Um Mitternacht wache ich auf. Die Fallböen wecken mich, und LEVJE’s harte Bewegungen, wenn Wanten und Dirk im Wind zu schwingen und zu brummen beginnen. Ich höre die Ankerkette, wie sie hart einruckt, gefolgt vom Ächzen des Festmachers, mit dem ich die Ankerkette auf dem letzten Meter an LEVJE’s Bugbeschlag gesichert habe. Das Boot, das bei ruhigem Wetter nur mit einem leisen Glucksen in den Wellen liegt: es arbeitet jetzt in den Böen: knarzt, schwingt, summt, brummt, ächzt, gurgelt. Gibt hundert Geräusche von sich, die mir im Dunkel signalisieren: alles in Ordnung.
Ich stehe auf, gehe hinaus, und drehe eine Runde auf dem nächtlichen Boot. Sehe kurz nach dem Tiefenmesser, immer noch 5,60 Meter Tiefe – wir haben uns in den Böen nicht viel bewegt: LEVJE’s Anker hält uns also. Würde er nicht halten, würde er ins Rutschen kommen: Dann würde LEVJE von den harten Böen langsam in tieferes Wasser getrieben; der Anker würde dort seinen Halt verlieren – und LEVJE würde unweigerlich von Böen auf die Felsen gegenüber getrieben. Wir würden: „Scheitern“. In einem Lexikon aus dem Jahr 1641, das ich kürzlich auf meinem Hotelzimmer fand, als hätte es dort jemand hingelegt, nur für mich, Bücher „finden“ einen, habe ich ebenfalls schlaflos den Begriff „Scheitern“ nachgeschlagen: Das Lexikon, zusammengetragen von einem Mönch während der düstersten Phase des Dreißigjährigen Krieges, kannte für den Begriff „Scheitern“ nur diese Bedeutung: dass ein Schiff an der Küste zerschellt. Das menschliche, das berufliche Scheitern: In dieser Bedeutung gibt es das Wort wohl noch keine 30 Jahre. „Scheitern“ ist nicht nur einfach „seinen Job verlieren, weil man ihn nicht kann“. „Scheitern“ ist: Seinen Job verlieren, weil man sein Schiff nicht achtsam genug manövriert hat und Kräfte im Spiel sind: die größer sind als alles, was wir beherrschen.
Kräfte wie die Fallböe, die eben den Prophitis Elias, den hohen Berg nordwestlich von uns über dem
Örtchen mit Wucht hinunterrollt, durch leere Gassen, Tavernen fegt, hinaus auf die Bucht, in der ich mit LEVJE liege. Sie packt LEVJE’s Bug, schiebt ihn einfach nach rechts zur Seite, solange, bis die Ankerkette steifkommt, bis der Festmacher unter der Last, das Boot halten zu müssen, ächzend die Drehbewegung auffängt.
Alles hält. Ich gehe wieder unter Deck in meine warme Koje und lege mich schlafen.
Als es zu dämmern beginnt: sind es wieder die Fallböen und LEVJE’s Bewegungen, die mich wecken. Ich ziehe mich an, setze im Dämmer Wasser auf für meinen Tee. Die Sonne steht noch hinter der weißen Kapelle auf dem Hügel hinter uns, aber es ist schon taghell. Der karge, bis auf eine Stelle mit dunklem Grün gänzlich abgenagte Prophitis Elias strahlt taghell vor uns. Und in der Ferne oben, klein, weiß auf dem höchsten Gipfel, die Burg, die die Johanniter errichteten.
Weiterlesen bei: Rhodos. Die Johanniter. Hier.
Von LEVJE’s Ankerplatz schaue ich hinaus aufs offene Meer. Das Wasser ist tief tief dunkelblau, die Böen färben die Wasseroberfläche noch dunkler, dort, wo sie auf dem Wasser aufschlagen. Wind aus der richtigen Richtung – das ist gut. Ich beschließe, die Gunst des Windes zu nutzen, nur kurz zu frühstücken und gleich abzulegen, zu einem langen Schlag, auf alle Fälle nach Süden zur langen Insel Karpathos, mindestens bis zum Hauptort Pigadia, womöglich aber noch weiter bis zur Südspitze, vielleicht sogar bis zu nächsten Insel Kasos, von der Rod Heikell schreibt: Sie sei wahrlich ein windiger Ort.
Mein Tee ist fertig. Kurz in ein altes Brot gebissen, ich habe nur noch das seit Symi, seit drei, vier Tagen war ich nicht mehr an Land. Dann sehe ich nach dem Motor, kontrolliere den Ölstand, fasse mit der Hand aus Gewohnheit unter Seewasserpumpe und Motorblock, ob Wasser oder Öl austritt, schaue in die Bilge. Alles gut. Ich lege meine Schwimmweste an und den Lifebelt – wer weiß schon, wie es da draußen heute wird.
Ich gehe an Deck. Blicke mich einmal um. Alles gut. Los. Ich drehe den Zündschlüssel, drücke den schwarzen Starterknopf. Der Motor springt bullernd an, ich warte, bis Wasser aus dem Auspuff kommt. Dann hangle ich mich am Want vorbei zum Bug, löse den Festmacher, den ich als Ruckdämpfer zur Ankerkette eingesetzt hatte. Ich drücke auf die Steuerung der Ankerwinsch, ratternd beginnt sie, Glied um Glied der Kette herein ins Schiff zu holen. Immer wieder bin ich erstaunt über die Kraft, die die kleine Winsch dabei entfaltet, schließlich habe ich mein Ankergeschirr eine Nummer größer und schwerer gewählt als vorgesehen. Und nach den Fallböen dieser Nacht bin ich wieder einmal dankbar für diese Entscheidung. Rumpelnd kommt der Bügelanker hoch, auch ihn schaue ich dankbar an, wie er an seiner Spitze etwas Seegras-Wurzelwerk mit hochbringt. Hart scheppernd hole ich ihn in seine Halterung. „Anker frei.“
Ich gehe nach hinten, ins Cockpit. Nehme die Pinne in die Hand, drücke LEVJE’s Gashebel nach vorn in den Tuckergang. Behutsam drehen wir einen Kreis hinaus um unseren Ankerplatz, weg von dem Ort, der uns für die Nacht Geborgenheit bot. Raus als.
Kaum bin ich draussen: treffen uns die Fallböen noch härter. Ich setze das große Vorsegel, die Genua. Vielleicht zuviel Segeltuch? LEVJE nimmt in den Böen sofort rauschend die Fahrt auf, das Tuch spannt sich jetzt enorm, wenn die Böen von der Insel herunterdonnern, ich stelle den Motor ab, LEVJE läuft in den Böen mit über sieben Knoten vor dem Wind, die Fallböen von Chalkis: sie schieben uns hinaus, hinaus am Morgen auf dem offene See.
So geht das etwa 20 Minuten. Je weiter wir von Chalkis wegkommen: umso heftiger werden die Böen. Ich schaue sorgenvoll auf mein Vorsegel, wie es sich hart spannt. Fasse kurz ans Achterstag, das den enormen Zug vom Vorsegel auf die Mastspitze auffängt, es ist hart gespannt wie eine Bogensaite. Aber LEVJE läuft einfach wie auf Schienen hinaus unter dem Zug der Genua, was soll ich da eingreifen?
Und dann: ist mit einem Schlag alles anders: Wir sind aus der Abdeckung der Insel heraus, der Wind ist schlagartig vorbei, ein merkwürdiges Phänomen des ablandigen Windes, diese Kalmen. Als wäre nichts gewesen, schaukelt und klappert LEVJE hilflos in den sich kreuzenden Wellen, treibt einfach dahin, während keine fünfzig Meter hinter mir der Wasser noch von den Fallböen brodelt. Ägäis-Wind. Schon Homer erzählt in seiner Odyssee davon, und nicht nur Heinrich Schliemann, der große Grabräuber, lag richtig mit seinem „Homer schreibt genau.“
Na gut. Dann jetzt eben mit Motor weiter, es kann nur ein kurzes Stück sein bis zum nächsten Windstrich. Ich starte also den Motor. Und weil in der Kimm tatsächlich der Wind kleine Schaumkronen aufwirft, nutze ich die Zeit. Und setze das Großsegel. Vorsichtshalber mal binde ich schon das erste Reff ein – die Fallböen seit Stunden kommen ja nicht aus dem Nichts: Sie sind der umgewandelte Wind, der von Nordwesten auf die Berghänge Chalki’s auftraf. Sich mühsam den Gipfel hinaufwälzte, um dann, wer weiß, von welchen thermischen Phänomenen aufgeladen, beschleunigt, sich die andere Seite des Inselberges mit rasender Wucht hinunterzustürzen. Kommt man aber aus dem Windschatten des Inselberges heraus: dann trifft man den regulären, den ursprünglichen Nordwest wieder an; meist nach einer kleinen oder größeren windstillen Zone.
LEVJE klappert unter Motor durch die kabbelige See, weiter hinaus und weg von der Insel. Keine zehn Minuten später haben wir ihn gefunden, den Wind. LEVJE’s Segel ziehen plötzlich, ich öffne das Groß und fiere den Großbaum weit hinaus, der Wind kommt schließlich mehr als querab. LEVJE spurtet los, der Motor läuft nur noch leer mit, der Wind hat jetzt den Antrieb übernommen. Ich stelle den Motor ab. Kurz den Ganghebel in den Rückwärtsgang, damit der Faltpropeller sich zusammenklappt und dem vorbeiströmenden Wasser keinen Widerstand mehr bietet. Und dann zieht LEVJE los durch die rauschenden Wellen.
Es ist ein anstrengender Kurs. Je weiter wir von Chalki wegkommen, je weiter der Vormittag vorrückt, umso mehr nehmen Wind und Welle zu. Der Wind mit 20, 25, 28 Knoten , er kommt von schräg achtern und treibt Welle um Welle genau in LEVJE’s Heck. Es wird angehoben, nach backbord weggedreht, der Bug wandert ruckartig nach steuerbord, der Autopilot hat ratternd alle Hände voll zu tun, ruckartig fährt der Steuerarm des Autopiloten aus und versucht, die Pinne in die richtige Richtung zu drücken. Ein unendliches Spiel, das die Wellen da abliefern und dem ich fasziniert zuschaue, wie sie immer wieder von rechts hinter uns anrollen, dem Autopiloten, wie er arbeitet und vor allem: LEVJE, wie sie sich in den Wellen verhält und wie ein irisches Curragh von Wellenkamm zu Wellenkamm schießt. Hier mein Video von diesem Abschnitt:
Langsam kommt Karpathos in Sicht, langgestreckt und hoch, ein bisschen wie das kroatische Dugi Otok, die die Italiener Izola Lungha, die lange Insel nannten. Karpathos – es liegt auf meinem Kurs wie eine Hauswand, an der ich entlang muß: Gehe ich an der Westseite von Karpathos entlang, werde ich starken Wind haben, der auf die Hauswand trifft und uns auf die Hauswand zutreibt. Aber auf die ganze Insellänge von 30 Kilometern keinen Hafen, keine Bucht. Es würde bedeuten: durchzusegeln bis heute Abend bis nach Kasos, zur nächsten Insel, wo auch der nächste Hafen läge, in stetig starkem Wind. Oder: ich gehe die Ostseite der Hauswand entlang. Sie ist windabgewandt, der Wind fällt hier über das Hausdach herunter, wird unstet sein: Fallböen, die in großer Stärke herabfallen und mit Kalmenzonen wechseln. Aber ich habe die Chance, weiter südlich am Nachmittag Pigadia zu erreichen, den Hauptort von Karpathos mit großer Bucht und Hafen. Und südlich davon sind ebenfalls geschützte Buchten.
Ich entscheide für Letzteres. Es scheint mir entspannter, zumal ich jetzt am späten Vormittag den frühen Aufbruch spüre und müde werde. Eben fielen mir die Augen kurz zu, ich dachte noch im Einschlafen: ich könnte es mir leisten, alles um mich sei frei und kein Schiff weit und breit seit drei Tagen. Ich weiß nicht, wie lange ich schlafe, es sind wohl keine zehn Minuten, als mich irgendetwas weckt, ein innerer Warnton, ich weiß nicht was. Ich blicke auf und: keine 100 Meter entfernt läuft ein Frachter auf uns zu, verflixt, wo kommt der denn her? „Pass bloß auf“, schimpfe ich mich und gehe sofort höher an den Wind, um den Frachter an mir vorbeiziehen zu lassen. Es ist die TAI STAR, ein Stückgut-Frachter, ich überlege kurz, ob ich ihn über Funk anrufen soll, um rauszukriegen, ob er mich wenigstens auf dem Radar sah. Aber wahrscheinlich hat auch er mich nicht gesehen, ich kenne das, weil ich zwei mal auf Containerfrachtern mitfuhr. Ein Mann auf der Brücke auf Wache, müde wie ich, mit Papierkram beschäftigt, der Autopilto und das Radar laufen ja.
Also entscheide ich mich für das kürzere, aber böigere Wegstück. Der Wind nimmt zu auf 25 – 30 Knoten, LEVJE’s Groß ist im kleinsten Reff, und es ist eine Lust, sie zu segeln, wie mein Video von diese Stelle zeigt, mit dem fernen Karpathos am Horizont:
Es ist später Nachmittag, als der Wind weiter zunimmt. Ich stehe etwa 45 Minuten vor Pigadia, als der Wind konstant auf über 30 Knoten auffrischt. LEVJE hat das Groß im 2. Reff, die Genua ist ebenso auf kleinste Segelfläche heruntergerefft. Ak Patella liegt recht voraus, und hier staut sich der Wind, der von den Bergen Karpathos‘ herunterfällt. Die Schaumkronen werden dichter, die ablandigen Wellen höher und steiler und folgen dicht aufeinander, Gischt weht wagrecht über LEVJE’s Vordeck, der Windmesser nähert sich der 40 Knoten Marke, die Pinne knarrzt schwer unter dem Ruderdruck, ich brauche viel Kraft für die Pinne, selbst auf diesem Kurs. Ich gehe auf halben Wind, die Fahrt mit dem fast achterlichen Wind wird mir zu riskant, immer wieder drehen die hohen Wellen LEVJE’s Heck aus der Richtung. Ich steuere LEVJE auf die Hafenmole von Pigadia zu – hoffentlich siehts da vorne nicht so wild aus wie hier? – die langsam hinter dem Gegischte in Sicht kommt. Der Wind rüttelt und zerrt am gerefften Vorsegel, Gischt kommt über, salzt mich ein wie einen Trockenfisch, aber ich bin erstaunt, wie sauber LEVJE den starken Wind wegsteckt und ihren Kurs hält. Segeln bei knapp 40 Knoten mit einem 31-Fuß-Schiff – erstaunlich, wie gut das geht. Ich halte nun auf die Bucht mit dem großen Sandstrand nördlich von Pigadia zu, eine weite geschützte Bucht, blicke öfter sorgenvoll ins Groß ob des gewaltigen Winddrucks, der darauf lastet. Und suche die Kimm ab, Richtung Sandstrand, ob ich nicht schon irgend ein Zeichen sehe, dass die Wellen niedriger werden, die Schaumkronen, die sich überschlagend dicht folgen, weniger. Noch nicht. „Das muss doch weniger werden da vorne, es weht doch ablandig…“ bete ich mir vor. Noch nichts zu erkennen.
Ich weiß nicht mehr, ob es eine Meile war. Oder drei, die ich so dahinsegelte. Die Konturen am Strand wurden klarer. Ganz rechts eine kleine Fabrik, eine Wasserentsalzungsanlage, arbeitet mein Gehirn. Sonnenschirme und Mattelagen, vereinzelt Menschen am ewig langen Strand. Endlich in der Kimm: das Wasser wird türkis – die Wellen werden flacher, noch sieben Minuten, noch fünf. Der Winddruck auf die Segel läßt nach, nur noch in Böjen legt LEVJE sich jetzt flach aufs Wasser, ich spüre jeden Muskel meiner beiden Arme, mit denen ich die Pinne heranziehe, um LEVJE auf ihrem Kurs zu halten. Die Drücker werden weniger, schlagartig ist das Wasser türkis, weil wir dem Ufer näherkommen und die Sedimente vom Ufer sowie die geringere Wassertiefe das Licht anders brechen und das Wasser türkis „färben“. LEVJE segelt aufrecht, das Wasser wird glatter und glatter, ich komme dem Strand näher, 10 Meter Tiefe, noch näher zum Strand hin, „da vorne müßte es gut sein, um den Anker fallen zu lassen“. Und plötzlich bin ich nur noch von stillem Türkis und leisem Glucksen an der Bordwand umgeben. Der Wind weht sanft, LEVJE schnürt dem Strand zu, läuft wie auf Schienen.
Ich schaue mich um. Am Strand spielt ein Mann mit Kind Federball. Eine Frau auf einer Liege reibt mit langsamen Bewegungen Sonnenöl ins Gesicht. Von LEVJEs Deck läuft immer noch übergekommenes Spritzwasser ab. Das Cockpit ein Durcheinander: Reffleinen, Cockpitkissen, Fallen, Genuaschoten verrutscht, verschoben von Segeln mit viel Lage, ein wüstes Ineinander, in dem nur meine Wasserflasche geborgen liegt wie ein Baby. Unter Deck? Reden wir nicht drüber, „What a mess!“ Salz auf meiner Haut, Salz in meinem Bart, meine Brille salzstarrend, mein Hut brettsteif vom getrockneten Meerwasser. Vor mir: friedliches Strandleben. Ich drehe mich um: Hinter mir, kein Fußballfeld entfernt, dreschen Fallböen auf die Wasseroberfläche und werfen Schaumkronen und Gischt auf. Kein Fußballfeld entfernt: immer noch über 30 Knoten.
Agäis-Segeln.
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