Menschen am Meer: Bei der Köchin des Winzers Livio Felluga. Oder: Wie man im Friaul Risotto macht.
Weil mein Schiff am Kiel undicht ist, bin ich anders als geplant nicht losgesegelt.
Und werde ich auch die nächsten vier Wochen nicht segeln.
Stattdessen werde ich Geschichten erzählen, die zu erzählen ich
den Winter über keine Zeit fand. Geschichten aus den Häfen.
In und um San Giorgio di Nogaro im Friaul, der nordöstlichsten Ecke Italiens.
Es gibt Abende, die beginnen unscheinbar wie das Knarzen einer Stiege, die man schon tausendmal betrat. Und enden fulminant wie der wirbelnde Bolero Ravels. Ein bisschen liegt es schon vom Meer weg, das Haus, in dem der Winzer Livio Felluga lebte. Ein altes Haus, irgendwo auf einem der Hügel des Friaul, im Collio, den sanften Hängen an der Grenze zu Slowenien.
Es ist eine Weingegend. Und sie bauen hier allerhand an. Den friulischen Tocai, der so hieß, bis die EU sagte, so dürfe er nicht mehr heißen, wegen des Tocai der Ungarn. Also tauften sie ihn um in „Friulano“, so heißt er jetzt und ist doch immer noch, was er einst war: ein ausgezeichneter Fischbegleiter, der mich nie enttäuschte. Aber auch an richtige „Rockertypen“ von Rebsorten wagten sie sich hier heran. Livio Felluga, der einer – wenn nicht DER – bekannteste Winzer des Friaul war, getraute sich sogar an die Refosco-Rebe, den Refosk, ein rauer Geselle, den die Slowenen hinter der Grenze servieren und der jeden braven Italiener schon beim ersten Schluck schmerzhaft das Gesicht verziehen lässt.
Aber mit Refosk begann der Abend im Haus des Winzers nicht. Sondern mit den Polpette oben. Kleinen Bällchen aus – ja was denn nun eigentlich? Fleisch wars keins. Fisch auch nicht. Aber umwerfend lecker wars, zusammen mit etwas Prosciutto crudo und dem Käse und der Quiche (die italienischen Leser werden sich jetzt entrüstet abwenden, weil es natürlich nicht Quiche, sondern irgendwie anders heißt.)
Jedenfalls waren die Polpette so beschaffen, dass der riesige Teller mit den gebackenen Kugeln sofort weg war. Ich nahm mir jedenfalls vor, die Köchin zu fragen, die plötzlich mitten im Raum und inmitten der Gesellschaft stand. Sie verstummte, die Abendgesellschaft und folgte augenblicklich der befehlsgewohnten Stimme der Köchin, die weiter Polpette auf Teller lud.
Leda sei ihr Name, sagte die Köchin mir, als ich mich später von der großen Tafel weg in ihre Küche schlich, um sie nach dem Geheimnis ihrer Polpette zu fragen. Aber als Leda begann, von sich zu erzählen, da vergaß ich, warum ich zu ihr in die Küche geschlichen war. Eigentlich dachte ich ja: Gleich wirft sie mich raus, die resolute Leda. Stattdessen erzählte sie mir Eindringling geduldig, was es als nächstes auf die Teller käme: Gratinierter Spargel. Die trug sie auf die Teller auf. Und ich, der ahnte, dass da ein Gedicht auf warmen Tellern daherkommen würde, schlich schnell hinaus auf meinen Platz am anderen Ende der langen Tafel.
Er war natürlich der Hammer, der gratinierte Spargel. Ich war platt, schon allein weil er schon nicht so fahl und bleich dem kochenden Wasser entstiegen war, wie er das oft in Deutschland tut, bemitleidenswert bleich und schlabberig, sondern in seiner vollen Kraft und mit Kräutern und Butter bedeckt. Leda wusste da etwas, was den meisten von uns abhanden gekommen war: Dass sich nämlich das Auge nicht täuschen lässt, schon gar nicht bei dem, was auf dem Teller liegt. Und dass man selbst dem Spargel seine Würde in seinem Aussehen lassen muss, will man ihn richtig geniessen.
Kaum war das mit dem Spargel vorbei, ließ ich schnöde meine Tischnachbarn Tischnachbarn sein. Und schlich zu Leda in die Küche. Sie erinnerte mich an meine Großmutter im Gebrodel ihrer Küche, wie sie da im Risotto rührte. Und gleichzeitig die sattgelbe Polenta, die auf dem hinteren Gasbrenner riesige Blasen warf, nicht aus den Augen ließ. Was das denn für ein Risotto sei, fragte ich Leda ehrfürchtig, die mich gar nicht wahrnahm vor lauter Risotto-rühren und Risotto-kosten und -rühren und -kosten. Sie zu fragen, ob ich wohl auch mal dürfe, das traute ich mich dann doch nicht. Zu erhaben war der Moment, ich war zu ehrfürchtig, einer Meisterin des Risotto bei der Arbeit zuzuschauen. „Ich bin jetzt 73“, erzählte Leda. „Mit 18 kam ich hier ins Haus zu Livio Felluga und seiner Familie. Und seitdem habe ich für ihn gekocht. Meine Eltern hatten eine Trattoria hier im Dorf – da hab ich alles gelernt. Auch das hier.“ Was das wohl für ein Risotto sei, frage ich Leda.
„Sklobet“, sagte sie ungerührt. Und deutete auf die grünen Kräuter im Risotto, während sie beiläufig ein großes Stück Butter ins Risotto wirft und mit dem großen Holzkochlöffel weiterrührt, den ich aus der Küche meiner Großmutter kannte. „Sklobet???“, fragte ich Leda wie ein Trottel.
„Eehhh, Sklobet, eben,“ sagte sie. „Non so la parola tedesca“ – „Ich kenne das deutsche Wort nicht, aber lateinisch heißt es ‚Silene vulgaris’“. Sprachs und rührte. Und kostete. „Aha“, sage ich, der ich mich immer wie ein König fühlte, wenn ich ‚Taraxacum officinalis‘ von ‚Anemone Silvestris‘ unterscheiden konnte. Wiki half weiter, ein bisschen jedenfalls. Aber nicht so richtig. „Taubenkopf-Leimkraut“ stand da. „Aha“. Schon mal gehört? Oder gar gegessen?? „Ist ein typisch friulanisches Gericht, man kann es nur machen, wenn die Pflanze noch nicht blühte – ich hab heute einen ganzen Eimer davon gesammelt“, erzählte Leda, während sie mit einer Hand nach der Parmesan-Reibe griff. Und gleichzeitig im Risotto immer weiter rührte. Und kostete.
Irgendwie war sie immer noch nicht zufrieden. Trotz der Berge Parmesan, die sie wieder und wieder zwischen die Risottokörner rührte. „Noch nicht richtig“, sagt sie zu sich selber, als wäre ich ein Geist und gar nicht die da, so versunken war Leda auf der Jagd nach dem richtigen Geschmack. „Muss genügen für heute“, schüttelte sie gleichmütig den Kopf, als wäre sie ein Golfer, der Tag um Tag einsam seine Runden auf dem Golfplatz dreht, auf der Jagd nach dem eigenen Rundenrekord, der heute eben wieder nicht gelang.
Nur widerstrebend verlasse ich Leda in ihrer Küche. Eigentlich will ich ja gleich wieder zu ihr zurück in die Küche. Aber über ihrem Risotto kann ich bloß die Augen verdrehen vor Wonne. Ich zwinge mich zum langsam essen. Aber irgendwann ist „Schluss mit lustig“ und „Alles hat ein Ende“ – aber mich hält es nicht auf meinem Platz, ich bin ein schlechter Gast an der Tafel und sause wieder zu Leda in die Küche. Da ist Leda schon beim nächsten Gang. „Gleich gibts Perlhuhn mit dunkler Polenta“, schnurrt sie, als hätte sie auf mich gewartet. Perlhuhn also. Und an meinem inneren Auge ziehen meine Erfahrungen mit staubtrockenen Perlhuhn-Beinchen vorbei. In jedem meiner Lebensjahrzehnte etwa eines. Aber ich vertraue Leda – vielleicht, weil ihre zerarbeiteten, verbogenen Hände mich an die Hände meiner Großmutter erinnern. „Weißt Du, ich hab das Perlhuhn diesmal anders gemacht als sonst. Ich wollte mal etwas neues ausprobieren. Ich habe es mit Essig gewaschen. Und einen Tag mit etwas Knoblauch eingelegt – nicht viel. Und jetzt habe ich es einfach mit einem Salbeiblatt in eine Scheibe frischen Lardo gewickelt, Bauchspeck. Und bei niedriger Temperatur im Ofen geschmort.“
Ob sie denn in den 55 Jahren, die sie für Livio Felluga gekocht hat, den Winzer, nicht öfter mal Lust hatte, etwas anderes zu machen?
„Das schon. Aber mir hat einfach Livio Felluga gefallen. Ich hab heimlich anderes ausprobiert. Aber es hat mir nicht gefallen. In Versuchung war ich öfter. Aber ich bin bei Ihm und seiner Familie geblieben.“
Was denn ihr Lieblingsessen sei?
„Lieblingsessen? Hab ich keins. Wenn ich allein bin, ess ich Brot mit Marmelade. Und Salat. Ich mag nicht für mich kochen. Aber wenn ich FÜR jemanden koche: dann bringe ich Höchstleistung“, sagt sie, während Flavia ihr die Teller für das Perlhuhn reicht. Flavia, die so jung aussieht. Und doch auch schon 27 Jahre neben Leda im Haushalt der Familie Felluga arbeitet.
„Ich probiere auch immer etwas neues aus – so wie heute, mit dem Perlhuhn. Das alte zu wiederholen – ist langweilig. Das Neue reizt mich – aber bei den Sachen, die ich ausprobiere, bleibe ich innerhalb der Tradition.“
„Und die Moderne?“, frage ich, während sie dem Geschmack auf ihrem Löffel nachsinnt.
„Die mag ich nicht. Schäumchen und so. Bah. Nein. Mich reizt die Tradition – und neues mit den alten Rezepten zu machen. Manches verstehe ich auch nicht. Und den Hype um die ‚Barbabietola‘, die Rote Beete, den verstehe ich ja überhaupt nicht.“
Ledas Perlhuhn? Es ist vielleicht das wundervollste Geflügel, das ich je aß. Zart und voll Geschmack und von überirdischer Art. Danach? Ganz schnell zu ihr in die Küche.
Was ich denn für ein Sternzeichen sei, fragt sie mich. „Sagittario – Schütze“, antworte ich. Da lächelt sie nur wissend, Leda della Rovere, die 55 Jahre für den Winzer Livio Felluga arbeitete. Ihr Lächeln bleibt ihr Geheimnis – so wie sie das der einfachen Polenta für sich behält.
Und sie? „Ich bin Sternzeichen Löwe“, und lacht. Da wundert mich nichts mehr – denn Löwe ist mein Aszendent.
Livio Felluga, der Winzer, für den Leda kochte, starb vergangenes Jahr am Weihnachtstag im Alter von 102 Jahren. Leda della Rovere wünsche ich ein mindestens ebenso langes Leben. Und wenn ich Glück habe: Dann stehe ich eines Tages noch einmal neben ihr, in ihrer Küche, und darf zusehen, wie sie kocht. Vielleicht erzählt ihr einer der friulanischen Freunde von diesem Post. Denn etwas hat Leda in ihrem Leben ganz sicher noch nie probiert. Internet.
Hunger bekommen?
Auf noch mehr Geschichten über die Küche Italiens?
Hier ist Kochen drin:
JETZT als PRINT oder als eBook ab € 9,99
unter millemari.de/Ein-sommer-lang-sizilien.
sowie in jeder Buchhandlung oder bei AMAZON.