Kategorie: News & Blogs

Am Wendepunkt

Fast genau 2 Jahre ist es nun her, als wir unser Schiff bekommen haben. Diese Suncoast 42 hat seitdem etwa 3.000 Seemeilen im Kielwasser und die hat sie wirklich mit Bravur gemeistert, wenn man bedenkt, dass vieles an Bord noch nicht optimal ist und einiges überarbeitet werden muss.
3.000 Seemeilen ohne Seekrankheit, wunderbare gemeinsame Zeiten und eine gelungene Einhandfahrt liegen nun hinter uns.

Nomade hat die Reise vom Tag der Übernahme bis zum Beginn ihrer Restauration einfach Klasse überstanden, praktisch all unsere Erwartungen übertroffen und tut es nach wie vor.
Nomade, so haben wir sie bisher genannt. Den Namen hat Konrad, der letzte Eigner, ihr gegeben. Davor hieß sie Nomad und davor Charlemagne, das war möglicherweise ihr erster Name.
Der Name Nomade hat uns immer sehr gut gefallen, trotzdem war relativ früh klar, dass wir unserem Schiff eines Tages einen Namen geben werden, der uns nicht nur gut gefällt, sondern für uns etwas besonderes ist.
Nach diesem Namen haben wir nun fast 2 Jahre lang gesucht und irgendwann in diesem Sommer wurden wir schließlich fündig.
Zeitweise gab es lange Listen. Immer wieder hatten wir Ideen, neue Favoriten. Eos war einer der Namen, die eine Weile weit oben standen, dann Albatros, der hätte gut zu dieser Suncoast gepasst, dann wieder Namen, die sich im Seefunk einfach durchgeben lassen und eines Tages, ich war gerade mit Nomade auf der Donau unterwegs, habe ich mal wieder darüber nachgedacht, wie es wäre, sie nach jemandem zu benennen, der Sabrina und mir sehr nah steht. Da gibt es viele Menschen, die in Frage kämen, trotzdem ist mir als erstes meine Oma eingefallen. Ich war mir sofort sicher, den richtigen Namen gefunden zu haben, wusste aber nicht, was Sabrina davon halten würde. Also schnell eine Kurznachricht geschickt und sehnlichst auf die Antwort gewartet.
Währenddessen habe ich mich gefragt, warum ich nicht schon früher auf diesen Namen gekommen bin. Meine Oma ist für mich einer der wichtigsten Menschen in meinem Leben und auch für Sabrina hat meine Oma eine besondere Rolle in ihrem Leben gespielt.

Die meisten Menschen kennen meine Oma als Margot Sumerer. So hieß sie, nachdem sie meinen Opa geheiratet hat, doch geboren wurde sie mit einem anderen Namen.
Diesen Namen fand ich schon immer toll, er hat jedoch in unserem gemeinsamen Leben praktisch keine Rolle gespielt. Bis gestern Abend, als Sabrina Nomade für all die guten Fahrten gedankt und sie auf ihren neuen Namen getauft hat.

Unser Schiff segelt ab jetzt unter dem Namen Morgenstern, dem Geburtsnamen meiner Oma.

Din McIntyre – Golden Globe Race

WINDVANE STRIPTEASE

Don McIntyre GGR

Don McIntyre – Golden Globe Race

WINDVANE STRIPTEASE

Don McIntyre GGR

Bewegung im Boot

Ein gut erhaltenes Stück Mahagoni an Bord.

Seit ich mit Nomade vor nun fast genau 4 Monaten hier angekommen bin, habe ich wenig über die Restauration des Schiffs und all die Projekte, die damit zu tun haben, berichtet. Auch heute wird das keine ausführliche Abhandlung, aber immerhin ein kleiner Überblick, was so hinter den Kulissen passiert ist und was in Zukunft ansteht.
Von außen betrachtet, sieht es für viele so aus, als geht nicht viel vorwärts. Freunde und Nachbarn fragen mich schon: „Sag mal, was machst du eigentlich den ganzen Tag, man sieht dich ja kaum noch!?“

Manchmal wundere ich mich selbst darüber, wie wenig Zeit übrig bleibt und wie viel Raum das „Projekt Suncoast 42“ mittlerweile eingenommen hat. Videoupdates habe ich schon ewig nicht mehr gemacht, geschrieben auch kaum. Ich gelobe aber Besserung!

Was ich in den letzten Monaten unter anderem gemacht habe sind, Pläne, Zeichnungen und Einkaufslisten. Um einen kleinen Einblick in die Dimensionen zu bekommen, nur ein ganz kleines Beispiel aus einem Plan der Beleuchtung unter Deck: Dort sind aktuell 43 LED Einbaustrahler vorgesehen und ich habe wirklich versucht, damit sparsam umzugehen!
Ansonsten habe ich einiges in der Werkstatt getestet, wieder verworfen, nochmal getestet…
Ein Beiboot ist aktuell in der Entwicklung, fertig geworden sind „nebenbei“ einige Werkzeuge, die für mich an Bord wichtig sind, und die man so nicht kaufen kann. Zum Beispiel, eine Tischbohrmaschine für die Werkstatt an Bord. Alles was man regulär bekommen kann ist entweder zu schwer, zu schwach, zu groß und hat grundsätzlich mal eine ungünstige Betriebsspannung. Also habe ich selbst entwickelt und herausgekommen ist eine Tischbohrmaschine, die mit Brushlesstechnik auf 12V läuft, dabei bis zu 700W Leistung hat, leise ist und auch mit einem 3-zelligen Lipo-Akku befeuert werden kann.
Dann habe ich zwei komplette E-Bikes aus Bambus entwickelt und bereits gebaut. Hier war nicht die Verfügbarkeit das Problem, sondern in erster Linie der Preis. Unter 3.000 € pro Rad, ist kaum ein vernünftiges Bambusbike mit Elektroantrieb zu bekommen.
Warum es unbedingt Bambus sein sollte, ist schnell erklärt: Das Material ist aus meiner Sicht ideal für ein Bordfahrrad. Korrosion spielt so gut wie keine Rolle mehr, wenn man es richtig macht, und das Material kann unterwegs sehr leicht repariert werden. Darüber hinaus steckt es mehr weg als ein Alurahmen der gleichen Gewichtsklasse und ist nicht so empfindlich wie ein reines Carbonrad.
Die Rahmen sind jeweils optimal auf Sabrinas und meine Körpergeometrie abgestimmt und so kompakt wie nur möglich gebaut. Der Radstand ist geringer als bei Standardrädern, die Laufräder haben nur 26“. Das Endgewicht liegt inkl. Steuerung und Akku bei unter 17kg und spielt damit in der gleichen Liga, wie mein altes Faltrad aus Stahl. Dieses Faltrad war auf all den Reisen mit Eos und Nomade mein wichtigstes Transportmittel und hat mich letztendlich auf die Idee gebracht ein vollwertiges Bordfahrrad zu bauen, welches keine Wünsche offen lässt.
Die Testfahrten, die wir bisher mit den Rädern gemacht haben, waren mit einem breiten Grinsen verbunden. Einfach nur geil! Im Moment stehen die Fahrmaschinen erst mal wieder im Keller und werden endgültig wahrscheinlich erst im nächsten Frühjahr fertig werden.
Achja, wo wir schon beim Thema „nicht-ganz-fertige-Projekte“ sind. Filou soll natürlich mitfahren können, wenn wir mit den E-Bikes unterwegs sind. Für ihn befindet sich deshalb ein Anhänger im Bau. Mit der Entwicklung habe ich bereits vor über einem Jahr begonnen, weil einfach nichts optimales am Markt war. Wir haben zwar bereits einen ordentlichen Anhänger für ihn, aber auch damit gibt es immer wieder viele Einschränkungen. Er bekommt nun einen Anhänger, der ebenfalls mit Bambus und Carbon gebaut wird. Hauptrahmen und Schwinge sind bereits fertig und funktionieren sehr gut. Ausgeführt ist der Anhänger als Einspuriger mit einem 26“ Laufrad, eigener Bremse und voll einstellbarer Federung, damit auch schlechte Straßen und unbefestigte Wege kein Problem mehr sind. Wir denken dabei nicht nur an die Reisen mit Nomade, sondern auch an den Jakobsweg, der zusammen mit Filou nochmal möglich sein soll.

Die Räder und den Anhänger stelle ich ausführlich vor, sobald alles komplett fertig ist. Jetzt geht es erst mal mit Nomade weiter.
Was mögliche Orte zum restaurieren angeht, sind wir nun auch ein Stück vorwärts gekommen. Wir waren zwischenzeitlich an der Nordsee und haben uns ein paar Werften angeschaut. Grundsätzlich sind die Betriebe an der Küste alle wesentlich besser aufgestellt als bei uns in der Region. Dort weiß man einfach aus Erfahrung mit Booten umzugehen und die Menschen sind ziemlich locker drauf. Hat uns jedenfalls sehr gefallen.
Ein weiteres Szenario, welches vielleicht auch möglich ist, wäre überwiegend im Mahnensee in Rees zu restaurieren. Nomade würde dafür im Wasser bleiben.
Am Unterwasserschiff muss in der nächsten Zeit sowieso nichts gemacht werden, das habe ich ja bereits in Griechenland und der Türkei überarbeitet. Einige Arbeiten werden trotzdem im Wasser schwieriger, manches so auch nicht möglich, unter anderem aus umweltschutztechnischen Gründen. Wir werden also früher oder später so oder so mal für eine Weile aus dem Wasser müssen.
Ob das bereits im nächsten Jahr passiert, oder noch etwas verschoben werden kann, werden die nächsten Wochen zeigen. Dann nämlich werden wir einen noch besseren Überblick über den Zustand des Stahls bekommen. In den letzten 2 Jahren habe ich zwar keine gravierenden Problemstellen gefunden, aber man weiß ja nie.
Eine Stelle, von der wir zumindest wussten, dass sie undicht ist, liegt im Bereich des Durchgangs an Steuerbord. Dort wurde werftseitig ein riesiger Gastank für 2 große Gasflaschen eingebaut. Der Tank ist aus Stahl, nur von außen zugänglich und wurde seit Jahrzehnten nicht mehr benutzt. Irgendwann in der Vergangenheit wurde die grundsätzlich gut durchdachte Konstruktion allerdings fehlerhaft überarbeitet. Die Ablaufrinne im oberen Bereich hat man aufgefüllt und nur durch einen flachen Deckel verschlossen. So konnte über viele Jahre Wasser eindringen und hat den Stahlkasten zerfressen. Bei so einem Klima gibt selbst COR-TEN Stahl irgendwann auf und das hat er, wie sich vor ein paar Tagen herausstellte, wohl bereits vor einigen Jahren.
Wasser ist über den Kasten ins Boot gelaufen, hat die Schränke von hinten zersetzt und seinen Weg bis in den Boden gefunden. Der Boden besteht in diesem Durchgang übrigens aus einer Schicht Beton über der Isolierung aus Polyurethan Schaum. Ob der Beton Original ist, wissen wir nicht, es sieht aber so aus, als wäre das erst nachträglich gemacht worden.
Was Original ist, sind die Schränke vor dem Tank, die wirklich sehr schön verarbeitet sind. Ich habe deshalb alles ganz vorsichtig ausgebaut, um es nach der Überarbeitung auch wieder einbauen zu können. Nachdem die ersten Teile entfernt waren, konnte man zum ersten Mal das Ausmaß dieses Wassereinbruchs sehen. Kein schöner Anblick. Viel verrottetes Mahagoni, durch das es sehr schwierig wird, die Möbelteile noch zu retten. Aber ich bin da trotzdem optimistisch!



Was uns am letzten Samstag ziemlich geschockt hat, war eine Wasserpfütze unter dem Beton, als wir dabei waren, das alte Zeug vorsichtig raus zu meißeln. Wer ein bisschen bei Facebook gelesen hat, wird wissen was ich meine.
Letztendlich stellte sich heraus, dass diese kleine Pfütze kein Wasser von unten war, sondern aus einer höher gelegenen (versteckten) Mulde durch den Gastank nach unten gelaufen ist und beim entfernen des Betons einen neuen Weg gefunden hat.

Bis auf diesen kurzen Schreck waren wir ziemlich positiv überrascht, wie gut der Stahl selbst nach jahrelanger Wassereinwirkung aussieht. Er hat an den beschädigten Stellen, wie für COR-TEN üblich, nur eine dünne Rostschicht gebildet. An ein paar Stellen haben die Bootsschreiner beim Einbau der Lattung vor 43 Jahren allerdings die Isolierung bis runter auf den Stahl entfernt und dabei die Lackschicht beschädigt. Aber selbst dort ist nach über 4 Jahrzehnten nur diese hauchdünne Rostschicht, sonst nichts!
Der 2K PUR-Schaum, mit dem das gesamte Schiff isoliert ist, ist übrigens furztrocken und sieht aus, als wäre er gestern erst eingebracht worden! Ich hatte ursprünglich damit gerechnet, hier rotte Stellen zu finden, aber bis auf die beschädigten Stellen braucht man da nichts zu machen. Das ist natürlich eine enorme Erleichterung und sehr wertvoll.
Der Gastank wird übrigens raus fliegen und der Bereich mit einem Stück COR-TEN Stahl zugeschweißt. In Zukunft setzen wir beim Brennstoff für die Pantry auf Petroleum, das hat sich schon bei Eos bestens bewährt.

So langsam kommt also Bewegung ins Boot, nur Nomade selbst bewegt sich nach wie vor nicht. Wir sitzen seit Wochen auf Grund und es ist immer noch kein nennenswerter Anstieg des Rheinpegels in Sicht. Kann man nichts machen…

Das Niedrigwasser hat auch Vorteile. 10 Sekunden Langzeitbelichtung an Bord mit punktförmigen Sternen sind nun kein Problem mehr.

SV Elenya – Tori + Jim Dilley NZ

WINDPILOT – WHALE – AFFAIR AT 51 SOUTH

Hi Peter
Well we finally got to go sailing a few years after we had to fit the new windpilot pacific. Our trip was down to the Subantarctic Islands of New Zealand at 51 south, midwinter. A great trip and the Windpilot stirred up some interest amongst the locals as this video shows.
Great gear, keep up the great work and many thanks.
Tori + Jim SV Elenya NZ. WEITERLESEN

SV Elenya – Tori + Jim Dilley NZ

WINDPILOT – WHALE – AFFAIR AT 51 SOUTH

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Trans-Ocean e.V. – 50 Jahre Stillstand

WERTER MARTIN BIRKHOFF

50 Jahre Stillstand

Trans-Ocean e.V. – 50 Jahre Stillstand

WERTER MARTIN BIRKHOFF

50 Jahre Stillstand

Alderney. Die vergessene Insel der Festungen.

Es wird Zeit, die Geschichte meiner Einhand-Segelreise von Sizilien 
 bis Südengland um die Westküste Europas zu Ende zu erzählen. 
Nach den Balearen, Gibraltar, Portugal, Nordspanien
und der Nordküste der Bretagne erreichte ich  im September 2018 die Kanalinsel Guernsey. 

Die Kanalinseln haben es wahrhaft in sich. Schon der Weg von Guernsey nach Alderney, zur nördlichsten der Kanalinseln, war ein Abenteuer. Von Guernseys Haupthafen setzte starker Strom nach Norden. Soweit so gut. Doch das Fahrwasser war mit Klippen und Sandbänken gespickt. Und weil Hochwasser war, sah man sie nicht, sah nur die dünnen Stangen im Wasser, die sie markierten und verrieten, wie stark die Strömung wirklich war: Es war, als stünden die Stangen nicht im Meer, sondern in einem reißenden Fluss. Fast 10 Knoten betrug die Geschwindigkeit, wir schossen an den Stangen vorbei, ich hatte alle Hände voll zu tun, um ihnen und den darunterliegenden Untiefen bloß nicht zu nahe zu kommen. Ich war bei schwachem Wind unterwegs – wie möchte es in diesem tückischen Revier erst bei Starkwind zugehen? Wenn Wind gegen Strom zwischen Untiefen und Klippen hohe Wellen aufwerfen würde, wäre Manövrieren unter Segeln in diesem Revier bei einem Tidenhub von 7 Metern tollkühn. 

Eine Stunde nördlich St. Peter Port wird das Fahrwasser freier. Ich hatte in St. Peter Port herumgetrödelt, an der Tankstelle Levje mit zollfreiem Diesel bis zum Rand betankt, vor dem Hafen fotografiert. Das rächte sich jetzt, das Zeitfenster, in dem der Strom mit uns war, schloss sich. Als er gegen uns drehte, verlangsamte sich meine rasche Fahrt, plötzlich krochen wir nur noch dahin.

Alderney ist keine drei Stunden von Guernsey entfernt, als ich näherkam, hatte ich einen markanten Felsen zur Linken, die Insel Ortac, die aus der Ferne aussah wie ein mit Puderzucker bestäubtes Stück Schokokuchen. Vogelschwärme umkreisten ihn, und was nach Puderzucker aussah, waren Massen brütender Seevögel. Doch was es mit ihnen auf sich hatte, das sollte ich erst in Alderney erfahren.

Nicht anders als der Vogelfelsen Ortac ist Alderneys Hafen ein einsamer Ort, auch wenn 40 Boote im Hafen unter der britischen Festung lagen. Verlassenheit aller Orten. Braye Bay ist von einer ungewöhnlich langen und hohen Mauer eingefasst. Keine der üblichen neuen Molen aus hellen Betonpylonen, sondern eine alte Mauer aus jenen düsteren Quadern, als wäre dies Alderney Schauplatz einer Episode aus Game of Thrones. Und als gäbe es Klippen und gefährliche Hindernisse rund um die Kanalinseln noch nicht genug, läuft die Mauer der Braye Bay unter Wasser weiter, wo über Wasser nichts mehr zu sehen ist. Unter Wasser zieht sich ihr Sockel für den Bau der Mauer noch einmal soweit nach Nordwesten. Ich getraute mich nicht, einfach drüber hinwegzufahren, sondern folgte vorsichtig dem offiziellen Weg in den Hafen. Anlegen kann man in Bray Bay nicht. Stattdessen liegen entlang der Mauer Bojen aus. Ich wollte lieber näher ans Ufer heran, um nicht so weit rudern zu müssen, und lasse Levjes Anker vor dem langen Sandstrand fallen – keine leichte Übung: Wieviel Kette muss man in einem Revier mit 7,80 Metern Tidenhub stecken, um bei jedem Wind sicher zu liegen?

Ich ruderte in meinem winzigen Dinghi an Land, vorbei an den zwischen Bojen vertäuten Holzkäfigen, die im Wasser treiben, während ein Fischer von einem Trawler seinen Fang in die Käfige entlehrt: Große Seespinnen, Seekrabben, die bestimmt zu Hunderten in der treibenden Kiste aufbewahrt wurden.  Mein Dinghi zog ich den langen Strand weit hinauf. Ebbe hatte eingesetzt, Geruch von Seetang und rottendem Seegras, von Salz und Fäulnis, ich stapfte durchs hohe Gras am Ufer und begann meine Wanderung über die Insel unterhalb des alten Forts. Durch hohes Seegras laufen Gleise einer Schmalspurbahn, sie führt hinauf in die „Quarries“, die alten Steinbrüche

auf der anderen Seite der Insel, wo man vor eineinhalb Jahrhunderten die Quader zum Bau von  Hafenmauer und Befestigung gewann. Heute rumpelt hier an seltenen Tagen eine kleine Diesellok mit zwei ausrangierten Waggons der Londoner U-Bahn mit Touristen entlang, doch davon ist jetzt weit und breit nichts zu sehen. Ich folgte der schmalen Straße durch das Kiefernwäldchen hinüber auf die andere Seite der Insel, sah in der Ferne den Hochbunker, es ist nur einer von vielen, den deutsche Truppen im II. Weltkrieg hier errichteten.

Dann erreichte ich mein Ziel auf der anderen Seite der Insel, die Longy Bay auf der südöstlichen Seite Alderneys. Ein langer Sandstrand mit dem Fort du Raz auf der vorgelagerten Insel, zu der ich jetzt bei Ebbe hinübergehen könnte. Aber deswegen bin ich nicht hier. Von hier aus ist die Küste der Normandie zum Greifen nah, nur getrennt durch den Kanal, die Alderney Races mit seinen tückischen Strömungen. Nein, ich bin hier wegen des alten römischen Forts in der Longy Bay,

das sich hier befinden soll. Es liegt tatsächlich wenige Schritte neben dem Strand und neben dem deutschen Bunker. Ein einfaches Steingeviert, es sieht spätrömisch aus, mit der diagonal vermauerten Steinreihe in der oberen Reihe. Ich kenne derlei Schmuck aus einem ganz anderen Teil der Welt, aus dem westgriechischen Preveza und der byzantischen Mauer von Nikopolis. Doch dieses Kastell ist klein, gerade 30 x 30 Meter misst es, und auf den ersten Blick sieht man, dass es in Fluchtzeiten errichtet wurde, nicht mehr aus den mächtigen Quaderblöcken der früher Kaiserzeit, sondern aus einfachen Feldsteinen. Doch seine Form ist streng rechteckig und nicht so willkürlich wie mittelalterliche Wehrmauern es oft sind: Ein Rechteckt mit gerundeten Ecken. Ein Tor nach Norden.

Die Rückwand des Kastells hat man als Rückwand für das viktorianische Herrenhaus genutzt. Das Holzgatter am Eingang steht halb offen, ich betrete das Gebäude, nicht ohne vorher laut zu rufen. Aber niemand zeigt sich. Und so streife ich herum in der alten Festung. Neben dem Herrenhaus steht ein deutscher Bunker, als ich mir dessen Eingang näher ansehe, bin ich elektrisiert: Über dem Eingang ist das Relief einer Pflanze in den Beton eingelassen. Ich erkenne die Pflanze sofort. Und das Symbol. Es ist

ein Edelweiß. Das Abzeichen, das ich selber an der Mütze trug, 1980, als ich in einer Kaserne vor den Bergen meinen Wehrdienst leistete. Das Abzeichen der Gebirgstruppe. Und eine Jahreszahl – deren erste drei Ziffern ich erkennen kann. 1942? Warum waren sie hier gewesen?

Ich bin noch dabei, das Abzeichen zu fotografieren, als ein junger Mann vor mir steht und mich streng ansieht. Er ist Anfang vierzig, drahtig, man sieht ihm an, dass er viel draußen ist, doch er ist kein Militär, als er mich anspricht: Eigentlich sei dies alles nicht öffentlich, sagt er. Er wohne hier, was ich hier täte. Ich frage ihn, ob er denn die Pflanze dort oben kennen würde? „Edelweiß“, er spricht das Wort mit starkem englischen Akzent aus, er hieße Justin. Für was das Zeichen steht, weiß Justin nicht. Ich erzähle ihm von den Gebirgstruppen. In meiner Heimat vor den Bergen sehr verehrt, damals jedenfalls, in und um die Kaserne. Doch wenige Jahre später sehr umstritten. Ein Teil von ihnen hatte schlimme Kriegsverbrechen begangen, hatte auf der westgriechischen Insel Kephallenia 4.000 entwaffnete italienische Kriegsgefangene feige niedergemäht, eines der Verbrechen, ohne Not begangen, bei dem mir noch heute der Atem stockt. Es gäbe einen Film darüber, „Correllis Mandoline“. Justin sieht mich an: Er kenne den Film. Dann denkt er einen Augenblick nach. Und erzählt. Ja. Die Deutschen. Sie wären hier auf Alderney nicht beliebt gewesen. Als sie die Insel besetzten, waren die Einwohner Alderneys evakuiert worden, zu ihrer eigenen Sicherheit. Doch als sie sechs Monate nach Kriegsende im Dezember 1945 wieder zurückkehrten, kannten sie ihre Insel nicht wieder. Überall Bunker, Tunnels, Geschütze. Fenster, Türen, Möbel: Was brennbar war, verheizt. Die Deutschen hätten hier vier Lager errichtet: zwei für Soldaten. Zwei für die über 6.000 polnisch-russischen Kriegsgefangenen und separat die jüdischen Zwangsarbeiter, man hielt sie hier wie Sklaven. Sie legten über 30.000 Minen an den Stränden. Alderney, die irgendwie verwaist erscheinende Insel, ist also gleich dreifach eine Festungsinsel. Erst die Römer. Dann die Briten mit der langen Mauer. Zuletzt die Deutschen. Für die ersten war die Insel wohl ein Ort der Zuflucht. Für die letzten der Ort, an dem sie belagert wurden, die Briten hatten die Insel einschlossen und ließen nichts mehr durch. Die Zustände auf der Insel, vor allem in den Lagern, müssen schrecklich gewesen sein. Wie so oft zahlten die Zeche die Falschen.

Und die Vögel auf der Felseninsel Ortac draußen in der Bucht? Justin erzählt, sie wären „Gannets“, Basstölpel. Ortac sei die größte Bastölpel-Kolonie überhaupt auf der Welt, er sei Naturschützer, ihretwegen sei er da. Justin schaut kurz hinauf auf das Edelweiß und lacht. Die Alten auf Alderney sagten, die Gannets wären gekommen im Jahr, in dem die Deutschen kamen, 1940. Vorher wären kaum welche da gewesen. Doch jetzt gründeten auf dem Felsen ihre Kolonie.

Ja, er sei öfter draußen, auf Ortac, um Vögel zu beringen. Das Anlegen sei schwierig, der Felsen sei steil, und die Arbeit auch. Was mir aus der Ferne wie weißer Puderzucker erschienen war, sei Kot, durch den man nur hinaufgelänge, wenn es zwei Tage nicht regnete, denn sonst seien die Felsen zu rutschig, wegen des hoch liegenden Kots. Es herrsche fürchterlicher Gestank, doch Justin erzählt, wie Wunden schnell heilten, wenn sie mit dem Kot in Berührung kämen.

Alderney. Sie wirkt, als wäre sie wahrhaft eine vergessene Insel. Vielleicht ist gerade deshalb an diesem vergessenen Ort die Vergangenheit unvergessener und lebendiger als auf den vielen anderen Inseln, auf denen ich war.

Land in Sicht

So wenig Wasser wie aktuell war zuletzt im Oktober 2003 im Rhein. In Wesel hatte der Pegel damals mit 111cm eine neue Rekordmarke erreicht.
Gestern Nachmittag lag der Pegel bei 115cm. In Emmerich, Rees und Duisburg wurden die Pegelstände aus 2003 bereits unterboten. In Wesel könnte heute im Laufe des Tages der niedrigste Wert gemessen werden, seit mit den Aufzeichnungen zu Kaisers Zeiten begonnen wurde.

Nomade steht noch…

Unterwegs in Guernsey. Auf den Spuren meines Großvaters. Oder: Eine deutsche Geschichte.

Es wird Zeit, die Geschichte meiner Einhand-Segelreise von Sizilien 
 bis Südengland um die Westküste Europas zu Ende zu erzählen. 
Nach den Balearen, Gibraltar, Portugal, Nordspanien
und der Nordküste der Bretagne erreichte ich nach fast vier Monaten 
im September 2018 die Kanalinsel Guernsey. Ich blieb ein paar Tage auf der Insel. 
Lieh mir ein Motorrad. Und suchte die Insel nach Spuren ab aus der Zeit, 
in der mein Großvater auf der Insel gewesen war. Im II. Weltkrieg. Als Guernsey wie die anderen Kanalinseln von deutschen Truppen besetzt war. 

Die Einfahrt in den Hafen von St. Peter Port, Guernsey

Vielleicht war mein Großvater schuld. Vielleicht war er der Grund, weswegen ich hierher nach Guernsey gesegelt war. 

Mit meinem Großvater verbinden mich verschiedene Dinge. Seine Ungeduld. Sein Zähneknirschen, wenn etwas nicht gleich so läuft, wie er sich das vorstellt. Seine Neigung zu Halsschmerzen. Er hatte sie ausgeprägt, kam nach dem sonntäglichen Bier aus dem Wirtshaus mit Halsschmerzen heim. Es war dieser Satz, der sich mir von diesem einfachen Mann eingeprägt hatte: „S’oinzige Mol im Läaba, wo I koi Halsweah k’hett han: Des war z‘ Guensay“. ‚Das einzige Mal im Leben ohne Halsweh: Das war, als ich auf Guernsey war.‘

Guernsey. Wie war er da bloß hingekommen?

Er war ein kreuzbraver Mann gewesen, von einfachem Gemüt. So einfach wie das verschlafene Dorf an dem kleinen Fluss im Schwäbischen, wo man ihn nur den „Urle“ nannte, weil er Ulrich hieß, wie die meisten Männer meiner Familie. Hier war er geboren, hier hatte sein Elternhaus gestanden, hier hatte die Familie, deren Namen ich trage, mehrere Generationen gelebt. 

Von meinem Großvater weiß ich nicht viel. Dass er Maurer war, weil unter dem dürren Apfelbaum, wo wir unsere Ferien verbrachten, stets ein Holzbottich mit Kalk und Kelle bereitlag. Dass der „Urle“ im Dorf bekannt dafür war, Sommer wie Winter immer schon eine Viertelstunde vor Abfahrt des Zuges am Bahnsteig zu stehen, aus Sorge, er könne den Zug versäumen, obwohl er nur 50 Schritt vom Bahnhof hinter der Ligusterhecke entfernt lebte. Dass er Sonntags zum Bier und zum Kartenspielen ging – wie mein Vater und seine Brüder es auch taten. Dass er bei den „Veteranen“ war, den alten Herren, die bei der Prozession in Hut und ausgebeultem Anzug, doch mit klimpernden Orden behängt, nach Feuerwehr, Turnern, Sportverein stets den Schluss des feierlichen Zuges durchs Dorf bildeten. Dass meine Großmutter sich diebisch freute, wenn er sich zu diesen Anlässen versehentlich mal wieder ihr „Mutterkreuz“ ans Revers gesteckt hatte, das sie wie jede andere Mutter mit vier Kindern von der Partei bekommen hatte und ihr so garnichts bedeutete. Der Urle war einer, der in Dinge hineingeriet. Nicht einer, der Dinge aktiv lostrat.

Der Hafen von St. Peter Port, Guernsey. Im Hintergrund jenseits der steinernen Barre erkennbar der Yachthafen Victoria Harbour.

Guernsey. Wie war er da bloß hingeraten? Er, der so gut wie nie aus dem Dorf und seiner Umgebung herausgekommen war, außer als junger Turner in den Zwanzigern zu einem Wettkampf nach Dornbirn. Er war Maurer geworden, weil man als Sohn eines Kleinbauern, eines Handwerkers oder Tagelöhners im Dorf nur zwei Dinge werden konnte: Knecht auf einem Hof. Oder Maurer. Für mehr hatte es in der kinderreichen Familie für ihn nicht gereicht. Erst recht nicht für eine Arbeit bei den Juden des Dorfes. Sie waren die Unternehmer des Dorfes, die Rosshändler und Kaufleute, die Privatiers und Geschäftsleute. Irgendein Graf hatte sie vor Jahrhunderten in dem kleinen Marktflecken angesiedelt, um die Wirtschaft anzukurbeln. Das hatten sie über Jahrhunderte getan. Sie waren es gewesen, die aus eigener Tasche die 15 Kilometer lange Bahnlinie entlang des Flusses bauen ließen, um das ganze Flusstal bis in die nahe Kreisstadt mit der Welt und dem Handel zu verbinden. Das war in dem Jahr, in dem der Urle in dem kleinen Dorf geboren wurde. Und zugleich das Jahr, in dem in Deutschland die meisten Bahnkilometer gebaut wurden, 1902. Die Juden des Dorfes müssen gute Kaufleute gewesen sein, mit Sinn fürs Geschäft und ein Herrenleben. Meine Großmutter war ins Dorf gekommen, weil sie eine Anstellung gefunden hatte als Hausmädchen und Wäscherin bei den jüdischen Kaufmannsfamilien. Erst bei den Lammfromms. Dann beim Philipp Hummel. Vielleicht auch bei der Familie des Leoreiter oder wie immer sie hießen. Sie stammte aus einem einfachen Bauernhof und war plötzlich in vornehme Haushalte gekommen – das hatte sie fürs Leben geprägt. Im Dorf war sie dem Urle über den Weg gelaufen, vielleicht auf einem der Volksfeste, auf dem sie die Maßkrüge austrug, um sich etwas dazuzuverdienen. Vielleicht war der Urle auch unter den Burschen, die nachts die Leitern an die Häuser legten, um zu den Mägden durchs Fenster zu steigen. Ein Abenteurer war er nie. Als sie schwanger war mit 24, heirateten sie heimlich: Frühmorgens um sechs stand der Urle neben der Hanne vor dem Altar, ihr sich deutliche rundender Bauch erlaubte keine ausgelassene Öffentlichkeit. So standen sie – genauso wie 33 Jahre vor demselben Altar um 6 Uhr morgens mein Vater neben einer grazilen rothaarigen Frau stand. Meiner Mutter, in deren Bauch ich strampelte.

Vermutlich arbeitete der Urle als Maurer im Dorf, als die neue Zeit anbrach. Das Dorf hatte die wirtschaftlich schlimmen Jahre gut überstanden, die Bauern hatten Eier, Fleisch und Getreide in Hülle und Fülle, die jüdischen Kaufherren im Ort hatten reichlich zum Handeln. Was Vieh und Felder an Überschuss lieferten, kam zum Bahnhof, den die Juden des Dorfes aus eigener Tasche finanziert hatten wie die Bahnlinie, es wurde in die Viehwaggons verladen und von dort in die hungernden Städte transportiert. Im Dorf zeigten sich die Braunhemden im Wirtshaus, der Urle und die Hanne gehörten nicht dazu – warum auch? Was die Hanne bei den Lammfromms verdiente, konnte die Familie mit den zwei, bald drei kleinen Kindern gut gebrauchen. Zu Weihnachten bekam sie von ihren Dienstherrn einen schwarzen Mantel, ein Geldschein war mit Stecknadel ans Revers gesteckt. 

Irgendwann kam der Brief, der den Urle zur Musterung befahl. Es würde ein zweites Mal Krieg geben in Urles Leben – für den ersten großen Krieg war er gerade so eben zu jung gewesen. Und für den zweiten war er nicht mehr jung genug. Weil er ja Maurer war , hatte man besseres vor mit ihm als Wehrdienst. Man steckte ihn als Handwerker in die „Organisation Todt“. So hieß die Truppe nach ihrem Führer Fritz Todt. Sie trugen Uniform, doch statt der Waffe auf Paraden den Spaten. Anfangs war die „Organisation Todt“ für den Bau ziviler Projekte eingesetzt. Als sich der Krieg mit Frankreich ein Jahr vor Ausbruch abzeichnete, begann die Organisation Todt mit dem Bau von Bunkern entlang der französischen Grenze. Wo der Urle eingesetzt war, weiß ich nicht, doch die Hanne mit den drei Kleinen, der Liesl, dem kleinen Ulrich, den alle Ua riefen und dem Hansl, die sahen den Vater selten in den Jahren, grad alle vier Wochen kam er mal heim. Die Hanne war auf sich gestellt, arbeitete bei den Bauern, schenkte Bier aus als Bedienung. Und ging selbst dann noch heimlich zu den Juden, als Braunhemden und Scharfmacher die Synagoge des kleinen Dorfes in Brand steckten und die Lammfromms, die alten Hummels und die Leoreiters längst den gelben Stern tragen mussten.

Der Urle, der kam nur noch zu Heimaturlauben nach Hause. Es scheint, als wäre er gleich hinter den kämpfenden Truppen, die das riesige Frankreich in sieben Wochen überrollten, mit der Organisation Todt Richtung Atlantik und Ärmelkanal marschiert. Die Baupläne für das, was nun am Atlantik errichtet werden sollte, waren längst ausgearbeitet: In Frankreichs wichtigsten Atlantikstädten sollten gewaltige Bunker für die Uboot-Flotte errrichtet werden. Der Urle, der ein einfacher Mann aus einem kleinen Dorf im Schwäbischen war, stand nun plötzlich in St. Nazaire am Meer. Und baute Schalungen für die meterdicken Betonwände. Flocht Eisenarmierungen für bombendichte Decken. Rührte Mörtel. Er sah die Zwangsarbeiter, die auf den Baustellen eingesetzt wurden, Politische, Homosexuelle, nach Frankreich vor den Nazis geflohene, vornehme und gebildete Juden wie die, die er aus seinem Dorf kannte. Er sah sie während seiner 12 Stunden-Schicht von sieben bis sieben, er

Die britische Festung über dem Hafen von St. Peter Port, in der die deutsche Radarstation während des Krieges untergebracht war.

sah, wie sie schlecht behandelt, manchmal gequält wurden. Vielleicht verstand er die Welt nicht mehr, er war nun 40 und immer noch Maurer, doch er hielt den Mund. Als der erste Teil des Bunkers von Saint Nazaire, der noch heute am Hafen steht, als die ersten Finger fertig waren, wurde er mit weiteren Arbeitern, die wie er an der einfachen Uniform mit den weiten Hosen die gelbe Binde der Organisation Todt trugen, abkommandiert. Auf eine Kanalinsel sollte es gehen, Guernsey, diesmal sollten nicht U-Bootbunker, sondern Gefechtsstände entlang der Küsten der Insel gebaut werden. Betonierte Maschinengewehr-Nester, um die deutsche Radarstation in der alten britischen Festung über dem Hafen von St. Peter Port zu bewachen. Und vor allem Bunker entlang der Strände
und Geschützstellungen für die tschechischen Panzerabwehrkanonen, die im Fall einer Landung in die anstürmenden Soldaten feuern sollten. Der Urle, er rührte Mörtel, baute Schalungen, schleppte Mörteleimer und flocht Eisenarmierungen, nur eben diesmal auf Guernsey. Die Hanne, die ging jetzt nur noch heimlich, und wenn es dunkel war, zu den alten Lammfromms, um für sie zu arbeiten.

Der Strand der Cobo-Bay im Westen von Guernsey heute. Die Bunkeranlagen des II. Weltkriegs verschwinden hinter Steinmauern, die man als Blendfassaden errichtet.

Hatte er Augen für die Schönheit des langen Sandstrandes der Cobo-Bay auf Guernsey, der damals voller Minen, Sprengfallen und Stacheldrahtverhaue war? Hatte er Sinn für die Schönheit der Insel, während er und die Zwangsarbeiter an der langen Mauer eben dieser Cobo-Bay bauten, die den Strand zur tödlichen Falle machen sollte? Er entdeckte jedenfalls, dass hier am Meer seine Halsschmerzen endlich ein Ende hatten. Einer der Zwangsarbeiter, ein jüdischer Arzt, mit dem er darüber sprach, erklärte ihm, woher es kam. Dass das Seeklima eben gut sei für seine Bronchien, seine Atemwege, die ihm ein Leben lang zu schaffen machen würden. Der Urle baute brav weiter an seinen Bunker über dem Strand, in dessen einzige Öffnung millimetergenau die Schnellfeuerkanone eingebaut wurde, vor der heute die Strandbesucher sitzen.

Nur an manchen Stellen der Cobo-Bay sieht man noch die deutschen Bunker.

Es scheint, der Urle hat all die Jahre auch in Guernsey geschwiegen. Er hat sich seinen Teil gedacht. Nur einmal hat er den Mund nicht halten können. Er war auf einem der seltenen Heimaturlaube. Die Juden des Dorfes, die man zuerst in ihrer Synagoge zusammengepfercht hatte wie in einem Getto, man hatte sie längst an einem schönen Junitag durchs Dorf zum Bahnhof und in die Viehwaggons getrieben, wie einst ihr Vieh. Frau Lammfromm war an diesem Tag vor dem Haus, in dem die Hanne mit den Kindern lebte, stehengeblieben. Hatte noch einmal „Frau Käsbohrer“ gerufen, doch die Hanne, die Furcht in ihrem Leben nicht kannte, hatte in diesem einen Moment geschwiegen. Und nicht geantwortet. Sie sollte Frau Lammfromm nicht wiedersehen. Als der Urle auf Heimaturlaub kam, war das alles Geschichte. Es war im Wirtshaus, wo er den Mund nicht halten konnte, und draussen auf der Toilette beim Pinkeln über die Nazis knurrte: „Dia Bettsoicher, dia gottverreckte“, was man mit „Diese verfluchten Bettnässer“ übersetzen kann. Mehr hatte er nicht gesagt.

Am nächsten Morgen kamen sie, um ihn zu holen. Von Dachau war die Rede. Wie er denn das mit den „Bettsoichern“ gemeint hätte. Als sie ihn mitgenommen hatten, warf sich die Hanne in ihr schönstes Kostüm. Setzte sich eines der Kinder auf den Arm und ging schnurstracks zum Ortsgruppenleiter. Vielleicht hatte sie das Mutterkreuz umgehängt, sie kannte keine Furcht. Ich weiß nicht, wie sie es erreicht hatte, der Urle wieder freikam. Am Abend des nächsten Tages war er wieder daheim. Und machte sich, weil sein Heimaturlaub zuende war, auf den Weg zurück nach Guernsey. Von Saint Malo aus wurden sie auf einem Schnellboot hinüber in den Hafen von St. Peter Port Guernsey gefahren, doch englische Schnellboote lauerten den Deutschen jetzt regelmäßig vor Guernsey auf und feuerten auf sie. Die Besatzer waren längst selbst zu Belagerten geworden. Sie warteten auf den großen Angriff, die Landung von der sie wussten, dass sie unmittelbar bevorstand. Sie wussten nur nicht, wo. 

Vielleicht hat der Urle in diesen Jahren von Geschichten auf Guernsey gehört. Von dem 18jährigen Mädchen, das trotz des Verbots, an den Sandstränden der Insel im Meer zu schwimmen zu gehen, im Sommer einfach doch Schwimmen gegangen war. Sich zu den verminten Sandstränden hinausgewagt hatte, um einfach nur mal im Meer zu schwimmen. Natürlich hatte man sie erwischt. Man zog sie heraus. Und stellte sie vor Gericht. Doch sie hatte Glück, kam mit einer saftigen Geldstrafe davon. Vielleicht hatte der Urle von der Geschichte der verwittweten Frau mit dem kleinen Lebensmittelladen gehört. Mit ihrem Sohn hatte sie einen flüchtigen Zwangsarbeiter aufgenommen, heimlich, und versteckt. Das war verboten bei Todesstrafe, doch sie tat es trotzdem. Es war eine mißgünstige Nachbarin, Guernseyerin wie sie selbst, die sie an die Deutschen verriet. Sie kam zuerst nach St. Peter Port zur Vernehmung ins Gefängnis. Dann wurde sie nach Deutschland verlegt, da saß sie im Gefängnis. Weil man nicht wusste, wohin mit ihr, kam sie ins KZ. Und wurde dort kurz vor Kriegsende in die Gaskammer geschickt. Ihr Sohn überlebte – als einziger britischer Insasse. 

Ob der Urle einer der Deutschen war, die bei Privatleuten untergebracht war? Ob er dort, weil er wie andere deutsche Soldaten seine Kinder vermisste, die fremden Kinder auf dem Arm trug, denen der Vater ebenfalls fehlte?

Einer der Strände im Westen Guernsey. Hinter den hübschen Steinmauern verschwindet die Geschichte der deutschen Besatzung von 1940 bis 1945.

Als die Alliierten ein Stück weit östlich von Guernsey entfernt in der Normandie landeten, beschloss der Urle, dass für ihn als Angehörigen der Organisation Todt der Krieg vorbei sei. Er nahm sich mit anderen OT-Leuten ein Wehrmachtsfahrrad. Und radelte darauf von der Bretagne bis in sein Dorf an dem kleinen Fluss im Schwäbischen. Meist radelten sie nachts, tagsüber schliefen sie im Straßengraben, die Tiefflieger waren überall. Der Krieg, der war für den Urle vorbei. Auch wenn sich die Hanne, die den kleinen Hansl auf dem Fahrrad hatte, jetzt auch in dem kleinen Dorf im Schwäbischen vor den Tieffliegern in die Straßengräben werfen musste.

Nach Guernsey ist der Urle danach nie wieder in seinem Leben gefahren. Er blieb, was er war: Ein einfacher Maurer, von gelegentlichem Halsweh geplagt. Und ein kreuzbraver Mann, der sonntags ins Wirtshaus zum Karten ging. Was er sich über seine Zeit auf Guernsey dachte? Darüber sprach er nie. Nur wenn er Halsweh hatte, dachte er an die Insel. Den Rest, den er dort erlebt hatte: Den nahm er mit ins Grab.

SV Atanga – Sabine + Joachim Willner DE

LAS PERLAS UND DIE PERLENINSELN

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