.
In Peniche treibe ich mich am Hafen bei den Sardinenfischern herum.
Als ich ein Kind war, war ich ein heikler Esser. Es gab wohl eine Phase im Alter von vier oder fünf Jahren, wo ich mich erinnere, dass meine Mutter weinend vor mir saß, weil ich mal wieder nichts essen wollte. Kinder sind so. Ich weiß nicht mehr, was die Ursache war. Doch war mir Essen gleichgültig. Ich weiß noch, wie diese Phase endete. Eines Tages fand sie heraus, dass ich Camembert über alles liebte. Und gebackene Forellen. Und: Sardinen aus der Büchse, auf einem Teller mit etwas Zwiebel und Essig zerdrückt. Ab da: War ich wieder in der Welt.
Vielleicht ist das so. Wozu wir ein Leben lang neigen, entwickeln wir sehr früh. Noch bevor wir beginnen, in der Schule zu lernen, wissen wir schon, was wir wollen. Vergessen es vielleicht kurzzeitig, doch verlernen tun wir es nie mehr. Gegrillte Sardinen jedenfalls begleiteten mich auf meiner Reise quer durch die Ägäis. Und auch jetzt in Portugal fröne ich jeden Abend, den ich nicht auf Levje koche, im Restaurant über einem Teller mit Fisch.
Peniche im Juli. Der Fischereihafen liegt abgesondert vom übrigen Hafen. Doch schon von weitem erkennt man das Gebäude ganz leicht: Ein riesiger Möwenschwarm kreist immer darüber, schreiend, kreischend. Kommt man näher, nimmt das Geschrei zu. Und der Fischgeruch auch. Doch richtig intensiv wird alles, sobald ich im umzäunten Geviert des Fischereihafens an der Pier stehe, dann, wenn die Sardinenfischer ihren Fang anlanden. Einem Schwarm Fliegen gleich, schlagen die Möwen zum Greifen nah über den Männern, die gebeugt über den Bottichen stehen, in denen sie ihren Fang in Eiswasser konservierten. Und während die Männer ihre Beute aus dem Eiswasser in Kisten verteilen und ein Gabelstapler die Kisten in die Auktionshallen bringt, verwandeln sich die Möwen in nackte Gier.
Ein Fischer, der ein Stück wertlosen Beifangs achtlos auf die Pier wirft. Zwei Möwen, die sich mit sieben anderen ekstatisch darauf stürzen. Den Fisch erreichen, ihn packen an beiden
Enden und zerren und zu zerreißen suchen mit aller Kraft und Gier, deren ihre wütenden Organismen fähig sind. Eine jede der anderen erbitterter Feind. Eine jede kennt nur noch den Kampf. Und sich selbst. Bis es der einen gelingt, den Fisch in sich zu würgen, ihn zu schlingen. Und die anderen sich augenblicklich und kreischend neuer Beute zuwenden.
Was die Männer da aus dem Meer holen, ist zu groß für die Büchse. Und als „Ölsardine“ ungeeignet. Anders als in Deutschland werden in Spanien und Portugal Sardinen wie in Griechenland eher frisch auf dem Grill geschätzt, mit grobem Meersalz und etwas Kräutern auf den Holzkohlengrill gelegt. Das passt zu ihrem kräftigen Geschmack am besten.
Sardinenfischerei. Sie ist alt. Und nahm vor allem seit der Industrialisierung enorm zu. Noch 1964, dem Jahr, in dem meine Mutter für mich die erste Sardinendose öfnete, holten portugiesische Fischer fast 160.000 Tonnen Sardinen aus dem Meer – das war Landesrekord. Dosensardinen ernährten ganz Europa. Heute sind es keine 15.000 Tonnen im Jahr mehr. 200 Kilo Sardinen darf so ein roter Trawler jetzt an einem Tag noch nach Haus bringen zum Schutz der Bestände – nicht mehr als die 10 Körbe voll, erzählt Carlos, der Hafenmeister mit den traurigen Augen. Sie führen jetzt am Tag nur noch wenige Stunden hinaus, die Fischer. Und kämen am Abend bald wieder zurück. Die Sardinen stehen praktisch vor dem Hafen im Wasser. Oder nur wenige Stunden entfernt vor der Küste. Man erkennt die Sardinenfischer an dem mitgeschleppten Beiboot, in dem oft schon auf dem Anmarsch die Männer sitzen, die mit seiner Hilfe den unter der Wasseroberfläche stehenden Schwarm vom Fischkutter aus mit einem Netz einkreisen, das der Fischkutter dann an Bord hievt und sofort wieder in den Hafen zurückkehrt.
Manchmal konnte ich, während ich die Küste an windstillen Tagen hinauf motorte, träge Möwen beobachten, wie sie über dem offenen Meer kreisten. Kurz niedergingen. Und schon mit einer Sardine im Schnabel wieder in die Luft verschwanden. Schlaraffenland, so scheint es.
Doch nicht für die Männer. Die sind allesamt zähe, sehnige Kerle, wie sie in ihren Wat-Hosen vor mir stehen und mit bloßen Händen den Fang mit einem Handnetz aus dem Eis-Bottich heben. Kurz sortieren. Und in die weiße Kiste für den Gabelstapler zur Auktionshalle füllen. Sie haben mehr mit Bergsteigern gemein, und ich wundere mich nicht zum ersten Mal, warum ich eigentlich in den vielen Häfen, in denen ich war, noch nie einen korpulenten Fischer getroffen habe. Selbst die Älteren in Peniche, die, die nicht mehr hinausfahren, selbst die erkennt man, wenn sie durch den Ort schlurfen, an ihren dürren, sehnigen Gestalten. Ob es das Leben auf dem Meer macht? Oder doch eher ihre Ernährung? Ich weiß es nicht. Wie wohl eine Statistik ausfiele, die typische Krankheiten nach Berufsgruppen darstellte? Fischer versus Vertriebsleiter? Was käme dabei heraus? Die einen mehr Rheuma? Die anderen mehr Herzinfarkte?
Ist der Mensch mehr, was er isst? Oder ist er mehr das, was er sein Leben lang tut?
Aber auch die Sardine neigt in ihrem Leben, wenn man sie lässt, ebensowenig wie ihre Jäger zum dick werden. Einzelgängertum ist ihr fremd. Sie lebt im Schwarm. Sie ist gern mit anderen zusammen. Vom ersten Moment an, indem ein Mutterleib seine 50.000 Eier irgendwo in Küstennähe ablegt. Bis zur Büchse. Dabei hat sie die Geringschätzung, mit der wir sie als „Ölsardine“ bezeichnen, einfach nicht verdient. Dafür ist ihr Leben zu komplex, von dem wir viel zu wenig wissen. Nachts im Schwarm auftauchen. Tagsüber eher in mittleren Tiefen leben. Als 50.000 Eier in ein-Millimeter-Größe den Mutterfisch verlassen. Nach wenigen Tagen als vier Millimeter große Larve entschlüpfen. Geschlechtsreif sein nicht irgendwann gleich nach der Fischwerdung, sondern nach satten zwei Jahren. Lebensalter, wenn man sie in Ruhe lässt, wie der Dackel meiner Oma: 15 Jahre.
Geschlechtsreif nicht irgendwann gleich nach der Fischwerdung, sondern nach satten zwei Jahren. Das ist lang. Und es ist der Grund dafür, dass eine EU-nahe Kommission vor einiger Zeit empfahl, den Sardinenfang an der Atlantikküste ganz einzustellen, und zwar für nicht weniger als für 15 Jahre – genau die Zeit, die die Sardinenschwärme bräuchten, um sich wieder richtig zu erholen. Nun waren plötzlich die Jäger zu Gejagten geworden. Ein Sturmlauf der portugiesischen Fischer setzte ein. 15 Jahre Pause? Das überlebt keine Branche. Sie wüssten doch mittlerweile selber sehr gut, wie die ökologische Uhr des Ozeans ticke. Und anders noch als in den wilden 60er Jahren würden sie ja nun nicht mehr ganzjährig rausfahren, sondern im Winter zwei Monate Ruhe geben. Und auch die leidigen Fangquoten einhalten.
Wir sollten also, wenn wir die nächste Dose mit Sardinen öffnen, ein wenig respektvoller mit Bruder und Schwester Sardine umgehen, die darin liegen. Was die Portugiesen übrigens längst tun, indem sie ihre Sardinendosen grafisch zu kleinen Kunstwerken aufpeppen – siehe dazu auch die Fotos meines Posts vor wenigen Tagen: Hier klicken – die man zwischen Portimao und Porto prominent in jedem Supermarkt bekommt. Und die es auch in Berlin in der „Sardinen.Bar“ in die mediale Spitze der Gastronomie gebracht haben. Dort kann man dinieren, aber halt anders: Eben portugiesische Sardinen, die mit hervorragendem Weißwein, doch standesgemäß in der Dose so serviert werden:
Winter 2017 in Berlin: Da bekam ich portugiesische Sardinen vorgesetzt in Berlin. In der Sardinen-Bar. Und nur in der Dose…
Vielleicht. Vielleicht war die Büchse mit Sardinen, mit der meine Mutter mich 1964 köderte, eine, auf der „Product of Portugal“ stand? Die Chancen wären nicht schlecht gewesen, dass sie aus Peniche stammte. Alles hängt schließlich irgendwie mit allem zusammen.