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KEIN GANZ NORMALER TÖRN, TEIL 7: Die Nacht. Der Golf de Lion. Andrea. Und die 40 Windstärken.

Es ist zehn vor neun, als wir endlich aufbrechen. Tagsüber hatte es in heftigen Böen aus Ost in den Vieux Port von Marseille geweht. Ich bin unschlüssig, ob wir bei dem Wetter rausgehen sollten. Mit einer Crew von Nichtseglern. Menschen, die noch vor wenigen Monaten das Übelste: Chemo- oder Strahlentherapie durchgemacht haben. Mit allen Begleiterscheinungen. Mit allen, wirklich allen Folgen.

Kann man das? Darf man das?

Auch Marc, der Skipper, ist sich angesichts der Wetterberichte nicht sicher. Zumal ja auch hier in Marseille zwei neue Crew-Mitglieder zu uns stoßen werden, die wegen des Piloten-Streiks auch noch nicht eingetroffen sind. Marc und ich beraten uns. Es sind für den 2. See-Tag sicher nicht die besten Bedingungen: Wind 5-6 Beaufort auf Raumschots-Kurs. Böen darüber. Wellenhöhen 3-4 Meter im Golf. Aber auch nichts, was jetzt akut Gefahr bedeuten würde. Unser Schiff, die ROXANNE, ist eine 49-Fuß-Yacht: Groß genug, gebaut für genau so etwas. Wir beschließen, in jedem Fall rauszugehen. Und wenn die Verhältnisse wirklich schlimm werden sollten: Nach Port Saint Louis, unseren Ausgangshafen abzulaufen. Das ist das wirklich Schöne an diesem Revier: Häfen und Schlupflöcher gibt es hier, im Golf de Lion, diesem wirklich anspruchsvollen Seegebiet, alle 10 Seemeilen. Das hat man nicht überall so.

Gegen sieben ist Susanne da. Aber ohne Gepäck. Das hat die LUFTHANSA verbaselt. Wieder überlegen wir: sollen wir noch warten? Ihre dringendste Medizin hat Susanne zwar im Handgepäck. Aber alles andere, Segeljacke, Stiefel, warme Wäsche: Sie sind im Gepäck. Und LUFHANSA sagt: frühestens morgen. Wir beschließen, trotzdem rauszugehen. Susanne wird immer die Ausrüstung von jemandem tragen, der gerade wachfrei hat. Und ihr Gepäck dann in Barcelona erhalten.

Es ist zehn vor neun, als wir endlich aufbrechen. Der Wind hat sich beruhigt. Über der Marina ist es ruhig. Das Riesenrad leuchtet über dem Hafenbecken. Es ist ungewöhnlich ruhig. Aus dem Gebäude der SOCIETE NAUTIQUE schallt etwas Lärm von einem Club-Event herüber. Ausgelassene Menschen in Feierlaune. Sie tanzen, reden, essen im Warmen. Wir: stehen draussen: eingepackt in dicke Klamotten. Schwere Seestiefel. Rettungswesten Lifebelts. Drunter mindestens zwei Lagen Unterwäsche. Dann Fleece. Soviel ist sicher: es wird kalt werden, da draussen in dieser Nacht auf dem Golf. Um die 8 Grad. Im Starkwind.

Der Weg über den Golf de Lion hinüber nach Spanien, nach Porto Roses, ist etwa 120 Seemeilen lang. Wir rechnen mit einer Zeit auf See von etwa 20 Stunden. Marc hat uns in zwei Wachen eingeteilt: Die erste Wache besteht aus Marc, Anna, Hauke und der neu hinzugekommenen Susanne. Die zweite Wache besteht aus mir, Jo und Andrea. Sunnyboy Felix, der einen Film über uns dreht, unser Kameramann, wird abwechselnd jede Wache filmen. Wenn die Wetterbedingungen es zulassen und wir Skipper es erlauben. Die erste Wache wird uns aus Marseille heraussegeln in den Golf hinein. Nach Mitternacht, gegen halb zwei, so ist es geplant, übernimmt die zweite Wache. Und die erste legt sich schlafen. Vier Stunden dauert jede Wache. Um halb sechs werden Marc und sein Team uns dann wieder ablösen. 

Das Ablegen, es klappt lautlos in der Nacht. Leise tuckern wir jetzt aus dem windstillen Hafen, ROXANNE gleitet wie ein Luftschiff majestätisch vorbei an der imposanten Festung. Wir passieren in der Dunkelheit die Außenmole. Jetzt sind wir draußen. Die ersten Wellen. ROXANNE nimmt sie gelassen, aber sie sind nicht zu übersehen. Das Schiff beginnt zu arbeiten, Schotten knarzen leise, als das Schiff eintaucht. An Deck leises Gemurmel. Wo soll der Fender noch mal hin? Wie geht der Webeleinstek noch? Die klammen Finger tun ein Übriges. Als das Schiff aufgeklart ist in der Dunkelheit, bitte ich meine Wache unter Deck. Jetzt ist jede Minute kostbar. Schlafen. Genau vier Stunden. „Ruht Euch aus.“

Aber so einfach ist das mit dem Schlafen nicht. Der Seegang ist gröber geworden. Marc hat oben Segel gesetzt. Das Schiff arbeitet noch stärker, das Gurgeln des Wassers, draussen, Zentimeter von mir entfernt hinter der knapp ein Zentimeter dicken Bordwand aus Glasfaser, ist nicht zu überhören in hunderterlei Tönen. Taucht das Schiff in die Welle: staucht es mich in die dünne Matratze. Taucht das Schiff aus der Welle heraus, schwebe ich sekundenbruchteile darüber. Trotzdem schlafe ich drei, vier, fünfmal ein. Bis mich Kommandos, Stimmen, das Rauschen des Funkgeräts in der Dunkelheit gleich wieder wecken. Geregelter Schlaf? Kein Gedanke.

Dann klopft es an meine Tür. Es ist kurz vor zwei. Der Wind hat deutlich zugenommen. Ich ziehe mich langsam an. Die Funktions-Unterwäsche. Die Fleece-Unterwäsche. Zwei Wollpullover. Dicke Wollsocken. Schwerwetter-Hose. Seestiefel. Seejacke. Schwimmweste. Lifebelt. Meine Wollmütze. Handschuhe. Es geht los.

Jo und Andrea warten schon. Wir gehen hoch an Deck. Da sieht es übel aus. Während Felix über Wind und Welle jubelt, hat Anna, Hauke, Susanne und Marc die Seekrankheit gepackt. Felix, Sunnyboy, hat für jeden immer ein Paiertuch parat. Marc ignoriert die Übelkeit, er steht kreidebleich, doch unbeirrt am Steuer. Anna und Hauke leiden schwer, müssen sich immer wieder über die Bordwand übergeben. Jetzt nur die richtige Seite erwischen, die, bei der der Wind, der mit 25 bis 30 Knoten weht, den Kram fortträgt und nicht aufs Schiff.
 
Kaum sind wir an Deck, ziehen die vier ab, zu ihrer verdienten Ruhe. Kaum sind wir an Deck, muss auch Andrea spucken. Während ich das Schiff aufklariere in der Dunkelheit und Jo am Steuer steht, muss sich Andrea übergeben. Ihr ist schlecht. Auch sie ist nun seekrank, sie sitzt still an Deck. Fällt aus. Ich bitte Sunnyboy Felix, unseren Kameramann, doch so gut zu sein: und im Salon zu schlafen. Wahrscheinlich werden wir reffen müssen: und dafür brauche ich noch eine weitere erfahrene Hand im Starkwind. Er soll sich bereithalten.
 
Andrea beugt sich über die Reling nach achtern, um sich zu übergeben. Wieder und wieder. Der Wind nimmt gegen zwei weiter zu, wir haben jetzt 30-35 Knoten, kein Mond, kein Stern am Himmel. Ich habe noch einmal reffen lassen, Jo und Felix klettern in der Dunkelheit auf dem schwankenden Deck nach Vorne, das Groß ist jetzt mit kleinster Segelfläche draußen, die Genua im 2. Reff. Die ROXANNE rauscht dahin durch die stockdunkle Nacht, kein Schiff, kein Licht am Horizont. Sie ist wie ein größer Stahlcontainer, der durch die Wellen getrieben wird, vom kalten Wind, schaukelnd, schwankend, knarrend, knarzend, geigend. Um uns sind nur die Wellenkämme erkennbar, zu denen man jetzt manchmal hinaufschauen muß, wenn sie heranrollen. 

Kein Ort, an dem man sein will? 
Kein Ort, an dem man genesen kann? 
Oder doch?
 
Als Andrea zum 11. Mal über die Reling kotzt und sich erschöpft herüberbeugt, höre ich sie sagen: „Das ist das Gute: Kotzen hab‘ ich letzten Dreivierteljahr echt gelernt. Das schmeißt mich nicht mehr um.“ Wie bitte? „Naja: nach der Chemo kotzt Du soviel: das macht Dir nichts mehr aus. Du merkst einfach, was wirklich wichtig ist. Und dass Du kotzt: ist nicht mehr wichtig.“ 
 
Nur zittern tut sie jetzt heftig. Ich weiß nicht, was ich machen soll. Bitte Felix, während ich am Steuer stehe, doch Cola zu holen, für Andrea. Das hat meinen Brüdern auch immer geholfen, wenn die als Kleinkinder kotzten. Bei Andrea hat der Schluck Cola zunächst den gegenteiligen Effekt. Sie beugt sich zum zwölften Mal über die Reling. Aber das Zittern ist weg. Und ihre Lebensgeister kehren zurück. Ich setze sie ans Steuer. Die alte Regel, vielleicht hilft sie ja auch hier: Wer steuert, wird nicht seekrank. Und Andrea nimmt die Aufgabe an: Sie steuert das mehr als 10 Tonnen schwere Schiff alleine durch die Finsternis, bei Wind zwischen 25 und 35 Knoten. Und ihre Lebensgeister kehren zurück. Irgendwie. Sie kämpft und kurbelt tapfer. Ein ums andere Mal läuft ihr das Schiff aus dem Ruder. Es macht nichts. Wir haben Zeit. Sie ist ein ziemlicher Brocken, die Frau aus dem Pott, und steuert tapfer. Obwohl sie zum ersten Mal am Steuer einer Yacht steht. Zumal in dieser Extremsituation.
 
Als der Morgen langsam graut – und es ist tatsächlich nicht mehr als ein lichtloses Grau über dem Meer – weht der Wind immer noch mit 30, 35, teilweise 40 Knoten.

Wir steuern die ROXANNE aus der Nacht in den Morgen, sind jetzt mitten auf dem Meer. Halb sechs Uhr morgens. Knapp hundert Kilometer in alle Richtungen kein Land mehr. Das Handy: es hat schon lange kein Netz mehr. Und wird auch jetzt lange keins haben. Wir sind auf uns gestellt.

Die hohen Wellen sind da. Die Gischt, die sich in zarte Streifen legt. Die Wellenkämme, die neben uns brechen. Ein paar Seevögel, die lautlos durch die rauschenden Wellentäler ziehen. Es sind faszinierende Landschaften. Hügel, die heranrollen, und unter ROXANNE liebkosend durchgehen, eben, als ich noch denke: die knallt jetzt voll an die Bordwand.


„Am schlimmsten war es für mich, meine Angehörigen während meiner Krankheit leiden zu sehen. Meine Mama. Rafael, meinen Mann. Es ist so schlimm, dass ich nichts für sie tun konnte. Mein Mann würde das zwar nicht hören wollen: aber bevor er Krebs kriegt: krieg das lieber ich.“ Ruhrpott. Da redet man so. Wie nett, dass das ein Teil Deutschlands ist.


Jo steht in der Dämmerung am Steuer. Er ist 49, Darmkrebs. Und während Andrea neben ihm sitzt und ihm die Windstärke vorliest, immer wieder im starken Wind die Knoten-Anzahl vorsingt, steuert Jo die Yacht die Wellenberge hinunter. An einem Samstag Morgen, der kein ganz normaler Samstag Morgen ist, weit, weit entfernt vom Land. Draußen.

Das Wetter macht ihm nichts aus, Jo ist schon öfter gesegelt, bevor er krank wurde. Er hat sein Leben rigoros geändert, hat sich getrennt aus seiner langjährigen Beziehung, suchte eine neue Beziehung, erzählt mit leuchtenden Augen darüber.

Gegen sieben wecke ich Marc. Er ist nicht fit. Trotzdem geht der Skipper ans Ruder, zusammen mit Susanne, Anna und Hauke. Sie übernehmen ihre Wache, steuern das Schiff. Während Andrea, Jo und ich unter Deck gehen. Feuchte Klamotten ausziehen. Und dann ganz schnell unter die Bettdecke. Schnell. Schnell. Schlaf. Wärme. Köstlich.


Hauke (liegend), Anna am Ruder, Susanne und Marc.

Gegen 10 Uhr löse ich Marc wieder ab. Trommle meine Crew, Andrea und Jo, aus dem Tiefschlaf. Wieder das gleiche Spiel. Wieder rein in die noch feuchten Sachen. Das Schiff: es hat keine Heizung. Was einmal feucht ist: bleibt feucht. Was einmal nass ist: bleibt nass. Ein bisschen hilft es, die nassen Sachen in der Kälte mit Küchenkrepp und Zeitungspapier auszustopfen. 20 Minuten braucht man, bis man wieder in seiner Montur ist, die Anzieh-Prozedur von gestern Abend wiederholt hat. Dann sind wir drei fertig. Und gehen rauf an Deck.

Der Wind ist ruhiger geworden, am Morgen, wir haben jetzt noch 15-20 Knoten, aber es beginnt zu regnen. Nur leicht, aber es reicht um alles nass zu machen. Aber die Segelsachen, die HELI HANSEN den Segelrebellen für diesen Törn als Sponsor kostenlos zur Verfügung stellte: sie halten dicht.

Die Hälfte dieses langen Schlages, die haben wir jetzt hinter uns. Es regnet. Lufttemperatur etwa 11, 12 Grad. Wind raumschots aus Südost. Weil wir drei uns fit fühlen, steuern wir weiter, lassen Marc und seine Wache auch über die vereinbarte Zeit schlafen. Dunkle Wolken ziehen am frühen Nachmittag auf vor uns. Wir halten auf Cap Creus zu, eigentlich müßte man das schon längst sehen, aber die schwarze Wolkenbank versperrt uns die Sicht. Liegen die Felsen jetzt 15 oder 5 Seemeilen vor uns? Ich gehe nach unten, um unseren Standort zu ermitteln. Jo und Andrea steuern das Schiff. Ich trage unseren letzten Ort in die Seekarte und ins Logbuch ein. Die dunkle Wolkenwand: wir werden eins auf die Mütze bekommen, so viel ist sicher.

Gegen 14 Uhr erwischt uns die Kaltfront. Schlagartig Starkregen, die Sicht geht auf 50 Meter herunter, dafür steigt jetzt der Wind. Auf über 40 Knoten nimmt er zu, ich steuere das Schiff, „gottseidank hab ich vor 10 Minuten gerefft,“ ich hatte so eine Ahnung, manchmal funktioniert das ja. Andrea steht neben mir, singt mir ständig Windstärke aus und die Tiefe. Ich habe vor, mich im Starkwind an der 100 Meter-Tiefenlinie entlang zu bewegen, bis wir Cap Creus umrundet haben und vor der südlichen Einfahrt nach Porto Roses stehen. Und dabei muss mir Andrea jetzt helfen.


In der Weite des Meeres, verloren in der Schönheit der See: Andrea, Jo, ich bei der Arbeit im Regen. Gefilmt von Kameramann Felix.

Der Wind legt noch einmal enorm zu, Gischt weht waagrecht übers Vordeck, ich kenne das, wenn das Boot in die Wellen taucht, es ist mein Kennzeichen, dass der Wind jetzt in den Vierzigern weht. Segeln bei acht Windstärken. Eine Viertelstunde dauert der Starkregen. Dann nimmt er ab. Die Sicht wird besser. Aber der Wind, der bleibt. Bis Andrea plötzlich die Delfine entdeckt. Unmittelbar nach dem Sauwetter.


Es ist eine ganze Herde: Zwei, drei, vier Alt-Tiere mit über zwei Metern Länge. Ein, zwei Kleinchen sind dabei. Sie springen neben dem Boot aus dem Wasser. Sie schwimmen im Bug mit uns mit. Sie tauchen unter ROXANNE durch, sind mal links, mal rechts. Meine Wache jubelt, schreit, ruft, mitten im Starkwind. Freut sich, ohne Grenzen, ohne Ende. Delfine, Delfine. Wie immer, wenn man diesen Türen auf dem Meer begegnet, ist man tief berührt. Ein Schmetterling ist schön. Ein Delfin ist unser Bruder, unsere Schwester. Fünf Minuten dauert das Spiel: dann sind die Delfine weitergezogen. Aber sie haben uns ein reiches Geschenk gemacht.

Endlich tauchen die Felsen von Cap Creus vor uns auf in den Wolkenfetzen. Sie sind noch weiht weg. Aber weil es immer noch um die 40 Knoten, teilweise bis 50 Knoten weht, wecke ich Marc gegen drei, um zur Sicherheit die Navigation zu machen. Es klappt zwar ziemlich gut, mich entlang der 100 Meter-Tiefenlinie an Creus entlang nach Süden zu hangeln, aber an dieser Leeküste sollten wir zu zweit das Schiff navigieren. Marc bestimmt laufend unter Deck die Position, Andrea hält mich mit dem Aussingen der Tiefen auf der 100 Meter-Linie, ich steuere. Gegen 16 Uhr stehen wir vor Porto Roses, gegen 16.30 machen wir im Hafen endgültig fest. Das Boot ist innen klatschnaß. Die Crew jubelt ausgelassen. Wir sind fröhlich und voller Freude über das, was wir an diesem Tag geleistet haben. Im März über den Golf de Lion. Danke, Marc. Für die Idee mit den SEGELREBELLEN.

Und ich: ich träume. Von einem großen Teller mit heißer Paella. Und dazu drei Gläsern Rotwein. Mindestens. 

KEIN GANZ NORMALER TÖRN, Teil 6: In Marseille.

Am späten Nachmittag des Donnerstag erreichen wir Marseille. Marc bringt das Schiff in den Vieux Port, den alten Stadthafen, mitten rein in die Stadt. Ein guter Platz. Wenn nur der SOCIETE NAUTIQUE DE MARSEILLE, der Traditionssegelclub, in dem wir liegen, nicht in Trauer wäre über seine Club-Kameradin, die französische Segellegende Florence Arthaud, die bei einem Hubschrauberabsturz in Guadeloupe ums Leben kam. Das Porträit der Seglerin, der ihr Leben ins Gesicht geschrieben steht, prangt zwischen Blumensträußen über dem Eingang in die Societé.

Die Crew der Segelrebellen ficht dies nicht an. Unser Schiff ROXANNE liegt zwischen lauter Yachten aus den 20igern, weiß und gepflegt wie das Clubgebäude. Ein wunderbarer Ort, um in Marseille zu sein. Mitten drin in den sichtbaren Narben und Umbrüchen dieser Stadt.

Marseille ist gezeichnet von diesen Umbrüchen. Die Flut Algerieneinwanderer in Nachkriegsjahren, Überfremdung, Rassenkonflikte und Gewalt in den Siebzigern. Reihenweise schließende Industrien seit den Neunzigern, Arbeitslosigkeit. Phänome, mit dem Ettikett „Des-Industrialisierung“ in ein dürres Wort gekleidet. Alles, was wir in Deutschland auch kennen, nur nicht in dieser Heftigkeit. Die Stadt, die Regierung, die sich dem mit Kraft entgegenstemmen. Versuchen, Tourismus, Dienstleistung, neues hereinzubringen. „Nach den besten Jahren. Aber sexy.“

Die Crew ist fröhlich. Zwei weitere Mitglieder stossen dazu: Mitsegelerin Andrea, die in den Tagen zuvor von der BILD-Zeitung für ein Interview über die SEGELREBELLEN ausgewählt worden war:

Am nächsten Abend um 21 Uhr legten wir ab. Segelten hinaus in den Golf de Lion. Und warum mich Andrea wirklich beeindruckte, während wir die Nacht bei bis zu 40 Knoten durchsegelten: darüber schreibe ich in meinem nächsten Post. Hoffentlich heute Abend.

KEIN GANZ NORMALER TÖRN, Teil 5: Anna. Oder: das dümmliche Grinsen.


 
„F*ck cancer go sailing“ ist das Motto von Marc Naumann’s Organisation SEGELREBELLEN, die es jungen, an Krebs erkrankten Erwachsenen ermöglicht, Segeln zu gehen. Mare Più begleitet ihn auf seiner Jungfernfahrt. Lesen Sie auf Mare Più und auf Marc’s Blog SEGELREBELLEN, wie es zugeht. Auf diesem KEIN GANZ NORMALER TÖRN. Von Marseille nach Mallorca.
 
 

 

Am Morgen motoren wir hinaus auf See, durch den Kanal. Das Meer ist spiegelglatt. Kein Grund, nicht Segeln zu gehen. Aber auch kein Grund, zu glauben: dass es für unseren gesamten Törn so bliebe.

Und darum beginnt Marc mit der Ausbildung seiner Crew. Unter Fahrt lässt er die Segel setzen und wieder bergen. Die Fock ausrollen. Und wieder einholen. Immer wieder.


Das Bild eines ganz normalen Törns fröhlicher junger Leute. Jo, Anna und der Skipper: Marc. Alle drei sind nach schwerer Krebserkrankung mit Strahlen- und Chemotherapie jetzt – auf dem Meer.
Die Crew übt „Mann über Bord“ unter Motor. Dreht Kreise auf dem spiegelglatten Wasser, lernt aufstoppen. Boje über Bord holen. Marc ist konsequent. Ganz großer Bruder kreist er um seine Herde, um die Schäflein. Bringt sie in die richtige Richtung. Er macht es gut.

Und dann kommt Anna ans Steuer. Eigentlich kann sie nicht Segeln. Aber jetzt sie dran, unter Marc’s Anleitung „Mann-über-Bord“ unter Motor zu üben.

Anna ist dabei: weil ihr vor Weihnachten irgendwo ein Folder der SEGELREBELLEN in die Hände fiel. Sie beschloß: mitzusegeln. Zusammen mit ihrem Freund Hauke, den sie in der ReHa kennenlernte. Sie sind zusammen auf diesem Törn, Hauke und sie.

Als Anna vor über einem Jahr mit drei Freundinnen in Malaysia war, fiel ihr plötzlich das Atmen schwer. „Es war eine richtig schöne Reise“, sagt Anna. Und deshalb schob sie ihre gesundheitlichen Probleme aufs asiatische Klima. Wieder zurück in Deutschland, fiel es ihr immer schwerer, Atem zu holen. Untersuchungen begannen. Gewebeproben. Wieder und wieder. Bis Anna, 26, die Diagnose bekam: Lymphdrüsenkrebs. „Ich sah es als Aufgabe“, sagt Anna, während ihre Eltern zusammenklappten. „Ich hatte es. Ich mußte es einfach als Aufgabe sehen, die ich zu übernehmen hatte.“ Diese Disziplin brachte Anna dazu, die Dinge in die Hand zu nehmen. Sie arbeitet heute wieder in ihrem Beruf als Orthopädie-Mechanikerin.

„Es ist nicht ganz leicht in der Gesellschaft, als junger Erwachsener von Krebs betroffen zu sein. Die Gesellschaft hat sich daran gewöhnt, dass es Krebs gibt. Der betrifft vor allem ältere Menschen. Die sterben dann daran. Und für krebskranke Kinder gibt es an Weihnachten eine Spendengala. Als junger Erwachsener halten die Leute es schlecht aus“, sagt Anna ohne Bitterkeit. „Manche meiner Freundinnen schafften es einfach nicht. Andere wurden dafür um so engere Freunde, taten alles für mich.“


Jetzt steuert Anna die ROXANNE hinaus aufs Meer. Als ich ihr die Fotos zeige, mache ich sie darauf aufmerksam: dass sie auf allen Fotos lächelt, wenn sie am Steuer steht. Und ich erkläre ihr: was es mit diesem Lächeln auf sich hat.
In einem früheren Beitrag über „Segeln mit Nichtseglern“ schrieb ich schon einmal darüber: Stellt man jemanden, der noch nie zuvor im Leben gesegelt ist, an das Steuer einer Yacht und zeigt sich auf dessen Gesicht dies Lächeln: Dann ist dies ein untrügliches Zeichen. Dafür: Dass Segeln genau das richtige ist für den, der da am Steuer steht. Für denjenigen, der das Schiff, die Dinge im Griff, in der Hand hat. Das Lächeln ist wie ein Test, der untrüglich blaue Tinte orange färbt.
Ich nenne den Test: „Das dümmliche Grinsen“. Anna ist es ins Gesicht gemalt.

KEIN GANZ NORMALER TÖRN, Teil 4: Ablegen

Der Morgen ist da, über Port Saint Louis, über unserem Liegeplatz. Der zweite Tag unserer Reise. Heute werden wir aufbrechen. Hinaus auf dem Kanal, den die Tanker auf ihrem Weg hierher in die südfranzösischen Erdöl-Raffinerien nehmen. Ein erster Schlag über 22 Seemeilen nach Osten, nach Marseille. In den Vieux Port. Mitten in die Stadt hinein. Dorthin, wo die Geschichte dieser urfranzösischen Stadt ausgerechnet als griechische (!) Flüchtlings-Siedlung vor zweieinhalb Tausend Jahren begann.

Marc hat das Transparent seiner SEGELREBELLEN am Schiff angebracht: „F*ck cancer, go sailing“, hat er sich als Motto für seine Organisation gegeben. Ein gutes Motto. Und gestern, in Port Saint Louis, wurden wir auch schon angesprochen. Aber diese Geschichte von Hugo, dem Schweizer, der im Herbst mit seiner REINKE von Bremen nach Port Saint Louis gelangte und nur über Binnen-Wasserstraßen über mehr als 300 Schleusen seinen Weg nahm: dies ist eine andere Geschichte.

Jetzt heißt es: Platz nehmen, für Marcs fünf Passagiere. Einsteigen. Und hinaus. Hinaus mit Marc’s SEGELREBELLEN auf See.

PS: Und heute Abend: da berichte ich über Anna. Für sie ist der blaue Stuhl reserviert im Bild oben. Heute Abend.
                                                 

KEIN GANZ NORMALER TÖRN, Teil 3: Auf dem Schiffsfriedhof von PortSaintLouis.

Dies ist die Geschichte keines ganz normalen Törns: Der Jungfernfahrt von Marc Naumann’s Organisation SEGELREBELLEN, die mit jungen, an Krebs erkrankten Erwachsenen hinaus aufs Meer geht und die Mare Più auf dieser Fahrt begleitet. Lesen Sie Marc’s Geschichte hier. Marc blogt über diese Reise zeitgleich auf seinem Blog.

Die Nacht senkt sich über den Industriehafen, nur wenige Hundert Meter vom Delta der Rhone entfernt. Fischreiches Brackwasser. Scheinwerfer. Das Geräusch des Frachters gegenüber neben den Silos in der Dunkelheit, der entladen wird. Der Schiffsdiesel, der seine Decks taghell erleuchtet. Und über allem, noch lauter als metallisches Schlagen und Surren von Motoren: Das laute Geräusch der Frösche, millionenfaches Quaken aus dem nahen Delta, das allen Lärm übertönt und zu unserem Schiff ROXANNE herüberklingt. Wir liegen in Port Saint Louis, 50 Kilometer westlich Marseille, direkt an der Rhone-Mündung, im Industriehafen mitten im Delta.

In den eigentlichen Hafen von Port Saint Louis motorten wir durch den Kanal, zum Einkaufen, auf den Wochenmarkt. März in Frankreich: Kühl. Kahle Platanen. Ein lautloses Gleiten auf dem Schiff durch brachliegende Industrie-Flächen und vergessene Zeugen von Unternehmergeist. Niedergang, Verfall, Scheitern in phantastischer Mündungsdelta-Landschaft. Der März ist eine hervorragende Zeit, um zu Reisen, auf See.


Die Crew der Segelrebellen. Auf dem Weg durch Port Saint Louis.
 Als das Schiff vollgepackt ist mit allem: motoren wir zurück zu unserem Liegeplatz im Industriegebiet. Auf der einen Seite die Getreidesilos. Auf der anderen Seite – wir. Aber nicht allein. Sondern inmitten Hunderter, Tausender an Land liegender Yachten, Barkassen, Motoryachten. Port Saint Louis: das ist neben seinen Industrieruinen auch ein bevorzugter Landliegeplatz für Schiffe aller Art. Doch wann ist ein Landliegeplatz kein Landliegeplatz mehr, sondern lautlos übergegangen in etwas, das man besser als Schiffsfriedhof bezeichnet.

Vernachlässigte Schiffe, soweit das Auge reicht. Schiffe, deren Namen von schönen Projekten, großen Plänen und besten Absichten künden und die doch nur seit Jahren unter schäbiger Fetzenplane vor sich hin rotten. Ein Ort, an dem Pläne ihr Ende fanden, aus welchen Gründen auch immer. Ein Ort, an dem aus einem „endlosen Sommer“ längst Trostlosigkeit geworden ist. Wann wurde aus festen Vorsätzen ein Scheitern? Wann ist der Moment, in dem ein großes Projekt, ein Schiff zu besitzen, zu Segeln, buchstäblich auf Grund läuft?


Daneben: wieviele Möglichkeiten es wohl gibt, ein Schiff zu bewohnen, wenn das Fahrwasser immer enger wurde? Wenn es keine Möglichkeit mehr gibt, sein Schiff darin zu wenden, sein Schiff hinauszubringen aufs offene Meer? Wenn der Landliegeplatz nicht nur erzwungen vom Winter, sondern von Dauer ist?

Die Crew der ROXANNE kennt diese Fragen aus dem eigenen Erleben. Vielleicht besser als manche als andere Crew. Leidenschaftlich wird beim Abendessen darüber diskutiert: was die Gründe sein können: für die vernachlässigten Boote. Das Leben: es geht eigene Wege, oftmals.


     
 

KEIN GANZ NORMALER TÖRN, Teil 2: Aufbruch.

Dies ist die Geschichte keines ganz normalen Törns: Der Jungfernfahrt von Marc Naumann’s Organisation SEGELREBELLEN, die mit jungen, an Krebs erkrankten Erwachsenen hinaus aufs Meer geht und die Mare Più auf dieser Fahrt begleitet. Lesen Sie Marc’s Geschichte hier. Marc blogt über diese Reise zeitgleich auf seinem Blog.

Was für ein Zauber doch über jedem Aufbruch liegt.

Es ist dunkel draußen und still, morgens gegen drei, als Marc und ich im Olympischen Dorf aufwachen. Und ebenso still und leise unseren Tee kochen. In der Dunkelheit das Haus verlassen, über und über bepackt mit: Seesäcken, Rucksäcken, Kartons mit Schwimmwesten, sperrigen Seestiefeln. Für die Crew. Die Amseln lärmen. Der Fernsehturm strahlt uns grün an in der warmen Märznacht. Es ist ein Zauber, der über dem Aufbruch liegt, dem Hinausgehen, dem Ablegen, dem Lossegeln.

In den letzten Tage galten die Gedanken dem Wetter. Der Golf de Lion: wie wird das wohl, Mitte März, in der Zeit der Frühjahrsstürme? Selten habe ich ein Revier beobachtet, in dem sich zwei, drei Tage vorher die Bedingungen änderten, die Vorhersagen so rasch drehten. Eine Seite hat es mir bei meinen Beobachtungen vor allem angetan: das ist windyty.com. Man zoomt sich in das gewünschte Fahrtgebiet hinein. Und kann dann in einem Wetterfilme beobachten, wie sich der Wind in dem Revier – in unserem Fall zwischen Marseille und Mallorca – entwickeln wird. Grün steht für 5 Beaufort, Orange für 6 Beaufort, Rot für 7 Beaufort, Violett für 8 Beaufort, Dunkelblau für „Nur noch gruselig“.

Klickt man auf die Animation links unten, wird klar: wie sich das Wetter über die nächsten Tage entwickeln wird. Zoomt man sich in größere Maßstäbe, wird verständlich, dass das kleine Windfeld, in dem wir uns jetzt gerade bewegen, Teil eines gewaltigen Ganzen ist. Der Mistral, der aus dem Binnenland hinausbläst aufs Meer, weht dort vergleichsweise schwach gegenüber dem, wie er sich weit draußen auf dem Meer, genau zwischen Balearen und Sardinien, zu seiner schieren gewaltigen Größe aufbaut. Verständlich wird  die Geschichte einer 12-Meter-Yacht aus dem Buch SCHWERWETTERSEGELN, die genau dort im August 1980 in arge Bedrängnis geriet. Verständlich wird, was für gewaltige Energien die Tiefdruckgebiete zwischen Islandt und Grönland aufbauen: in windyty.com sind es riesige blaue Flächen. Was heiß, dass es dort über riesige Räume beständig in Orkanstärken stürmt.
Wir begreifen, dass wir in diesen großräumigen Bewegungen nicht nur als Segler, sondern auch als Stadtbewohner kleinste Teile in wahrhaft riesigen Bewegungen und Wirbeln sind: nichts anderes als eine Handvoll aufgewirbelter Blätter in gewaltigem Herbststurm. Allerkleinste Teilchen in einem riesigen Gebilde. Wie Mark und ich, die wir in unseren schwarzen Kleinwägen hintereinander durch die menschenleere Stadt brausen: um die anderen Segler aufzulesen, die mit uns kommen: auf einen ungewöhnlichen Törn.

Special Thanks to DRIVE NOW. Das Carsharing-Unternehmen stellte den SEGELREBELLEN kostenlos zwei BMW MINI für den nächtlichen Transport der Mitsegler zum Airport zur Verfügung.

… und weil diese Reise KEIN GANZ NORMALER TÖRN ist: bitte ich die Leser von MARE PIU, unsere beiden Posts möglichst an viele andere Interessierte weiterzuleiten. 
Um Marc und seine Idee zu unterstützen. 
Danke.
 

 

TO DO OR NOT TO DO…it yourself

Was hilft gegen Frühjahrsmüdigkeit? Natürlich Anti“faul“ing! 

Träge vom grauen Winter habe ich mir das schützende Nass dieses Jahr sogar online bestellt und nach Hause liefern lassen. Und dann geschieht es wieder einmal, vorhersehbar und doch immer wieder überraschend. Jedes Jahr um Mitte März herum erscheinen die ersten Vorboten des Frühlings in Form von einigen Tagen Sonne und Temperaturen über 10°C. Antifoulingzeit. Eigentlich keine Arbeit auf die man sich  freut, aber auch keine die wehtut. Bei meinem Boot suche ich eigentlich nur nach losen Farbresten des letztjährigen Anstrichs, entferne diese, und übermale dann das letztjährige Blau mit dem diesjährigen Rot. Zeitaufwand ca. 2 Stunden. Es ist angenehm warm, die Sonne lacht vom Himmel, an jedem zweiten Boot wird gearbeitet. Es läuft irgendwo Musik im  Autoradio, man arbeitet und klönt mit den Nachbarn. Und mit einem Male fühlt es sich an als hätte es den Winter nie gegeben. So als wäre schon wieder Segelsaison. Körper und Geist füllen sich mit Energie und Aufbruchsstimmung; wie gerne würde ich heute schon den Nord-Ostseekanal in Richtung Holtenauer Schleusen befahren. Der Moment des Öffnens der Schleusentore in Richtung Ostsee fühlt sich alle Jahre wieder  wie der Beginn eines langen Sommerurlaubs an. Dieser Geruch. Das kann nur verstehen, wer das einmal erleben durfte.

Und während ich so vor mich hinträumend mein Schiff bauchpinsele (Madame hat aber auch einen sehr dicken Bauch) fällt mir eine Begebenheit ein, die nun 3 oder 4 Jahre zurückliegt. Gleicher Ort, anderes Schiff. Eine bei ebay ersteigerte Friendship 23,  zwar deutlich schlanker und kürzer als „La Mer“, sollte mich  noch den letzten Nerv kosten. Das Antifouling begann nämlich großflächig abzublättern und  die Überwinterung im Wasser des Harburger Hafens plus eine weitere Sommersaison hatten es nicht besser gemacht. Natürlich hatte ich kein Geld für die Reparatur und wollte es also notgedrungen selber machen. Mit einer Buddel Whiskey ging ich also zum örtlichen Bootsbauer Olli und sagte: „Olli, sach ma?“ 

Er erklärte mir dann den ganzen Vorgang. Altanstriche abkratzen, anschleifen, mit Gelshield das Unterwasserschiff neu aufbauen und versiegeln, streichen, fertig. Und bot mir direkt an sein passendes Werkzeug und Material zu benutzen. Und dann kam seine sehr, sehr kluge Frage: „Warum willst du das denn unbedingt selber machen?“ Ich erklärte, das ich mir die Reparatur nicht leisten könne, und daher selber ran wolle. Daraufhin sagte Olli: „Ich mache so etwas hier beinahe täglich, habe Mitarbeiter die sich auskennen, die richtigen Maschinen und Räumlichkeiten. Ich kann das deutlich besser und schneller machen, als du es jemals hinbekommen wirst.“ Das glaubte ich ihm aufs Wort, aber es nützte mir ja nichts. Doch jetzt fügte er noch hinzu: „Du kannst doch sicher auch etwas richtig gut. Warum machst du nicht lieber das, lässt dich dafür gut bezahlen, gibst mir dann das Geld und ich erledige hier für dich die Arbeit?“ 

Das stimmte natürlich, aber ich zog erst einmal irgendetwas murmelnd meines Weges. Schließlich geht es mir nicht nur darum Geld zu sparen. Je mehr ich selber machen kann, umso sicherer fühle ich mich. Ob nun Diesel, Rigg, Elektrik, Bilge, am Anfang ist mir jedes Boot so fremd, das ich mich immer unwohl fühle. Erst wenn ich einmal in jeder Ecke nachgesehen habe, alle Kabel und Leitungen kenne und selbst Dinge eingebaut und repariert habe, mag ich auf größere Tour gehen. Von daher dachte ich mir also zunächst: Do it yourself. Nach drei vollen Arbeitstagen im Regen draußen im Freilager hatte ich es dann aber gerade einmal geschafft ein DRITTEL der Backbordseite sauberzukratzen. Frustriert saß ich mit schmerzenden Händen auf dem Boot und hörte das Echo Ollis weiser Worte in meinen Ohren klingeln. Und gab auf. 

Und wie Zufall oder Schicksal so spielen, klingelte auf dem Rückweg nach Hamburg das Telefon und ein Kollege (damals war ich noch fest angestellt) fragte, ob ich für ihn am Wochenende ein Event durchführen könnte, da er überraschend verhindert sei. So ein Event bedeutet üblicherweise um die 14-16 Stunden Arbeit jeweils Freitag, Samstag und Sonntag. Equipment zusammenstellen, stundenlang auf die Autobahn, ein stressiger Veranstaltungstag und am Sonntag alles wieder retour. Nicht unbedingt das, was man sich unter einem erholsamen Wochenende nach einer bereits vollen Arbeitswoche vorstellt. Aber zur Überraschung des Kollegen sagte ich sofort zu und befreite mich damit augenblicklich von der fürchterlichen Arbeit am Boot, die ja auch mein Wochenende ruiniert hätte. Und zwar gründlich. Finanziell sollte es aufgrund der vielen Überstunden auch ungefähr hinkommen. Bingo. 

Selten habe ich mit so viel Freude eine Veranstaltung geleitet, das Publikum begrüßt, mich um technische Probleme gekümmert, Künstler mit typischer Verspätung und passender Attitüde freundlich behandelt. Und bin fröhlich singend am Sonntag zurück nach Hamburg gefahren. Ausgepowert, aber glücklich den Farbkratzer nie wieder anfassen zu müssen. 3 Wochen später war das Boot dann fertig. Und wie! Hier und da hatte Olli noch etwas ausgebessert, das ganze Unterwasserschiff neu aufgebaut, gestrichen. Es sah aus wie neu. Das hätte ich nie so hinbekommen. Nie! Und seitdem denke ich auch heute noch zweimal nach wenn es wieder einmal heißt: TO DO OR NOT TO DO…it yourself.
Auch schon mal drüber nachgedacht?
    

Unter Segeln: Ab kommenden Mittwoch von Marseille nach Mallorca. Oder: KEIN GANZ NORMALER TÖRN (I.)

Am morgigen Sonntag startet die 5. Etappe des VOLVO OCEAN RACE um die Welt. Über 6.776 Seemeilen treten die weltbesten Segler gegeneinander an. Von Neuseeland nach Brasilien. Von Auckland nach Itaijai.

Es gibt aber auch Rennen: Da treten Menschen gegen einen noch größeren Gegner an. Gegen sich selbst.

Am 14. Februar berichtete die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG in ihrer Samstags-Ausgabe unter dem Titel TÖRN DER GUTEN HOFFNUNG über Marc Naumann.
Marc ist 33. Er studierte Jura in München. Während seines Studiums erkrankte er an einem Gehirntumor, der durch Strahlentherapie entfernt wurde. Ein Jahr später konnte er sein Studium wieder aufnehmen, erkrankte aber vor dem nächsten Versuch, sein Examen in Angriff zu nehmen, erneut. Ein Rezidiv.

Die Diagnose seiner wiederkehrenden Erkrankung warf ihn aus der Bahn.

Auf Anraten seiner Ärzte unterzog sich Marc einer Hochdosis-Chemotherapie. Und beschloss noch während der Therapie: Segeln zu gehen. Während der ganzen Behandlung gab ihm diese Entscheidung Kraft. Segeln zu gehen, wurde für ihn gleichbedeutend mit: gesund zu sein.
Marc heuerte als „Hand gegen Koje“ auf einer Contessa 32 an. Und segelte im Herbst 2012  zusammen mit Boris Aljinovic von Cuxhafen nach Calais. Er segelte zusammen mit Boris gegenan. Gegenan gegen Frühjahrsstürme. Gegenan in der Nordsee. Gegenan im Ärmelkanal. Gegenan, den Mut zu verlieren.
Das Erlebnis des GEGENAN hat Marc sehr bewegt. Sein Studium schloß er ab, besser als erwartet. Und dennoch: Aus diesem Erlebnis heraus beschloss er, seine juristische Karriere erst mal an den Nagel zu hängen. Inspiriert von Bernard Moitessier organisiert er sein Leben bescheiden. Und gründete: die SEGELREBELLEN. Eine Organisation, die jungen, an Krebs erkrankten Menschen nach Abschluß der Therapie die Möglichkeit gibt, auf dem Meer zu Segeln.
Als Marc mir seine Geschichte erzählt, bin ich bewegt. Davon, wie er sein eigenes Schicksal selbst in die Hand genommen, nicht aufgegeben hat. Dass er die Verantwortung für sich nicht abgegeben hat. Während ich Marc zuhöre, stelle ich fest, dass ich die Krebserkrankung, den Kampf meiner Eltern, die beide nacheinander an Krebs erkrankten, zwar irgendwie weggesteckt, aber nicht begraben habe.
Noch eins haut mich um:

„Meine Erkrankung war das Beste, was mir begegnen konnte“. Sagt Marc heute.

Hallo? So würde das kein Mensch formulieren.
Als ich das genau wissen will, sagt Marc: „Was wäre ich denn heute? Ein Jurist, der gut verdient, arrogant und überheblich durch die Stadt geht und sich überlegt, wofür er seine Kohle als nächstes rauswirft. Stattdessen: geh‘ ich segeln und nutze meine Zeit für Sinnvolles. Und helfe anderen Menschen, ihren Mut wiederzufinden. Und die Kraft, Verantwortung für sich nicht an Andere abzugeben.“

 

Am 18. März wird Marc aufbrechen zur Jungfernfahrt der SEGELREBELLEN. Unterstützt von zahlreichen Unternehmen wie HELLY HANSEN, SEALSKIN, KAYA Zu seinem ersten TÖRN DER HOFFNUNG. Zusammen mit fünf jungen Leuten, die ihre Therapie gerade überstanden haben, wird er von Marseille über den Golfe du Lion segeln. An der südfranzösischen Küste entlang. Von Marseille nach Mallorca. Im März. Über den Löwengolf. Durch die stürmischste Region des Mittelmeers. In der stürmischen Jahreszeit.

Ich werde Marc und seine Crew begleiten. Als zweiter Skipper auf diesem Törn von Marseille über Agde, Barcelona nach Mallorca. Und hier auf MARE PIU jeden Tag berichten. Ab Mittwoch, den 18. März. Wie es der Crew geht. Wie es mir geht. Was wir erleben werden.

Auf einem Törn, der sicher KEIN GANZ NORMALER TÖRN werden wird.

PS: Und wer ganz genau wissen will, wie es auf diesem Rennen gegen sich selbst zugeht: Marc postet  seine Erlebnisse ebenfalls täglich. Auf seiner Website der SEGELREBELLEN.

Weiterlesen bei: Die SEGELREBELLEN.

… und weil diese Reise KEIN GANZ NORMALER TÖRN ist: bitte ich die Leser von MARE PIU, unsere beiden Posts möglichst an viele andere Interessierte weiterzuleiten. 
Um Marc und seine Idee zu unterstützen. 
Danke.

Menschen am Meer: Der große Markt von Finike. Oder: Was hat Ibrahimeigentlich mit mir zu tun?

 

Jeden Samstag ist großer Markt in Finike. Die Segler, die neben LEVJE im Hafen von Finike überwintern, freuen sich auf den Samstags-Markt. Am Samstag lassen sie Schiff einfach Schiff sein. Unterbrechen ihre Frühjahrs-Arbeit, das Streichen des Niedergangs, das Schleifen an alten und neuen Holzteilen, das Schwätzchen auf der Pier. Und freuen sich einfach, auf den Markt zu gehen. Denn schließlich ist in der Marina von Finike jeden Sonntag um 13 Uhr im PORTHOLE, dem Aufenthaltsraum für Segler, das große Barbecue. Die Zutaten, seine Mitbringsel: kauft man am Samstag. Auf dem großen Markt.

Der große Markt von Finike verblüfft zunächst mal. Türkische Händler sind wahre Ästheten, was das Präsentieren ihrer Sachen angeht. Jedenfalls die Händler von Finike. Feinsäuberlich stapeln, schlichten, sortieren, trennen, separieren sie die Dinge, die sie anbieten. Lassen Endividien-Köpfe stramm stehen in Reih und Glied vor General „Kunde“. Verkaufen, das lernt man wieder einmal hier, hat zuallererst damit zu tun, wie man aussehen läßt, was man verkaufen möchte. Und die Händler von Finike geben sich große Mühe damit.


Zumeist sind es natürlich Obst und Gemüse, was die Händler anbieten. In der ganzen Ebene südlich von Antalya, um Finike herum, werden Orangen, Mandarinen und allerhand sonstiges Grünzeug angebaut. Kumluça, wenige Kilometer von Finike entfernt, preist sich als Anbauort von Tomaten und Orangen. Der Orangensaft, der „Portakal Suyu“: er schmeckt hier ganz anders als manch saures Zeug, was oft bei uns als Orange aussehend und „Frisch gepresst“ landet.

Wenn man mit dem Flugzeug in Antalya landet, ist es ähnlich wie auf Gran Canaria, Tausende Seemeilen weiter westlich: dann sieht man die ganzen Plastik-Gewächshäuser rund um die Riesenstadt Antalya herum. Es wimmelt nur so von Gewächshäusern. Selbst in, auf, und um die antiken Ruinenstädte von Myra und Limyra sind Gewächshäuser errichtet, „Antike unter Tomatenzucht“, man trifft sie hier im Süden überall. Wieder einmal beeindruckt mich die Türkei. Es ist soviel Ehrgeiz, soviel Wille erkennbar, die Dinge, die Zukunft in die Hand zu nehmen.



So streife ich über den großen Markt. Kann mich nicht satt sehen an all den Farben, die die Händler da geschickt präsentieren. Wüßte ich es nicht besser: würde ich sagen, jeder von Ihnen hat eingehend sein Handbuch gelesen, „Besser verkaufen.“ Irgendwie sind sie einfach geborene Händler, die Türken auf dem großen Markt von Finike.


Und während ich herumstreife, erliege ich meiner Schwäche fürs Essen, die sich in hemmungsloser Neugier äußert: Für die Nüsse, die auf dem Markt vor aller Augen frisch gebrannt werden und die man heiß in ein Tütchen gefüllt bekommt.


Für den bröseligen Käse, der geflochtenen Körben kommt. Hunderterlei verschiedene Käse, die vor meinem Augen defilieren.


Mein Widerstand schwindet. Ich kaufe hier ein paar Zucchini. Dort Tomaten. Dann drei Forellen, noch lebend aus dem Tank. Dann muss ich den bröseligen Käse am blaurotweißen Stand probieren. Endgültig setzt mein Hirn aber aus, als ich zwei Stände mit meiner Leidenschaft entdecke: Helva. Körniger, zuckersüsser Sesamzeug-Nachtisch. Den ich jetzt NICHT im Foto wiedergebe.

Helva pur!
Helva mit Pistazien!!
Helva mit Schokolade!!!

Dicke Stücke lasse ich mir von Ahmed schneiden, die Unvernunft eines Kindes, das den geheimen Weg in die Marmeladenkammer gefunden hat. Dabei mag ich sonst eigentlich nichts Süßes.

Mit gefühlten 25 Tüten bin ich schon fast auf dem Heimweg, als ich in der Ecke des Marktes drei Stände entdecke. Gözleme. Türkische Pfannkuchen. Wollte ich schon immer mal probieren.


An seinem Stand empfängt mich Ibrahim. Seine Frau und eine Helferin backen dort die verschiedenen Gözleme auf einem heißen Blech. Die Helferin hat ein langes Holzstäbchen. Damit rollt sie die Gözleme aus. Faltet sie. Und übergibt die rohen dünnen Teigscheiben gefaltet an Ibrahims Frau, die am Herd sitzt. Zum Ausbacken. Solche mit Fleisch und Käse. Andere pur. Wieder andere sind mit Grünzeug gefüllt, Petersilie, Sellerie-Stückchen.

Währenddessen geht es mir mit Ibrahim so, wie es mir als Segler im Winter in Finike oft ergeht: Ich spreche mein Gegenüber mühsam türkisch radebrechend an. Und erhalte eine Antwort auf Deutsch. Es waren schon ulkige Antworten dabei. Die beste, vor Jahren, typisch, als ich einen sehr türkisch aussehenden Türken fragte, woher er so gut Deutsch könne, lautete: „I han siebe Johr beim Daimler gschafffft.“

Ibrahim war nicht beim Daimler. Aber in Deutschland war auch er. Ging 1980, mit Zwanzig dahin. Arbeitete als Küchenhilfe, als Kellner. Als ich frage, wo, sagt er: ob ich München kenne. Als ich bejahe, stellt sich heraus, dass Ibrahim lange Jahre im Nachbarort kellnerte, in dem ich aufgewachsen bin. Vielleicht bin ich Ibrahim mal im Biergarten begegnet, in dem er arbeitete. Vielleicht standen wir gemeinsam in irgendeiner Schlange an der Kasse. Vielleicht hat er sich gefreut, über einen gemeinsamen Augenblick. Eine Begegnung. Vielleicht hat er sich geärgert, weil ich unachtsam war.

Vielleicht hat ja auch XING, das große Netzwerk recht, das behauptet: „Jeder ist mit jedem bekannt.“ In XING kann man einfach einen irgendeinen Namen eingeben: Und schon zeigt einem das Netzwerk, dass es tatsächlich nicht mehr als zwei gemeinsame Bekannte braucht, über die man sich kennt.

Vielleicht liegt ja auch darin der Reiz auf dem großen Markt von Finike. Zu verstehen, dass wir zwar Fremde sind. Aber doch Gemeinsamkeiten haben. Bis hin zu einem Moment, den wir mal miteinander teilten.

 

Vom Millionär zum Tellerwäscher


Folgendes Szenario: Jemand macht euch das Angebot ein halbes Jahr lang ein hochexklusives Leben zu führen. Villa am Meer, Privatjet, eigener Koch und Fitnesstrainer, Bootshaus, denkt euch etwas aus. Dazu ein Limit von einer Million auf einer Kreditkarte (wem das nach Alltag klingt, der kann hier übrigens aufhören zu lesen).  Der erste Impuls wird wohl ein lauter Jubelschrei sein und die Vorfreude auf das wohl beste halbe Jahr des Lebens. Doch ist es das wirklich? Was passiert wenn das halbe Jahr vergangen ist? Kann man sein Leben danach einfach weiter führen und damit glücklich sein? Oder fühlt sich das Leben danach schlechter und grauer an? Unvollkommen und leer? Wie „Pretty Woman“ ohne Richard Gere, und man probiert sich mit seinem alten Leben zu arrangieren, hofft aber insgeheim, dass der Prinz zurückkommen möge? So ähnlich geht es mir nun seit die Zeitmillionen meines monatelangen Sommertörns aufgebraucht sind, und ich wieder mein altes Leben lebe. 

Gedanken an die Zeit nach der Erfüllung meines Traumes hatte ich stets bewusst weit von mir geschoben. Zunächst galt es ja so vieles vorzubereiten, und Pläne zu machen. Von einsamen Ankerbuchten und Schärenplätzen zu träumen. Auf gutes Wetter zu hoffen. Darauf folgte dann das bewusste Genießen jedes Augenblickes auf der Ostsee; ein Leben für den Moment. Oder wie Christian Irrgang  in seinem Buch „Ostsee linksherum“ beschreibt: das bewusste Auskosten des Momentes im exakten Moment des Erlebens. Und nicht erst Monate später in der Erinnerung, weil man den Moment vor Ort verpasst hat. Sondern sich vielleicht gerade Sorgen um die Zukunft machte. Dieses zeitnahe Realisieren des Glückes ist mir perfekt gelungen, und ich danke hiermit jedem Autor für Hinweise dieser Art, da sie einen davor bewahren in die gleiche Falle zu tappen. In diesem Beispiel, die oben beschriebene Situation. Worauf ich nämlich nicht vorbereitet war, war das „Danach“. Das Erwachen nach der Reise, wenn von dem Traum nichts mehr über ist. So sehr man auch probiert hat ihn festzuhalten und noch ein paar Sekunden weiter zu träumen.

Sicher, alle Reisebücher und Berichte haben ein Ende. Da klingt das dann entweder so:  „Nach Anzahl Monaten/Jahren bin ich nun wieder in unsere alte Wohnung gezogen und mache mich auf den Weg zur Arbeit. Die Kollegen fragen: „Uuups, schon wieder da?“ und widmen sich ihren täglichen Aufgaben und auch ich bin schnell wieder Teil des Getriebes. Häufig träume ich noch von usw…..“, oder so: „Auf meine Bewerbungen nach Ende des Studiums folgten ja viele interessante Angebote und in drei Wochen beginne ich nun eine neue interessante Aufgabe, die mich zunächst sicher sehr ausfüllen wird. Für das Segeln werde ich also erst einmal weniger Zeit haben….“. Es gibt natürlich noch viele weitere Varianten, aber meistens ende sie mit einem „Unhappy End“ im Sinne von „So das war‘s, nun muss ich aber mal wieder.“ Pretty Woman muss zurück auf die Straße. (Schöner haben es hier einzig die betuchten Rentner, dort würde dann beispielsweise stehen: „Toller Sommer. Nächstes Jahr wollen wir dann für ein ein paar Monate nach Norwegen“. Würde stehen. Denn meistens schreiben die ja nicht, sondern genießen einfach nur. Die Weisheit des Alters.) 

Aber kann man das wirklich so einfach? Kann man wirklich sagen: „So das war’s“, der Traum wurde gelebt, abgehakt, weiter im Text? Mir jedenfalls gelingt es nicht. Zu sehr hänge ich an den Erinnerungen, an dem Gefühl meiner Zeitmillionen, an der Freiheit und der Ungebundenheit des letzten Jahres. Doch dieser Traum ist erstmal ausgeträumt und kommt so nicht mehr wieder. Trotz aller neuen Pläne und Aufgaben, die nun auch hier auf mich warten, fühlt es sich oft leer an. Leer und grau. Denn was ich tue ist eben nicht so einmalig, wie in Erfüllung meines Traumes monatelang über die Ostsee zu segeln. Sicher, es ist auch schön und hat seine Momente, aber eben nicht in dieser Dichte. Kann es ja gar nicht sein. Sonst wäre es ja nichts Besonderes gewesen.  Ich bin nicht unglücklich hier, nur seit ich weiß, wie es sein kann anders zu leben, fällt es mir schwer einfach wieder so zu leben wie vorher. Eben so, als wäre man sechs Monate Millionär gewesen und nun wieder Tellerwäscher. Und genau darauf war ich nicht vorbereitet. Das mir das Leben, was mir vor der langen Reise gut gefiel, nun etwas weniger gut gefällt, weil ich hinter dem Horizont etwas Neues und Schöneres gesehen habe. Aber genau darauf sollte sich jeder einstellen, der Ähnliches plant oder gerade erlebt.  Denn es wird deine Sicht der Dinge unweigerlich verändern. Ich wollte das hier nur mal gesagt haben.

Mir bleiben jetzt drei tröstende Gedanken. 

Eins: Wenn mir mein Leben vorher so gut gefallen hätte, hätte ich dann den Aufwand betrieben hinter den Horizont zu fahren? Vermutlich nicht.

Zwei: Das wahre Glück, liegt nicht in den Millionen, sondern in den Menschen und der Liebe um einen herum. Das ist zu mindestens die Aussage zahlloser Filme, die diesen Gedanken aufgreifen und auch  bei mir definitiv wahr. Ich würde jedenfalls keinen der mir eng verbundenen Menschen für Zeit- oder Geldmillionen hergeben.   

Drei: Wer sagt denn, dass man nicht von neuen Abenteuern träumen kann? Nein, sogar muss um nicht depressiv zu werden. Denn die eigenen Träume sind ja stets das Produkt aus den Erfahrungen hinter dem Horizont und den entstandenen neuen Sehnsüchten. Und sie wachsen in gleichem Maße, wie ich auf der Reise innerlich gewachsen bin. 

Menschen am Meer: Wie Pit den Winter auf dem Wasser verbringt.Oder:Wieviel braucht es, um glücklich zu sein?

Und dann stehen wir mitten in der Nacht in Bremen in einem Industriegebiet. Es ist Februar. Der Regen prasselt nadelscharf aufs Auto, als wir aussteigen. Container. Ein Bahnhof. Lagerhallen. Kräne. Stahltrümmer. Eine Schrottpresse. Kälte.

Ein unwirtlicher Ort. Pit hat uns eingeladen. Auf sein Boot, hier in Bremen, in einem kleinen Stadthafen. Pit ist Autor. Vor allem: Pit ist Segler. Daneben hat er auch noch einen richtigen Bürojob. Er arbeitet in einer Marketing-Abteilung, macht PR. Sein Haus hat er schon vor längerer Zeit verkauft. Er wollte auf dem Boot leben. Klar hat seine Lebensgefährtin eine Wohnung. Aber wann immer er kann, lebt Pit hier auf dem Boot. Im Winter mitten in Bremen. Und im Sommer unterwegs auf der Nordsee.

 

„Sehnsuchtsvolle Menschen leben dort: wo Ihre Sehnsüchte genährt werden.“ So begann der bislang einzige Roman meines besten Freundes Andal. Die Heldin des Romans lebte auf einem Schrottplatz und fühlte sich dort pudelwohl. Als ich vor vielen Jahren ernsthaft begann zu Segeln, hatte ich ganz andere Vorstellungen vom richtigen Leben: Mein Boot sollte in einer schönen Marina liegen. Ein schöner Sportboothafen, allles gepflegt, alles chic, alles tiptop. So dachte ich mir das. Aber meine erste Bootsbeteiligung, das Leben, führte mich ganz woanders hin. Nach Livorno, kurz hinter den Containerhafen. Das Schlagen von Stahlcontainer auf Stahlcontainer, wenn Fiederschiffe in der Nacht  ein paar Hundert Meter weiter beladen wurden. Das gleißend gelbe Licht der Quecksilber-Dampflampen über dem Gelände. Lokomotiven, die langsam schwere Containerzüge aus dem Hafen schoben. Räder, die auf Stahl schlagen. Neben uns haushoch gestapelte Leer-Container, umwuchert von mannshohem Unkraut in der Dunkelheit. Wie die rundum aufgepallte Yachten jeden Alters, verrutscht, verrückt von Zeit und Wind. Der Geruch des Meeres und herüber von der Raffinerie. Ein metallisches Sirren in der Luft. Calambrone. Ich entdeckte, das mein Herz anderes wollte als mein Hirn. Meine Vorstellung, wie ein guter Liegeplatz auszusehen hat, hatte sich grundlegend gewandelt.

 

Also: bin ich entzückt, wo Pit seine Winter verbringt. Weil die Tide hier vier Meter beträgt, liegt das Boot heute tief neben anderen im Hafenbecken. Zuerst die naßkalte Stahltreppe hinunter. Dann im Regen die rutschige Holzbrücke hinab auf den Schwimmsteg. In der Dunkelheit, im Eisregen knarzende Festmacher, als wir den Steg entlanggehen. Und auf das Boot klettern. Eine Kuchenbude über dem Steuerstand. Ah, herrlich, ein trockener Platz. Schuhe aus. Dann durch den Niedergang nach unten. Das Licht geht an. Die Heizung auch. Pit schließt mit schneller Bewegung das Schiebeluk. Schnell wird es warm. Auch deshalb, weil Pit die Kerzen auf dem Tisch anzündet und sich warmes Licht im Deckshaus verbreitet. Und ein paar Flaschen dazustellt. Irgendein Aniszeug, was ich eigentlich nicht mag. Was macht das schon, dass die Dinge im Kleinen manchmal nicht nach Wunsch gehen. Der Ouzo wärmt. Der Moment ist zu schön. Hier auf dem Boot. Im vom Kerzenlicht erhellten Deckshaus nach draußen schauen, in die Kälte, in den prasselnden Regen. Sich richtig Geborgen fühlen in der Unwirtlichkeit der Welt.

 

Schon ein merkwürdig Ding, das menschliche Herz. Ich verstehe Pit nur zu gut. Ihn, den Wanderer zwischen den Welten. Sein Leben zwischen dem Thrill von PR und der einsamen Klarheit der Schrottpresse.
 
Wieviel braucht es, um glücklich zu sein?

Das Leben kann schon ganz schön einfach sein.
Auf dem Wasser.

Menschen am Meer: Steve. Die Schlei. Oder: Warum ausgerechnet ein Amerikaner das beste Risotto kocht.

Mit der Kunst, italienisch zu kochen ist es wie mit der italienischen Sprache: Nur allzu leicht meint man, darin bewandert zu sein, es halbwegs „drauf“ zu haben. Worte und Gerichte gehen vergleichsweise leicht von der Hand. Und doch: stelle ich nach Jahrzehnten des Italienisch-Sprechens fest: Dies perfekt zu beherrschen, wirklich gut zu sprechen, ist ebenso schwieriges Unterfangen wie halbwegs Mandarin zu erlernen. Italienisch ist voll von Konnotationen. Kürzeln. Beigeschmäckern. An- und Be-Deutungen: die nur Italiener untereinander in ihrer Komplexität verstehen.

Ebenso ist es mit der italienischen Küche. Spaghetti Bolognese zum Beispiel. Augenscheinlich doch ganz einfach mit dem „Spaghetti-Hackfleisch-Dingsda“. Aber um das wirklich gut hinzubekommen: muss man schon einige geheime Regeln kennen. Ich weiß, wovon ich spreche: Ich habe jahrelang in Italien versucht, mich in Restaurants an Köche ranzupirschen, um das Geheimnis einer richtig guten italienischen Muschelsauce herauszubekommen. Es dauerte Jahre, bis mir die Köchin des OBELISCO im Containerhafen von Livorno – sie kuckte immer durch ein klitzekleines Fenster aus der Küche ins Restaurant wie Lukas, der Lokomotivführer, aus seiner Emma – ihr einfaches kleines Geheimnis verriet. Seit dem Zeitpunkt sind „Spaghetti a lo Scoglio“ der Bringer.


Die Schlei im August: Das Licht am Morgen auf der „kleinen Breite“.

Die Freundschaft zwischen Steve und mir begann rein beruflich. Wir lernten uns auf einer Messe kennen. Er leitete einen großen Verlag. Ich einen kleinen. Wir verehrten beide denselben deutschen Verleger, stellten wir fest. Von da ab trafen wir uns einmal jährlich. Immer auf dieser Messe. Klinkten uns einfach für eine abends für eine halbe Stunde aus dem Getriebe der Messe aus. Für „die blaue Stunde“ hatte Steve eine besondere Flasche schottischen Whisky am Stand. Und vielleicht ist meine Liebe zu Whisky in jener halben Stunde auf der drögen CeBIT in Hannover geboren, in den Gesprächen mit Steve. Er war treu: War ich nicht da: stand er immer irgendwann am Stand und ließ seine Karte mit einer Notiz für mich zurück. Es war mir immer eine Freude. Denn jedesmal knurrte mein Boß: Steve: sei „seine Liga“. Steve und ich: wir machten uns ein Spiel daraus.

Irgendwann erzählte mir Steve was von einem Boot, das er sich gekauft hatte. Für die Schlei. Eine SCHÖCHL MANTA. Genau die hatte ich auch gekauft, wenige Monate zuvor. Wieder ein paar Jahre später, wieder auf der Messe, wieder abends zur „blauen Stunde“, als wir wieder über dem tarnenden Pappbecher mit klirrenden Eiswürfeln saßen, erzählte mir Steve in seiner engen Messekoje, er habe sich ein größeres Boot gekauft, ein 28 Fuß-Schiff. Da hatte ich gerade meine 31-Fuß-LEVJE gekauft.

Es dauerte noch ein paar Messen. Es waren noch ein paar Jahre „blaue Stunde“, mit 1 Whisky am Stand von Steve notwendig, bis wir es wagten: miteinander Segeln zu gehen. Er nahm mich auf seiner INE mit auf die Schlei. Wir segelten von der STOLLER-WERFT, fast ganz im Westen, durch Missunde, an Arnis, Kappeln, Schleimünde hinaus auf die Ostsee. Mal nach Kiel. Mal nach Sonderborg. Mal nach Marstal. Und seither gehört die Schlei im August für mich zum schönsten, was man als Segler erleben kann. Segeln eine englische Parklandschaften. Durch Fluß-Engen. Durch goldene Getreidefelder. An Pappeln, Backstein, Schlickbänken, Räuchereien entlang, zwischen sanft rollenden Hügeln dahin. Ein Traum.

Im vergangenen Jahr begleitete mich Steve zum ersten Mal aufs Mittelmeer. Er war noch nie im Mittelmeer gesegelt. Er kannte Italien nicht. Aber er machte mich rebellisch mit seinem Vorschlag für ein Abendmenü auf LEVJE: Steve schlug vor, Risotto zu kochen. Risotto mit Steinpilzen. Und grünem Spargel.

Häääh? Es war Juli. Kein Monat für grünen Spargel noch für Steinpilze.

Ich war skeptisch. Meine Meinung wurde nicht besser, als mich Steve quer durch Ancona hetzte auf der Suche nach blöden Steinpilzen. Ich hielt ihm die Packung hin. Dann jene. Er schüttelte entschieden den Kopf. Er quälte mich auf der Suche nach den richtigen Zutaten. Ich zog die Sache in die Länge. Können Amerikaner kochen?

Es dauerte bis Pescara, wo wir die Nacht nicht im Hafen, sondern als einziges Schiff hinter der Diga, der Mole ankerten. Steve verschwand unten in LEVJE’s Kombüse. Ich schaute oben in den Sonnenuntergang, in die Berge. Steve rumorte unten. Ich übte oben Knoten. Steve klapperte unten mit  tausenderlei Töpfen. Ich kuckte in den aufziehenden Sternhimmel. Steve stand unter Deck im Küchendampf. LEVJE’s Salon sah aus, als wäre eine Bombe explodiert. Bis aufs Vorschiff hatte Steve die wehrlose LEVJE in seine Aktion „Risotto mit Steinpilzen und grünem Spargel“ einbezogen. Una bomba! In medio della piazza!


Diesmal zelebriert Steve sein Risotto mit Pilzen zusätzlich mit einem in der Pfanne gebratenen Stück Weißfisch. 

Steve’s Risotto war ein Gedicht. Ein Feuerwerk an feinem Pilzgeschmack, zarter Anmutung an aufgegossenen Wein, leichtem Geschmack von schmelzendem Provolone und Grana, verkochendem Stangensellerie, Möhren, Knoblauch. Es war der Hammer. Es war unbeschreiblich. Steve hatte das ultimative Risotto geschaffen.

Bedächtig nahm ich Teller um Teller. Der Sternhimmel kreiste über uns. Die Weinflasche zwischen uns. Der zarte Wind und die Lichter der Stadt vom Ufer. Immer wieder turnte ich nach unten, Gabel um Gabel, Steve’s Risotto willenlos ausgeliefert.

Und weil es schon so ist, wie der gelegentlich wunderbare Johannes Mario Simmel in seinem noch wunderbareren Erstling ES MUSS NICHT IMMER KAVIAR schrieb: Konnte uns nach diesem Risotto nur wenig etwas anhaben. Selbst die italienische GUARDIA DI FINANZIA nicht, die nachts um drei mit einem Aufgebot starker Scheinwerfer erschien, um grell auszuleuchten, wer da ankerte, wo er nicht sollte.

Ich habe sie verscheucht. Mit einer lässigen Handbewegung. Wie eine Fliege von einem Teller mit wunderbarem Risotto.

Das Rezept für Steve’s Risotto:

RISOTTO MIT STEINPILZEN

2 Zwiebeln glasig in Butterschmalz anbraten (Der Dreh: aber gaaaanz langsam. Bis sie Golden sind)
Dann drei Sardellen zugeben. Mit schmelzen lassen.
Staudensellerie, Karotten, Knoblauch zugeben.
Risotto drauf, mit ziehen lassen.

Weisswein aufgiessen: es muss heiß sein, umrühren, bis der Weisswein verdampft.

Gemüsebrühe und Pilze;
Pilzwasser dazu
150 gr. getrocknete Steinpilze

abschmecken
zum Schluß: 150 gr. Parmesan mit etwas Provolone dazureiben. (Der Dreh: Da muss ein Berg Käse drunter, zum Schluß.)
 
… und was mir Steve erst gestern verraten hat, als wir wieder mal über seinem Risotto saßen und ich juchzte: Er gießt ganz zum Schluß noch mal leicht mit Wein auf.
 
Dieser durchtriebene Ami.