Kategorie: News & Blogs

Wieso Nomade nicht in Wesel bleibt

Und warum ich noch nicht mit der Restauration begonnen habe…

So ruhig, wie es hier auf unserem Blog seit einiger Zeit ist, war es heute im Vereinshafen (leider) nicht, denn mir ist verbal der Kragen geplatzt. Eigentlich nicht meine Art und ich ärgere mich darüber, dass ich mich habe dazu provozieren lassen, aber bei so viel komprimiertem Schwachsinn und ungerechtfertigten Vorwürfen, kein Wunder.

Aber der Reihe nach.

Angefangen hat das Theater bereits an dem Abend, an dem ich die Leinen von Nomade zum ersten Mal in Wesel festgemacht habe. Ziemlich müde kam ich da vor ein paar Wochen an und wurde erst mal angefaucht. „Revier markieren“, dachte ich zu dem Zeitpunkt noch…
Ohne erkennbaren Grund sollte Nomade an einem anderen Gästesteg festmachen, später dann doch wieder dort bleiben. Kinkerlitzchen, über die ich an dem Abend noch gelacht habe. Ich hatte gerade schließlich meine lange Einhandfahrt mit Nomade von der Türkei bis nach Deutschland beendet. Hinter mir lagen knapp 3 Monate und 3.700 Kilometer. Ich war überglücklich, Sabrina, Filou und meine Familie wieder zu sehen. Da war mir der Meister, der dabei war sich dazwischen zu drängeln und herum zu meckern, ziemlich egal.
Am nächsten Tag sollte Nomade dann einen langfristigen Liegeplatz bekommen. Daraus wurde allerdings nichts. Dazu muss ich kurz vorher noch erwähnen, dass wir bereits lange vorher und auch kurz vor meiner Ankunft mehrfach Kontakt zum Verein aufgenommen haben und eigentlich alles besprochen war, wovon allerdings nun kaum mehr jemand etwas wusste. Die Aussagen im Vorfeld waren immer: „Wir haben immer genug freie Plätze! Alles kein Problem!“

An dem Tag wars dann plötzlich doch ein Problem. Die hinterste passende Box im Hafen wäre nicht praktikabel gewesen. Ich fahre ja mit Nomade nun wirklich auch in Ecken, in die sie kaum rein passt, aber dieser angedachte Platz wäre einfach beschissen zu erreichen gewesen. Ich hätte über die flachste Stelle im Hafen und im 90° Winkel abbiegen müssen. Nicht sinnig für eine 20 Tonnen schwere Segelyacht mit Langkiel, ohne Bugstrahlruder.
Hat der Meister dann aber auch selber gemerkt und Nomade in eine gut zugängliche Box verwiesen: „Hier könnt ihr den Sommer über bleiben, der Liegeplatz ist 2 bis 3 Monate frei.“

Im Nachhinein ärgere ich mich, dass ich mich darauf eingelassen und nicht gleich in einen anderen Hafen verlegt habe. Es gab Leute, die mich vor dem Verein gewarnt haben, aber wer mich kennt weiß, ich gebe nichts auf Gerüchte und mache lieber meine eigenen Erfahrungen. Diesmal war das ein großer Fehler, wie sich später herausstellen sollte.

5 Wochen später, Sabrina und ich waren gerade im Urlaub, bekam ich einen Anruf des Vereins: „Dein Boot muss dort weg, wir brauchen die Box!“
1 Woche zuvor (Ende Juli) hatte ich mich nochmals erkundigt, ob Nomade auch wirklich noch bis September dort bleiben kann. Ich hatte sogar angeboten, wieder an den Gästesteg zu verlegen, für den Fall, dass die Box doch früher gebraucht wird. Denn der Pegel war weiterhin sinkend und keine Änderung in Sicht, was die Großwetterlage betraf. Antwort: „Nein, bleib ruhig in der Box. Alles kein Problem!“

So lief das bei einigen anderen Dingen ebenfalls. Ich frage: „Kann ich morgen an den Kransteg um meine Masten zu stellen, oder wird der irgendwann gebraucht?“
Antwort: „Kannst du den ganzen Tag dran, da muss morgen keiner was machen!“
Am nächsten Tag wird mir vorgeworfen, Nomade hätte am Kransteg der Wasserschutzpolizei den Liegeplatz weggenommen!
Parkplatzsituation mit dem Auto ein ähnlicher Quatsch. Wenn ich nicht jedes Mal gefragt hätte, würde ich das ja noch nachvollziehen können. Aber gerade wegen der Warnungen: „Bei dem Verein darfste dir keinen Fehler erlauben!“ hab ich wegen jedem Scheiß gefragt. Ich kam mir ein bisschen vor, wie damals während der Ausbildung im ersten Lehrjahr und hatte irgendwann das Gefühl, ich nerve die Leute schon mit meiner Fragerei.

Jedenfalls sollte Nomade nun weg und zwar sofort! Problem: Sie saß bereits längst auf Grund! Hat den Meister allerdings nicht interessiert. Ein Streitgespräch folgte, man wollte Nomade mit anderen Booten dort wegziehen. Damit war ich nicht einverstanden, weil an dem Tag bereits 25cm am Liegeplatz und 35cm Wasser unterm Kiel am Gästesteg fehlten und im Hafen nochmal 10cm Wasser ablaufen, wenn draußen ein Dicker auf dem Rhein an der Einfahrt vorbeifährt.
Solche Aktionen kann man mit ’nem kleinen Boot machen, wenn die Kielform unproblematisch und die Lateralfläche gering ist, nicht aber mit ’ner Suncoast 42. Der gemäßigte Langkiel ist etwa 10m lang, 1,85m tief und an der (flachen) Basis 70cm breit. Ich weiß aus Erfahrungen in der Donau, dass ich durch 20cm tiefen, lockeren Schlamm noch so gerade eben mit Vollgas und etwas Anlauf geradeaus durch komme, drehen ist da jedoch längst nicht mehr sicher möglich…

Argumente halfen jedoch nicht. Ab jetzt war ich also bereits „der Arsch“. Ein Versuch der Klärung mit dem Vorstand ergab die Anweisung per E-Mail: „Ab einem Pegel von 1,90m wird verlegt.“

Ich hatte für mich selbst bereits ins Auge gefasst, schon ab 1,65m an den Gästesteg zu verlegen, um die Box im halbleeren Hafen (für wen auch immer) schnell freizugeben. Bei einem Pegel von 1,65m an der Pegelstation in Wesel hätte ich in der jetzigen Box 1,85m Wassertiefe gehabt und am Gästesteg 1,75m. Damit wäre ich schon irgendwie durch den Schlamm geeiert und hätte anschließend auf den Tag gewartet, an dem ich endlich aus dem Hafen kann. Denn die Tiefe in der Hafeneinfahrt ist nochmal etwas geringer und entspricht ziemlich genau dem Pegelmesswert.
Seitdem habe ich also täglich zweimal in die Pegeldiagramme geschaut und gehofft, dass bald Wasser den Rhein runter kommt.
Kam es leider nicht, bis heute! Seit zwei Tagen steigen die Wasserstände weiter südlich bereits ganz ordentlich und es ist absehbar, dass ich Nomade morgen oder übermorgen zumindest aus der Box bekommen könnte.
Also bin ich heute zum Boot getigert, um mal nach dem rechten zu schauen und ein bisschen was vorzubereiten.
Ich war keine Minute an Bord, da rief es hinter mir aus unbekanntem Mund: „Hömma, wann willste denn mal verlegen!?“
Ich hab mich kurz umgedreht und entgegnet: „Wenn ich ’nen Hauch von Wasser unterm Kiel habe, bin ich hier weg!“
Unbekannter: „Haste doch!“
Nico: „Hab ich nicht! Pegel Wesel liegt gerade bei 1,45m, also hab ich hier etwa 20cm mehr. Zu wenig zum fahren.“
Unbekannter: „So ein Quatsch! Hier isses über 2 Meter tief!!!“
Nico: „Nix für ungut, aber das stimmt nicht!“
Unbekannter: „Hömma, wenn wir die Anweisung geben, du hast zu verlegen, dann hast du zu verlegen!“

Das klang in dem Moment so, als redet ein Schließer mit ’nem Häftling. Wobei, wenn man die Gesamtsituation betrachtet, kommt das ja auch in etwa hin…

(An dieser Stelle fing ich jedenfalls an, laut zu werden.)

Nico: „Aber mit Sicherheit nicht, wenn ich kein Wasser unterm Kiel habe!“
Unbekannter: „Hier isses über 2 Meter tief!“
Nico: „Mit Sicherheit nicht! Soll ich nen Zollstock holen!?“
Unbekannter: „Ja, dann hol mal den Zollstock.“

Nico holt genervt den Zollstock, faltet ihn aus, will ihn ins Wasser stecken und wird folgendermaßen unterbrochen:

Unbekannter: „Nicht da messen, da sind Steine!“
Nico: „Wo dann?“
Unbekannter: „Hier vorne!“

Nico drückt den Zollstock weiter vorne ins Wasser, bis dieser feststeckt. Folgender Messwert kann abgelesen werden: 1,65m!!!

Wer nun meint, die (unnötige) Diskussion wäre damit beendet und der Unbekannte würde mit eingezogenem Schwanz und rotem Gesicht von dannen ziehen (so wie ich auch dachte), der irrt sich.

Nico: „EINMETERFÜNFUNDSECHZICH!!!“
Unbekannter: „Datt kann nich!“
Unbekannter: „Aber egal, du hättest…“
Nico (kurz vorm platzen): „Nix iss egal! Und was hätte ich!? Hör mal lieber auf hier Quatsch zu erzählen! Du kommst hier an, machst Palaver, behauptest, hier isses über 2m tief und redest jetzt drumherum!? Ich diskutiere da nicht weiter drüber!“

Während ich zurück an Bord gehe und den Unbekannten stehen lassen will, kommt ein weiteres (ranghohes) Vereinsmitglied dazu und steht dem Unbekannten bei.

Hochrangiges Vereinsmitglied: „Du hättest ja auch schon vor ein paar Tagen verlegen können, da war der Pegel richtig hoch, aber du bist ja nicht erreichbar! Wir haben mehrmals versucht, dich anzurufen und E-Mails geschickt!“
Nico: „Ich habe bis auf eine E-Mail ganz am Anfang, in der mir 1,90m Pegel zum verlegen genannt wurde, keine weiteren Mails bekommen und einen SPAM-Filter hab ich nicht! Anruf hab ich nur einen vom XYZ bekommen, der hat mir auf die Mailbox gequatscht und angeboten, mal zu reden, aber da war ja bereits alles per Mail geklärt!
Und wo war der Pegel in den letzten Wochen mal richtig hoch!? Der war in den letzten 4 Wochen nicht mal irgendwann auf 1,60m…“

Das Pegeldiagramm der letzten 4 Wochen.

Hochrangiges Vereinsmitglied widerspricht in allen Punkten, auch sich selbst, leugnet den niedrigen Pegel und ich habe schließlich keine Argumente mehr. Tatsachen werden verdreht, für alles was passiert ist, wird mir die Schuld gegeben und ich werde beleidigt.
Wenn man nun bedenkt, um was für eine Nichtigkeit es geht, könnte man eigentlich besser darüber lachen. Vereinsmeierei in einem Hafen, dem immer mehr die Gäste und Mitglieder fern bleiben. Da wird wegen eines Liegeplatzes ein Aufstand gemacht, als wenn es um Existenzprobleme geht, in einem Hafen, der eigentlich mehr als genug freie Plätze für alle hat. Aber offenbar kann hier nicht jeder gut mit jedem. Der eine will nur da liegen, der andere nur dort und zwischendurch versucht man dich mit vermeintlichen Qualifikationen zu beeindrucken und damit zu bewegen, dein Schiff zu verlegen, wo es keinen Sinn macht. Hier noch ein kleiner Auszug, dann ist aber wirklich Schluss:

„Ich bin schon den Rhein von Holland bis hier hoch gefahren!“

Was das jetzt mit dem Pegel hier zu hat, wollte ich wissen, aber darauf bekam ich keine Antwort.

Am Ende hieß es von höchster Ebene in meine Richtung, wortwörtlich: „Sowas wollen wir hier nicht haben!“

Als ich dem Meister die Frage stellte: „An welche Stelle des Gästesteges soll ich denn verlegen, wenn ich morgen genug Wasser unterm Kiel habe?“, rief es aus anderer Richtung: „Am besten gleich ganz raus hier aus dem Hafen!“

Ja, Leute, ich hab schon lange verstanden, dass ich, wir, bzw. Nomade nicht Willkommen sind.

To be continued…

Ganz wichtige Anmerkung noch:
Es gibt mehrere Vereine in Wesel. Den einen will ich nicht nennen. Ihr wisst schon, Datenschutz und so. Aber ich möchte noch kurz hinzufügen, das es auch ganz tolle Vereine in Wesel gibt. Bei einem lagen wir mal mit Camino ein ganzes Jahr und das war wirklich toll. Nur ist Nomade für die Steganlage etwas zu groß, sonst wären wir sicherlich dort geblieben.

Durch die Meerenge zwischen Pointe du Raz und Ile de Sein.

Mitte Mai bin ich in Sizilien gestartet, um einhand
für mein neues Buchprojekt um die Westküste Europas zu segeln. 
Nach den Balearen, Gibraltar und Portugal und Nordspanien
erreichte ich die französische Atlantikküste mit ihren Inseln und 
segelte nun auf Brest zu. 

Zum Charakter dieser Reise gehört meine eher schlichte Art der Reisevorbereitung. Ich habe mich um mein Schiff gekümmert und dafür gesorgt, dass es im bestmöglichen Zustand ist. Ich habe den Winter über keine Seekarten studiert und nicht über Reiseberichten gebrütet. Ich habe mir nicht die günstigste Route oder die besten Häfen ausgewählt oder gefährliche Stellen mit „Rot“ in den Karten markiert. Im Grunde genommen bin ich in Sizilien aufgebrochen nur mit dem groben Plan, für 2.000 Seemeilen 4 Monate Zeit zu haben. Pro Monat also 500 Seemeilen zurücklegen zu müssen. Mehr hatte ich an Planung nicht.

Zum Teil entspringt dies meinem Bedürfnis, nicht am Morgen schon zu wissen, wo ich am Abend mein Haupt betten werde. Zum anderen aber ist es aber auch Konzept: Mein Schiff mag modern sein, und die Wettervorhersagen 500 mal präziser als alles, was phönizische Steuerleute, nordische Schiffsführer, Nelsons Kapitäne wer sonst zum ersten Mal diese Küste befuhr zur Verfügung hatten. Aber sonst: Will ich diese Küste buchstäblich er-fahren, wie sie diese Küste erfuhren: Wie jemand, der sie zum ersten Mal bereist. Und nur mit meiner Erfahrung.

Zwar gönne mir zwei Dinge: Den präzisen Wetterbericht. Zur Not auch mal zwei. Und mir am Nachmittag, wenn ich mir überlege, welchen Hafen oder Ankerplatz ich ansteuere, mir Informationen darüber einzuholen, doch meist ist dies erst am späten Nachmittag. Sonst: Rausfahren. Und Segeln.

Für Menschen mit größerem Sicherheitsbedürfnis mag das der Alptraum sein. Tatsächlich komme ich gelegentlich nicht umhin, zu sagen: „Schwein gehabt.“ So wie gestern. Ich hatte die Nacht vor dem langen Sandstrand von Audierne geankert. Und noch am Morgen überlegt, ob ich nicht vor dem Sandstrand bleiben sollte, schwimmend, lesend, Levje und mich mit Ebbe und Flut auf und ab tragen zu lassen und den Tag verstreichen zu lassen. Es war Nordwest mit 25-20 Knoten angesagt – wie so häufig. Doch ich wollte weiter, so schön der Strand auch leuchtete und der Frieden in der Bucht auch sein mochte. Ich holte um acht Uhr Morgens den Anker, setzte das Großsegel, und fuhr Richtung Westen, um vor Pointe du Raz, wo der Wind auffrischen würde, zu versuchen, nach Nordwesten Richtung Brest aufzukreuzen.

Soweit so gut. Als ich Pointe du Raz erreichte, lief ich unter Maschine und Großsegel. Kabbelige See vor dem Kap. Zu unstet, zu launenhaft hatte der ablandige Wind von der Felsküste heruntergeblasen, als dass man gegen die Welle hätte ansegeln können. Links lag die Ile de Sein, die so verlockend im Morgenlicht leuchtete, dass ich gerade die Seekarte prüfte, ob ich nicht den Tag dort verbringen wollte. Ich war noch mit dem Internet beschäftigt, als sich schlagartig die Bedingungen in der Durchfahrt änderten. Ich sah vom Internet auf: Der Windmesser zeigte 15 Knoten von vorn. Die Geschwindigkeit nach GPS zeigte neun Knoten – und das gegen 15 Knoten Wind. Und wenn ich nach rechts schaute, hinüber zum Leuchtturm von Tévenne, dann bildeten sich dort lange Brecher. Schäumende Grundseen – brechende Wellen, als würde dort, wo ich hinsteuerte, sich meilenweit Riffe und Sandbänke hinziehen.

Unüberhörbar schrillte in meinem Kopf, der eben noch über die Ile de Sein nachgedacht hatte, die große rote Alarm-Klingel. Ich starrte in die Seekarte. Aber westlich des Leuchtturms waren in der Seekarte keine Untiefen. Und auch kein Riff. Ich schaute nach vorn. Kein Zweifel. Da brachen große Wellen. War meine Position nicht die richtige? Mindestens zehn Mal starrte ich nach vorn, und mindestens 12 Mal in die Seekarte. Nein alles richtig. Wir standen südsüdöstlich des Leuchtturms von Tévennec.

Und: Wir hatten Strom. Die Seekarte sagte, dass gerade viereinhalb Knoten Strom durch die Meerenge schoben. Daher die achteinhalb, neun Knoten Speed auf dem GPS – trotz 15 Knoten Gegenwind.

Die Wellen wurden steiler. Rollten mächtiger von vorne. Ich rannte nach unten, um mein Steckschott zu holen. Falls wir querschlagen oder eine der steilen Wellen seitlich ins Cockpit einsteigen würde, dürfte unter keinen Umständen das Schiff volllaufen. Zur Sicherheit zog ich das Schiebeluk zu und sprang wieder hinter das Steuer, um ein Gefühl für mein Schiff zu bekommen.

Wieder rollte eine dieser ungewöhnlich hohen steilen Wellen an, überschlug sich vor uns und hinterließ einen Gischt-Teppich auf dem Wasser. Levje kletterte einfach die Welle hinauf, um drüben Bug voraus nach unten zu knallen und dann die Rückseite der Welle hinunterzusurfen. Wie steil die Wellen waren, welche Steigung Levje unter Motor und Groß hinauf und hinunterkletterte, begriff ich erst, als ich meinem Schiebeluk zusah, das sich wie von Geisterhand bewegte. Sich öffnete, wenn wir einen Wellenkamm hinunterfuhren. Sich unsichtbar bewegt schloss, wenn wir hinauffuhren. Ich hatte vor der Abfahrt in Sizilien die Gleitschienen mit Teflonspray eingesprüht – jetzt lief es im Auf und Ab tatsächlich wie geschmiert.

Ich starrte auf den Tiefenmesser. Gute 32 Meter unter mir, leicht steigend. Erstaunlich, wie klar mein Verstand in dieser Situation blieb. Die Wellen rollten immer noch mächtig von vorn an. Ich musste hier raus, sagte mein Gehirn. Aber auch, dass die brechenden Seen nichts mit der Wassertiefe zu tun hatten. Das waren 5 Knoten Strom gegen 15 Knoten Wind in einer engen, düsenartigen Durchfahrt vor dem Kap. Was für raue See würde das erst bei 25 Knoten geben. Trotzdem musste ich aus diesen Wellen von der Kraft und Gewalt von Grundseen irgendwie raus.

Ich dachte nach, an meine Erfahrungen bei 25 Knoten vor der galizischen Küste. Von der Seite hatten die Wellen ebenfalls bedrohlich ausgesehen – wie Wände aus Wasser, die seitlich auf uns zurollten. Aber dann war Levje, unterstützt vom Großsegel, einfach hinaufgeklettert, als wöge sie nur ein Bruchteil ihrer siebeneinhalb Tonnen. Vorsichtig legte ich Ruder, drehte Levjes Nase aus den heranrollenden Wellen, nahm die nächste Welle mehr seitlicher. Es funktionierte. Mein Schiff beschleunigte. Wenn jetzt nur keine von den Wellen seitlich über der Bordwand brach. Doch das taten sie nicht.

Mein Kurs führte jetzt nordwestlicher, auf den Leuchtturm von Tévennec zu, der wie das Zwiebeltürmchen eines russisch-orthodoxen Kirchleins auf seinem nackten Felsen hockte und zwischen den ihn umgebenden Riffen zu uns herübersah. Zehn Minuten später beruhigten sich mit einem Schlag die Wellen, als hätte ich deren Spielplatz verlassen. Wir waren aus der engen Durchfahrt zwischen Pointe du Raz und der Ile de Sein hindurch. Ich konnte die Genua ausrollen. Und den Motor abstellen. Wir liefen immer noch mit sieben Knoten, geschoben vom Strom, nach Norden.

Und jetzt? Wenn ich über alles nachdenke, habe ich Glück gehabt. Glück, dass ich ahnungslos mit der richtigen „Besegelung“, nämlich unter Groß und Motor in die Grundseen gelaufen bin. Der Motor gab dem Schiff Kursstabilität, die ich unter Segeln in den schwachen 15 Knoten nicht gehabt hätte. Das Groß gab ihm Seitenstabilität. Ich hatte ohne Verstand, doch mit Glück die richtige Entscheidung getroffen. Ich dachte daran, wie ich am Anfang meiner Berufsjahre ältere Verleger gelegentlich gefragt hatte, worauf es wirklich ankäme in diesem Beruf. Und hatte von den Alten oft nur die eine für mich unbefriedigende Antwort zu hören bekommen: „Am Ende ist alles Glückssache.“ Vielleicht hatten sie doch recht.

Start Boating – Entdecke eine neue Welt

Kostenlose Probefahrten im Düsseldorfer Yachtclub

Menschen für den Bootssport zu begeistern, das ist das Ziel der bundesweiten Kampagne für den Bootsport „Start Boating“. Am 01. und 02.September 2018 ist die Kampagne im Düsseldorfer Yachtclub. Dabeisein macht gleich doppelt Spaß. Denn das gleichzeitig stattfindende Hafenfest mit Musik, Grillspezialitäten, kühlen Getränken und Hüpfburg für die Kinder verspricht einen erlebnisreichen Tag für die ganze Familie.

Motorboat zwischen 4 und 10 m Länge stehen für die Testfahrten zur Verfügung. Entweder nach vorheriger Anmeldung über die Kampagnenwebsite www.start-boating.de oder direkt vor Ort in der Start-Boating-Lounge. Die Testfahrten werden von erfahrenen Skippern begleitet.

Die bundesweite Kampagne für den Bootssport „Start Boating“ bietet auf insgesamt sieben regionalen Bootsevents die Gelegenheit, das Ruder in die Hand zu nehmen und im Rahmen von kostenlosen Probefahrten die Faszination Bootssport selbst und hautnah kennenzulernen. Einfach einsteigen und ablegen lautet das Motto.

Weiterführende Informationen erhalten die Gäste durch das 24-seitige, kostenlose Einsteigermagazin, in dem alle wichtigen Fragen rund um das Thema Bootssport erklärt werden, über die Kampagnenwebsite sowie durch die Start-Boating Crew vor Ort.

Weitere Informationen zum Einstieg in den Bootssport sind auch auf dem ADAC Skipper-Portal verfügbar.

Saint Nazaire. Im Bunker.

Seit Mitte Mai bin ich von Sizilien aus einhand unterwegs, um 
für mein neues Buchprojekt um die Westküste Europas zu segeln. 
Nach den Balearen, Gibraltar und Portugal erreichte ich  
von der Küste Nordspaniens aus die französische Atlantikküste 
und Saint Nazaire an der Mündung der Loire. 

Es ist Sonntag. Am Himmel über der Loire-Mündung zischen Jagdflugzeuge der französischen Luftwaffe im Tiefflug, drehen graziös in senkrechten Steigflug und malen als Rauchfahne die Farben der französischen Trikolore in den Himmel, bis sie im unermeßlichen Blau verschwunden sind. 50.000 Zuschauer säumen die Strände in der Bucht von Pornichet, wo ich mit Levje ankere. „Plein Vol“ heißt das Spektakel über dem Grande Plage, ein Amüsement für die ganze Familie, es beginnt am späten Nachmittag und endet kurz vor 22.00 Uhr.

Schon am frühen Morgen sind die Straßen gesperrt, Pornichet ist dicht. Männer in schwarzen Uniformen mit Maschinenpistolen bewachen jede Kreuzung. In den Hafen kommt niemand mehr rein und auch nicht raus. Die Anschläge von Paris und Nizza haben in Frankreich ihre Spuren hinterlassen.

Ich gehe schnellen Schrittes Richtung Bahnhof. Ich möchte nach Saint Nazaire zu den U-boot-Bunkern des II. Weltkriegs, mein Großvater war hier im Krieg, er hat vermutlich als einfacher Maurer an dem Bauwerk mitgearbeitet, ich möchte sehen, was er sah. Aber erstmal geht der Bus nicht. Ich lege die Strecke zum Bahnhof von Pornichet im Laufschritt zurück, für den TGV darf ich kein Ticket lösen, weil er ausverkauft ist. Ich steige dann doch ein, als ein freundlicher Kontrolleur mich trotzdem reinwinkt.

Saint Nazaire ist an diesem Sonntag wie ausgestorben. Ob französische Städte an Sonntag Vormittagen so sind? Oder fuhren die Einwohner Saint Nazaires nach Pornichet zum „Flieger kucken“. Ich irre durch die Stadt, kein Mensch weit und breit, am Hafen ein Dolmen, mit Graffiti beschmiert. 

Als ich aus der Rue des Dolmen komme, liegt der Bunker vor mir am Meer. Alt und grau und böse, wie ein an diesem Ort verendetes Reptil, das es nicht mehr geschafft hat zurück ins Meer und wenige Meter davor einfach verendete. Monströs.

Monströs ist er allemal. Über drei Fußballfelder lang und eines breit. Kirchturmhoch. Um ihn zu bauen, wurden fast 500.000 Kubikmeter Beton an Ort und Stelle gerührt und vergossen. Fast 26 Millionen prall gefüllte Mörteleimer. Zeitweise arbeiteten bis zu 4.000 Arbeiter an dem Bau: Angehörige der Organisation Todt wie mein Großvater, die im Frieden Autobahnen und im Krieg Bunker bauten. Zwangsarbeiter. Franzosen, die als Freiwillige auf der Baustelle mitarbeiteten. Sie arbeiteten rund um die Uhr in zwei 12-Stunden-Schichten, von 7 bis 7. Der Bunker wurde in nicht einmal 18 Monaten fertig. Er wurde gebaut, um U-Boote zu warten, zu reparieren. Und um sie auszurüsten, bevor sie hinausfuhren, um britische und amerikanische Schiffe zu versenken.

Ich schließe mich einer Führung durch das Gebäude an. Unser Guide heißt Sebastien, er ist Ende 20, ein blonder Mann, offenes Gesicht und leises Lächeln, er könnte Norweger sein, doch er spricht jenes wunderschöne bilderreiche Französisch, das lässt keine Zweifel aufkommen. 

Ob es denn wahr wäre, dass die Resistance dafür gesorgt hätte, das Bauwerk zu schwächen, indem man ungeeignetes Material dem Zement hinzugefügt hätte, möchte ein älterer Herr wissen. Davon sei ihm nichts bekannt, antwortet Sebastien höflich. Er spricht meist von „Les Allemands“, den Deutschen, die das beim Bau so oder so gemacht hätten. Tatsächlich komme ich angesichts von 500.000 Kubikmetern Beton und den zahllos in den Beton gelegten daumendicken Stahlarmierungen ins Grübeln, ob denn das tatsächlich alles „Les Allemands“ aus Deutschland herangekarrt und hier verbaut haben. In einem früheren Hafen in Royan las ich in einem französischen Buch, dass an den 8.119 Bunkern des Atlantikwalls über 3.000 französische Firmen mitgearbeitet hätten. Ob das stimmt? Doch gern gehört wird so etwas in Frankreich immer noch nicht. Allenthalben findet man Dokus über „La Resistance“. Doch offen über die französische Gesellschaft und deren Beteiligung am Krieg scheint man in Frankreich immer noch nicht zu sprechen, das Bild von „La Libération“, mit der ein vom Besatzern unterdrücktes Gemeinwesen „befreit“ wurde, bestimmt die Sicht. Und für die, die „Kollaborierten“, stehen Leute, die man unmittelbar nach dem Krieg dafür erschoss, öffentlich demütigte oder gerichtlich aburteilte. Erledigt also. 

Sebastien erzählt derweil. Von „Les Allemands“. Von „Les Ü-Botts“. Von „Les Torpilles“, den Torpedos, die wie die gesamte Ausrüstung mit Güterzügen direkt in die Halle und an die U-Boote herangekarrt wurden. Eine perfekte Maschinerie, in der alles untergebracht war. Von der Brotbäckerei für die U-Bootbesatzungen bis zur Krankenabteilung zur Erstversorgung Verwundeter.  

Auch Sebastien kommt nicht umhin, von dem Gigantismus der Maschinerie und der Monstrosität des Gebäudes fasziniert zu sein. Und steckt auch seine Zuhörer an. Die dreieinhalb Meter dicken Stahlbetondecken waren so stark, dass alliierte Bombardements ihnen nichts anhaben konnten. Selbst als mit den Kriegseintritt der USA plötzlich 5-Tonnen-Bomben auf das Dach abgeworfen wurden, konnten die dem Gebäude nichts anhaben. Dauerbombardements machten dem Bunker selbst nichts aus – die Stadt und ihre Zivilbevölkerung gingen im alliierten Bombenhagel unter – genauso wie in Brest, in La Rochelle, in Lorient, in Royan. In fast jedem der Orte, die ich besucht hatte.  

Die alten Poller, an denen die U-Boote vertäut waren, rosten im Beton vor sich. Als die U-Boote, die rausfuhren, nicht mehr zurückkamen, weil sie draussen versenkt wurden, als sich das Blatt wendete mit der Landung der Alliierten, wurde der Bunker zur Festung. Er war eine Kleinstadt, in der die Besatzer geschützt waren – bis zur Kapitulation, während die Zivilbevölkerung weiter unter den Angriffen litt.

Die 70 Jahre alten deutschen Inschriften verblassen. Hier und dort ein Kürzel, „3. U-Fl.“ für die 3. U-Boot-Flottilie, die hier keine 3 Jahre beheimatet war. Sebastien erzählt, wie das mit dem Bunker weiterging. Daß man nach dem Krieg versuchte, das Gebäude zu sprengen. Doch das ging nicht – wie die Bomben vorher versagte der Sprengstoff. Oder er hätte die Stadt im Wiederaufbau in Mitleidenschaft gezogen. Dass man nicht wusste, was man mit dem Gebäude anfangen sollte. Es für die eigenen U-Boote nutzen? Es als Werft, als Lager, als Fabrik einsetzen? Von allem etwas. Doch die Hauptfrage war: Welche Rolle sollte denn nach dem Wiederaufbau der Stadt das Monstrum mitten in ihrem Zentrum spielen? Saint Nazaire entschied sich in den 90igern für eine eigenwillige Lösung: Der Bunker war nun mal Bestandteil der Stadt und ihrer Geschichte. Er sollte jetzt auch sichtbar ins neue städtebauliche Konzept integriert werden. Als Ort von gleich drei Museen. Als Ausstellungsfläche. Als Kunstobjekt und Heimat für Cafes und Bistros und Events.

Ein guter Ansatz. Die Museen sind entstanden. Und zeigen Saint Nazaire in bestem Licht. Der Flughafen Berlin Tempelhof hat der Stadt symbolisch einen ausgedienten Radar-Dom geschenkt. „Le Radom“ steht heute auf dem Dach des Bunkers und ist Tempel für moderne Kunst.

Doch ganz geglückt scheint mir der schwierige Versuch der Integration ins Stadtbild nicht. Saint Nazaire ist an diesem Sonntag wie ausgestorben. Auch der Bunker liegt verlassen, bis auf die Spaziergänger, die die Aussicht vom Dach genießen – und das kleine Häuflein, das sich um den blonden jungen Mann mit Namen Sebastien schart. Es ist nun mal nicht so einfach, „alt und grau und böse“ in dieser Monstrosität im Bild einer Stadt zu integrieren.

Noch schwerer ist es, es im Gedächtnis zu halten. Als Franzose. Aber auch als Deutscher.

Aufwachen an den Ufern der Loire. Atlantiksegeln.

Seit Mitte Mai bin ich von Sizilien aus einhand unterwegs, um 
für mein neues Buchprojekt um die Westküste Europas zu segeln. 
Nach den Balearen, Gibraltar und Portugal erreichte ich  
von der Küste Nordspaniens aus die französische Atlantikküste, die ich
ihren Inseln folgend nach Norden segle.

Eben geht die Sonne auf. Ein leuchtend roter Punkt, der hinter dem Horizont erscheint und durch die Heckfenster meine Koje in tiefes Orange taucht. Ein leises Geplätscher vorbeifließender Wellen wie von einem Bachlauf. Ein gemächliches Klappern vom Mast her. Ein Schweben, ein Eintauchen. Ein Neigen. Wieder das leise Murmeln in Orange unter Levjes Bauch entlang.

Als ich den Kopf aus dem Niedergang stecke, sind das Festland und die Mündung der Loire nichts als ein zarter waagrechter Strich in der Weite. Die breite Mündung wirkt verloren im unendlichen Blau zwischen Wasser und Himmel. Levje wiegt sich sacht auf der spiegelglatten Fläche des Wassers.

Ich habe gestern Abend weit draußen, inmitten des an diesem Morgen in allen Schattierungen leuchtenden Blaus Levjes Anker fallen lassen. Die aufgehende Sonne sieht von hier so ganz anders als in meinem kleinen Iffeldorf, wo ich im Winter lebe. Dort scheint sie mächtig hinter den Bäumen. Hier draußen scheint mir oft alles so zerbrechlich, obwohl es doch eigentlich ich sein müsste, der sich klein fühlt in der Weite des Meeres. Zerbrechlich scheint mir der zarte Strich am Ufer, der Europa ist. Fragil erscheint mir aber auch das Meer, trotz seiner Wildheit, seiner Größe, seiner Gefährlichkeit, auf dem ich seit vier Monaten segle. Es sollte mir wegen seiner Größe, seiner Wildheit doch alles andere als fragil erscheinen, doch das tut es nicht.

Gestern bin ich von der Ile d’Yeu heraufgesegelt. Der Wetterbericht verhieß alles andere als einen idealen Segeltag. Wind aus Nord, genau von dort, wo ich hinwollte. Mit 15 bis 20 Knoten, am Spätnachmittag darüber. Bis Mittag leichter Strom ebenfalls aus Nord – beides zusammen würde meine Reise verlangsamen, sagte mein Kopf, ich würde 15 Stunden brauchen für das Stück hinauf bis zur Loire-Mündung, bis zur Insel Noirmoutier. Vielleicht doch lieber den Tag in einer der felsigen Buchten hier auf der Ile d’Yeu ankern und dort faulenzen? Es war meine bretonische Bootsnachbarin mit dem unvergleichlichen Vornamen Siseguine, die am Morgen mit ihrem Mann hinauf nach Noirmoutier wollte und sagte: „Weisst Du, hier bei uns weht immer Nordwest. Jeden Tag. Davon darfst Du Dich nicht abhalten lassen. Es ist einfach so.“ Siseguine. Sie brachte mich auf den Weg wie die weise Sigune den Parzival. Ich beschloss, die Nase aus dem Hafen zu stecken und mal zu versuchen, wie es sich anfühlte, gegen Wind und Strom nach Norden zu segeln.

Nach all den Jahren des Segelns fühle ich mich oft immer noch wie ein Anfänger. Ich wollte immer perfekt sein in dem, wie ich mein Schiff handhabe und fühle mich doch jeden Tag meilenweit davon entfernt. Das ist gut so, aus vielerlei Gründen, aber als Lebensgefühl nicht eben angenehm. Wir alle wären gern smart, souverän. Die Balance zwischen beidem zu finden, die richtige Haltung zwischen „perfekt“ und „imperfekt“: Das könnte eine lebenslange Aufgabe sein.

Ich mache jeden Tag Fehler. Ich lerne jeden Tag Neues. Das Meer überrascht mich jeden Tag neu. Noch im engen Hafenbecken kreisend, hatte ich voller Erwartung Levjes Großsegel gesetzt. Doch kaum draußen, fand ich nichts als nur wirres Wellendurcheinander und ein bisschen Wind, mal von hier, mal von da. Die Segel zogen nicht. Levje eierte wild hin und her, ich taumelte im schwankenden Cockpit. Einen kurzen Moment dachte ich daran, ob ich jetzt nicht doch lieber morgens um sechs eingeklemmt zwischen grauen Anzügen in eiskalten Ledersitzen im Businessflieger München-Hamburg säße. Nein, keine zehn Pferde brächten mich jemals dorthin zurück. Lieber hier draußen. „Jammer nicht rum. Tu was. Du siehst doch, dass Segeln hier nicht geht, weil der Grund vor der Insel ansteigt und alle möglichen Wellen erzeugt.“ Also erstmal raus aus dem Gewirr, dahin, wo der Wind ist und wo die Wellen Segeln erlauben. Zweieinhalb Meilen weiter nördlich war er da, der Wind. Aus Nord. Die Wellen nahmen ein gleichmässiges Muster an. Levjes Segel begannen zu ziehen. Ich konnte immerhin nun schon nach Westen segeln. Levje lief, das war doch schon was. Wir mussten jetzt nur noch irgendwie den richtigen Dreh nach Norden finden. Gegen den Wind.

Ich versuchte mein Glück mit einer Wende. Immerhin schon Kurs nach Nordost. Wenn ich jetzt noch die Segel richtig einstellen würde. Hier flatterte etwas. Dort war eine Beule im Tuch, wo keine sein sollte. Ich begann, an den Segeln zu zupfen. Zog hier am Vorsegel. Dort am Großsegel. Entrollte hier etwas. Nahm dort etwas enger. Levje wurde schneller und drehte gleichzeitig fast auf nördlichen Kurs. Na bitte. Geht doch. Nimm Deinen Verstand zusammen. Beobachte, was nicht stimmt. Und tu Dein Möglichstes, um das zu bessern. Das ist die Lektion, die ich jeden Tag lerne. Und die mir das Meer vermittelt.

Wir laufen jetzt auf die Ile de Noirmoutier in der Loiremündung zu und machen rasche Fahrt. Wie dankbar bin ich, jetzt hier draußen zu sein, den Hafen verlassen zu haben und zu segeln. Wieder einmal möchte ich alles in mich aufsaugen, könnte ich es doch in mir speichern, wie auf einer Festplatte, was ich alles hier sehe. Ich verlasse meinen Platz im Cockpit. Hangle mich nach vorne bis zu den Wanten, halte mich dort fest, wo ich jetzt, wo Levje stark auf der Seite liegt, den besten Überblick habe. Da liegt die große Brücke, die die flache Ile de Noirmoutier mit dem Festland verbindet. Ich sehe die Wassertürme in der Ferne. Sonst ist die Insel nur ein Strich, rechts und vor mir.

Dann die Untiefen vor der Nordwestküste. Wie so oft vor dieser Küste ziehen sich Flachstellen und Untiefen bis weit weit hinaus vor die Küste. Mit bloßem Auge sieht alles wie eine einfach zu befahrende Wasseroberfläche aus, doch die Seekarte erzählt mit den dutzendweise eingezeichneten Wracks eine andere Geschichte. Kaum habe ich hier vor der Küste eine Sandbank passiert, erreiche ich die nächste Untiefe. „Les boeufs“, „die Rinder“ heißen sie, vielleicht weil ihre unter Wasser liegenden und für mich unsichtbaren Erhebungen spitz wie Hörner aufragen? Um sie zu umfahren, folge ich ein Stück einem Kurs, der in meiner Seekarte als „Chemin des boeufs“ beschrieben ist, dem Weg der Rinder, der an ihnen entlangführt. Kein Zweifel. Hier haben sich segelnde Seeleute, die sich schon immer bei Nordwind hier durchhangeln mussten, ihre Erfahrungen mitgeteilt.

Kaum sind wir zwischen den „Boeufs“ durch, dreht der Wind wie Nachmittags üblich auf West und frischt auf. Levje schießt nun mit sieben Knoten hoch am Wind dahin, es geht nicht mit rechten Dingen zu, es ist wohl auch der Strom, der uns nun in rascher Fahrt entlang an den Felsen von Noirmoutier nach Norden zur Mündung der Loire trägt. Es ist 17 Uhr. Eigentlich könnte ich jetzt in den Hafen an der Nordspitze der Insel einlaufen. Doch die freundliche Dame sagt mir, dass der Hafen schon recht voll sei wegen des langen Wochenendes und es nur noch einen Platz im Päckchen für mich gäbe. Nein, das hatte ich gerade auf der Ile d’Yeu. Mir steht der Sinn mehr nach einer Bucht, in der ich ankern kann, und sei sie auch noch so voller Schwell und unbequem. Ich segle weiter nach Norden, da ist die Loire, ich sehe es an der Färbung des Wassers, das jetzt tiefgrün ist wie im Fluss flutender Hahnenfuß, die langen grünen Schlingpflanzen, die im Flusswasser wehen. Ein eigenartiges leuchtendes Grün, ich denke an die Augenfarbe einer Geschäftspartnerin vor vielen Jahren, deren Augenfarbe nicht nur die männlichen Kollegen ins Grübeln brachte, ob bei dieser Augenfarbe denn nun wirklich alles mit rechten Dingen zugegangen wäre.

Die Mündung der Loire: Sie ist auch Weg und Liegeplatz für die Großschiffahrt. Weit draußen sehe ich Frachter liegen, während von rechts ein Tanker aus der Mündung auf uns zukommt. Der Wind ist gut, fast zu viel, ich sollte eigentlich reffen, doch nur jetzt nicht die rasche Fahrt nach Norden unterbrechen, die Sonne steht schon tief, gleich haben wir die rote Tone erreicht, die das nördliche Ende des Schiffahrtsweges markiert. Da liegt die Bucht, in der ich ankern will.

Aber auch das ist eine Lektion, die das Meer mir jeden Tag verpasst: Das Leben ist kein Ponyhof, auf Wunsch geht hier gar nichts. Der Wind frischt wie vorhergesagt am Abend auf und dreht zurück auf Nord. Ich muss aufkreuzen, mich in weitem Zickzack-Kurs gegen den Wind annähern. Und die Bucht selber ist, obwohl zum Greifen nah, wie durch eine Bojenkette durch einen Kranz von Riffen und Untiefen abgeschirmt, durch den es nur zwei markierte Einfahrten gibt. Die Ebbe ist zwar lang vorbei, aber ich möchte in dem mir unbekannten Gewässer nichts riskieren. Also noch eine Stunde mühsames Aufkreuzen vor den Untiefen, dann habe ich die mit zwei dünnen Bojen markierte Einfahrt vor mir. Ich suche mir, während die Sonne untergeht, meinen Ankerplatz, noch wirft der Wind beträchtlich Wellen in die Bucht, aber das macht nichts. Jetzt mag Levje noch wild am Anker schaukeln. Doch in zwei Stunden soll der Wind vorbei sein – aber da schlafe ich ganz sicher tief und fest.

Und Siseguine: Die hatte Recht.

Atlantikinseln. Auf der Ile d’Yeu, der Insel der Dolmen.

Mitte Mai bin ich in Sizilien gestartet, um einhand
für mein neues Buchprojekt um die Westküste Europas zu segeln. 
Nach den Balearen, Gibraltar und Portugal und Nordspanien
erreichte ich die französische Atlantikküste mit ihren Inseln. 
Eine von ihnen ist die Ile d’Yeu.

Vor La Rochelle beginnt die Kette der französischen Atlantik-Inseln, die sich wie ein Riff entlang der Nordwestküste Frankreichs reihen. Obwohl sie Inseln sind, machen sie dem Reisenden auf einem Boot das Leben nicht leicht. Die meisten besitzen keinen festen Hafen, sondern sind nur über eine Brücke vom Festland aus erreichbar. Sie sind Gezeiteninseln: Der Unterschied zwischen Ebbe und Flut beträgt 4-5 Meter – was im einen Augenblick noch eine geschützte Bucht oder ein Hafen war, ist innerhalb Stunden eine trockengefallene Sandbank, auf der Wattvögel nach Schlickwürmern stochern. 

Die Ile d’Yeu ist nach der Ile d’Oleron, der Ile de Ré die dritte von ihnen. Sie ist nicht groß – wer sich im Hafen der geschäftigen Inselhauptstadt Port Joinville ein Fahrrad leiht, erreicht von dort in 20 Minuten jedes Ende der Insel. Und trotzdem ist dieses kleine, nur 

drei mal sieben Kilometer große Eiland ein Ort, an dem ich schwach werde. Nicht bloß, weil hier das Auto zuhauf herumfährt, für das ich zum ersten Mal seit Jahren in Versuchung käme, Geld auszugeben – es ist das rote im Foto oben. Oder weil dies hier der Ort ist, an dem der „Deux Cheveux“, der alte Citröen 2CV, die „Diane“ und der „R4“ noch unterwegs sind, als hätten sie alle sich hier auf dieser Insel geheimnisvoller Weise verabredet, zu überdauern und die heutigen Gesichtslosigkeiten der Autobauer einfach würdevoll zu ignorieren. Allein das ist schon eine Reise in die Vergangenheit, die den Abstecher auf die Insel allemal lohnt. Nein, die Ile d’Yeu mag klein sein an Abmessung. Aber kaum ist man eine Viertelstunde über die Sandpisten durch die duftende Macchie geradelt, ist man in ihrem Westen in einer anderen Welt. Plötzlich stehe ich inmitten der Felsküste. Ich lasse mein Fahrrad Fahrrad sein und wandere einfach ein Stück die Felsen entlang, wo nichts und niemand ist als die Möwen, deren Federn die Wiese wie verblühter Löwenzahn weiß überziehen. Die Westküste der Ile d’Yeu ist der Ort der Winde. Kein Baum, kein Strauch kann sich hier festklammern, nur Flechten und bärtige Moose überdauern auf den Felsen. Wo Schatten ist, wuchern Farne. 

Und während ich draußen auf dem Meer einen Segler beobachte, der von Westen her auf die Küste zuhält, stehe ich plötzlich vor einem dieser geheimnisvollen Gebilde, die man Dolmen nennt. Ein von Menschen geschaffenes steinernes Haus aus seitlich aufgerichteten Tragsteinen und einem Deckstein obendrauf. Dolmen: Es gibt sie erstaunlicherweise in Europa in vielen Ländern – vor allem denen an der Meeresküste. In Spanien, in Portugal, wo man sie „Anta“ nennt, in Frankreich ebenfalls in Küstennähe, in England, in Irland, in Dänemark, im Emsland, in Schweden. War hier eine erste europäische Zivilisation am Werk? Gab es vor uns schon etwas, Wissen, Können oder Glauben, was die Menschen Europas miteinander verband, was sie teilten?

Der Dolmen, vor dem ich stehe, ist jedenfalls ein kleiner. Aber trotzdem zu groß, um einfach achtlos dran vorbeizugehen. Wie schafften es die Menschen jener Zeit, den schweren Deckstein oben auf die Felsen zu legen? Auch zehn Mann könnten ihn nicht heben, selbst 20 oder dreißig nicht, sie bräuchten eine Idee und Werkzeug, mit ihren Händen könnten sie ihn niemals alle gleichzeitig richtig fassen.

Ich stehe da vor einem Rätsel. Die Dolmen der Insel d’Yeu datiert man auf etwa 4.000 Jahre vor Christus. Wir sind mitten in der Steinzeit, als am Nil und am Euphrat die Menschen die ersten Städte überhaupt gründeten und lernten, in größeren Gemeinschaften zu leben. Es gibt noch keine Schrift. Das Rad ist noch nicht da. Metall war noch lange nicht in Sicht, der Kran noch Jahrtausende entfernt, an heutiges Tauwerk vom Typ „Bruchlast 2 Tonnen“ war überhaupt nicht zu denken.

Ein paar Schritte weiter entfernt stehe ich vor diesem:

Wieder dasselbe Bild, dieselbe Technik. Ein flacher Stein, den Menschen mit ihrer Muskelkraft allein nicht heben könnten, auf zwei natürlich aus dem Boden ragende Felsen gelegt. Der Stein scheint zu schweben, er ist seines Gewichtes beraubt. Ein Kunstwerk? Ein Kultplatz?

Ich rolle auf dem Fahrrad weiter in den Norden der Insel, wo der kleine unbenutzte Flugplatz ist. An der äußersten Nordwestecke der Ile d’Yeu steht dieses Gebilde:

Der Dolmen de la Planche à Puare befindet sich direkt am Sandstrand und am Meer. Vor 6.000 Jahren lag der Meeresspiegel des Atlantik um 10 Meter tiefer. Der Dolmen stand also nicht am Meer, sondern Hundert Meter landeinwärts, aber immer noch in Sichtweite des Meeres.

Hier wurde jeder Stein von Menschenhand gesetzt – auch die seitlichen. Im Arbeitsablauf bedeutet das für eine größere Gemeinschaft gewaltige Anstrengungen – und nicht nur Körperliche, sondern vor allem planerische. Zuerst muss ein Plan existieren, wie der Dolmen aussehen soll. Dann müssen Experten geeignete Steine in der näheren Umgebung ausfindig machen. Sie mit einfachem Werkzeug aus ihrer Umgebung herausbrechen, herausschlagen. Sie vermutlich auf Baumstämmen teilweise über Kilometer heranwälzen. Die Steine aufrichten. Sie nicht einfach planlos auf dem Sandboden aufstellen, sondern so im Boden verkeilen, dass sie für Jahrtausende fest stehen und nicht einfach wie ein Kartenhaus zur Seite umfallen. Und dann das größte aller Rätsel: Die seitlichen Steine nicht bloß irgendwie verbuddeln, sondern exakt so vermessen, dass die unebene Unterseite des schweren Decksteins nicht nur auf zweien wackelnd zu liegen kommt, sondern mit seiner ungleichmässigen Unterseite auf allen Seitensteinen wie auf Hauswänden stabil ruht. Und dann den schweren Deckstein über eine eigens dafür aus Erdreich errichtete Rampen nach oben wälzen – genau in die errechnete Position. Zuletzt den Dolmen mit kleineren Findlingen einkleiden und dann mit Erdreich so bedecken, dass ein Hügel entsteht.

Allen Dolmen gemeinsam ist nicht nur ihre Nähe zu Küste, sondern auch, dass sie Grablegen waren. Noch vor 200 Jahren entdecken Hobby-Ausgräber unter den oben abgebildeten Steinen gleich drei Grabkammern. Und in ihnen die Reste einer alten Kultur: Schaber aus Feuerstein. Klingen. Stechahlen. Gewichte, um ein Fischernetz waagrecht in der Strömung einer Bucht treiben zu lassen, um Fische hineinzujagen. Die kostbaren Zähne eines Pottwals, des größten Wales, der überhaupt Zähne besitzt. Waren sie in der Lage, Wale zu jagen? Die Knochenreste eines Menschen. Hier hatte eine Gemeinschaft ihrem Verstorbenen das Beste und Wertvollste an Ausrüstung mitgegeben, was er für die lange Reise in die Anderwelt und das Leben dort benötigen würde. 

Von den alten Kulturen ist wenig geblieben, nur die Dolmen. Das ist erstaunlich. Die Dolmen überdauerten, weil den nachfolgenden Generationen die Steine zu schwer waren, um sie zu bewegen – sie hatten einfach das detaillierte Wissen wieder verlernt, riesige Steine nur mit Muskelkraft zu bewegen. Das Know-How, das vor 6.000 Jahren da war, mühsam erlernt, war mit seiner Zivilisation wieder verschwunden, verloren. Um sich Häuser zu bauen, begnügten sich nachfolgende Kulturen damit, die kleineren Findlinge aufzuklauben, mit denen die Dolmen einst verkleidet waren, und sie für ihre Behausungen zu verwenden. Übrig blieb, was den Menschen zu groß und selbst den Atlantikstürmen zu gewaltig war: Die schwebenden Steine. Und die Sagen, dass die, die sie errichtet hatten, wohl Riesen gewesen sein mussten.

Auch das ist, was Geschichte und tote Steine erzählen: Was wir einst lernten. Was wir einst konnten. Wozu wir in der Lage waren. Und was wir doch immer wieder vergaßen. Verlernten. Weil plötzlich etwas Neues kam, was das Alte ablöste. Soviel eine Gemeinschaft an Fähigkeiten neu gewinnt, soviel scheint sie im selben Moment auch wieder zu verlernen. Das war bei den Menschen der Dolmen damals vor 6.000 Jahren so wie bei uns heute. 

Als in der Dämmerung der Wind wie fast jeden Abend auf über 20 Knoten auffrischt und der Himmel schon jetzt im August sich wie ein herbstlicher Sturmhimmel färbt, streife ich mit der Kamera durch den Hafen. Ich wüsste zu gerne mehr über das Volk, das die Dolmen hier in der Bretagne schuf. Aber ich bin sicher: Ich werde hier in der Bretagne noch mehr von den alten Steinsetzungen antreffen. Und auf viele alte Steine und ihre Geschichten stoßen – nicht nur auf der Ile d’Yeu, die ich sicher nicht zum letzten Mal besucht habe.

Unter Segeln zur Bretagne: Die Insel Yeu. Port Joinville. Und der Gott des Chaos.

Seit Mitte Mai bin ich von Sizilien aus einhand unterwegs, um 
für mein neues Buchprojekt um die Westküste Europas zu segeln. 
Nach den Balearen, Gibraltar und Portugal und Nordspanien
erreichte ich die französische Atlantikküste mit ihren Inseln. 
Eine von ihnen ist die Ile d’Yeu.

Das Wetter südlich der Bretagne hat Mitte August seine Launen. Während jetzt in Süditalien mit Feuerwerk und Volksfest jedes kleine Kaff Maria Himmelfahrt feiert und die Augusthitze über allem brütet, wache ich im Hafen Bourgenay in dichtem Nebel auf. Das Boot ist tropfnass. Fährt ein Fischer vorbei, höre ich den Schwall, der sich aus dem Bimini aufs Deck ergießt. Statt der windstillen und sonnigen Herbsttage, die ich aus der nördlichen Adria oder von Sizilien kenne, herrscht hier im einen Moment Nebel. Am Mittag Sonne. Und am Spätnachmittag 20 Knoten Wind aus Nordwest. Mein gestriges Ziel, das nur sieben Seemeilen entfernte Les Sables d’Olonne zu erreichen musste ich aufgeben, weil Wind und Strom gegen mich standen. Aufkreuzen brachte keine eineinhalb Seemeilen Strecke in der Stunde. Ich verkroch mich in den Hafen von Bourgenay.

Auch die französischen Atlantikinseln machen die Reise nicht einfach. Zu gerne hätte ich die Ile d’Oleron vor La Rochelle besucht. Oder die Ile de Ré. Doch keine bietet einen guten Ankerplatz und erst recht keinen Hafen: Mit der Tide fallen deren Häfen allesamt trocken. Zum ersten Mal bedauere ich, dass Levje kein Kimmkieler ist: Dann könnte ich einfach in eine der Buchten fahren, bei Ebbe auf einer der Sandbänke parken, könnte einfach dort stehenbleiben in der Wattlandschaft des Atlantiks, wo der Unterschied zwischen Ebbe und Flut mittlerweile bei fünf Metern ist.

Auf dem Weg nach Norden bietet als einzige die sieben Stunden entfernte Ile d’Yeu einen richtigen Hafen. Also mache ich mich gleich am Morgen auf dem Weg, um nicht wieder von der spätnachmittäglichen 20-Knoten-Brise ausgebremst zu werden und den Inselhafen Port Joinville auf der Ile d’Yeu vorher zu erreichen.

Auch vor der Ile d’Yeu liegt eine Nebelbank – trotz Wind – aus der mir plötzlich ein Kutter entgegenkommt. In der Hafeneinfahrt begegnet mir die Schnellfähre, die gerade ausläuft. „Compagnie Yeu – Continent“ steht in großen Lettern auf dem Schiff, als wäre Europa an dieser Stelle ein entlegener Kontinent. Und die Insel Yeu eben ein anderer. Und der enormen Aufgabe, diese beiden Kontinente zu verbinden, hat sich eben die „Compagnie Yeu-Continent“ verschrieben. 

Im Hafen selber geht es eng her. Es ist Feiertag, Maria Himmelfahrt ist auch in Frankreich – mit allen Begleiterscheinungen der Freizeitgesellschaft. Was Beine hat, ist in Port Jointville auf dem Boot, Gedränge, Gasgeben, Hektik schon in der Hafeneinfahrt. Ich gestehe gern, dass auch ich ein Freizeitkapitän bin, doch ebenso gern, dass ich die Feiertage in den Häfen meide: An diesen Tagen herrscht ein unguter Mix aus anpreschenden Schnellfähren, unter Segeln gemächlich einlaufenden Traditionsschiffen, kreuz- und querschießenden Schlauchbooten und wirre Kreise drehenden Anglern. Er erzeugt in der Enge der Einfahrt eine ungute Hektik, bei der man die Augen nicht eine Sekunde vom Wasser lassen kann. Ein Marinero erwartet mich im Boot vor der Einfahrt in die Marina, die zwischen den massiven hohen Steinmolen keine zehn Meter misst. Zwei Schlauchbootfahrer füllern die Einfahrt mit der lebhaften Diskussion, wer denn nun als erster an die kurze Tankpier darf, während ein Angler bei dem Versuch, sich zwischen den Diskutierenden durchzuschieben, dazwischen steckenbleibt und drei andere vorbei wollen.

Ich folge dem Schlauchboot mit dem Marinero in die Gasse – verflixt, ist das eng hier. Zweimal rechts, dann gehe ich längsseits an einer Yacht. Geschafft für heute. 

Doch mein Tag ist damit noch nicht vorbei. Yacht auf Yacht kommt in den Hafen, und die Marineros packen eine nach der andere hinein ins Päckchen – solange, bis vor Levje sieben Yachten liegen. Und dahinter sieben. Und rechts drei. Und links drei. Eine respektable Leistung der Marineros. Doch Levje steckt fest mittendrin im Pulk, während das Wasser in der Marina fällt.

Am nächsten Morgen böet es mit 17 Knoten über dem Hafen. Soweit ist alles gut. Die Schiffe liegen fest und sicher. Gottseidank sagten gestern Abend alle Nachbarlieger, keinesfalls vor Übermorgen los zu wollen.

Doch gestern war gestern. Und heute ist heute. Der Gott, der zuständig ist für Chaos und das Schiefgehen der Dinge: Er hat heute morgen beschlossen, in Port Joinville vorbeizuschauen und im Topf des Marinabeckens einmal kräftig umzurühren. Ausgerechnet die beiden innen am Steg liegenden Boote äußern den Wunsch, doch ablegen zu wollen bei dem Wind. Und das sogleich. Erst ratlose Blicke der anderen 19 Boote. Dann bläst der Gott des Chaos ins Horn. Und in die

Hirne aller Beteiligten die unterschiedlichsten Fragen: „Wie ablegen?“ „Was ist denn dann mein neuer Liegeplatz?“ „Wo soll ich denn dann hin?“ 10 Handfunkgeräte preien die Marina auf Kanal 9 an, um nach einem neuen Liegeplatz zu fragen, während sieben andere Skipper hierfür ihr Handy zücken und die einzige Marina-Angestellte mit einem Anruf beglücken. Die ersten legen ab, vergessen aber Landstromkabel oder Spring, während die ganz Innen schon mal nachdrücklich ihren Motor starten. Der Gott des Chaos lässt die Böen auf 20 Knoten ansteigen, drei Yachten treiben in der engen Gasse und wissen nicht recht, wohin mit sich und dem schönen Tag, während wieder andere loswerfen und erst mal Gas geben, „meine Droge heißt Speed“, auf die enge Gasse mit den drei anderen zu. Die Frau meines Nachbarn zur Rechten, der eigentlich nach mir ablegen müsste, weigert sich bereits jetzt abzulegen, bevor man nicht einen neuen Liegeplatz hätte. Ich bitte meinen Nachbarn, mir doch beim geordneten Ablegen zu helfen, worauf der seine versierteste Kraft an Deck, die zehnjährige Tochter an meinen Festmacher lässt, damit er selber Kopf und Hände frei hat für die verbalen Manöver seiner Frau. Die zehnjährige hält derweil den Festmacher und meine 7,5 Tonnen Levje bei 15 Knoten Seitenwind in der Hand. Ich rufe loswerfen, bevor sie sich verletzt, was sie auch folgsam tut und meine acht Meter Festmacher willig ins Wasser rutschen lässt, während mein Heck noch festhängt. Der Gott des Misslingens ist jetzt voll im Saft, ich spüre seine Blicke auf mir, wie er sagt: „Nun zeig mal, Bürschlein, was Du drauf hast.“ Ich muss erst mein Heck freibekommen und dort loswerfen. Dann Rückwärts entschieden Gas geben. Nach vorne rennen und den Festmacher reinholen, nicht auszumalen, wenn der jetzt in meinen Propeller kommt. Doch alles klappt, ein Wunder wie, ohne in der Enge ein Boot zu touchieren. Ich kann Levje in der Gasse abfangen, hart Ruder legen, um meinen Bug in den Wind zu bekommen. Doch wohin nun?

Ich laufe langsam die Gasse entlang, während links und rechts Yachten mit satter Geschwindigkeit vorbeischießen und den Ausgang aus dem Chaos suchen, koste es, was es wolle. Der Gott des Chaos reibt sich feist die Hände, als mein Nachbar samt Madame mit hoher Geschwindigkeit von hinten fast auf Levje aufläuft. Egal wo, ich nehme einfach eine der freien Boxen links, während wieder ein anderer an mir Richtung Ausgang vorbeischießt, der Gott lässt panische Fluchtgedanken in  Skipperhirnen keimen. Endlich bin ich in der Box. Doch während der Wind uns mit Kraft Richtung Steg schiebt, mühen zwei willige Helfer sich, genau dort meine Bugleinen zu belegen, wo der Wind uns hinschiebt, als wäre dies das Mittel der Wahl, Levjes Bug vom Steg abzuhalten. Ich gebe rückwärts Gas, dann eben so, die Spring muss warten. Als auch sie fest ist, mache ich Bestandsaufnahme, während hinter mir in der Gasse immer noch Yachten eilends dem Ausgang zustreben. Boot fest. Bruch vermieden. Alles gut.

Dann auf in Stadt, um mal etwas von der Ile d’Yeu zu sehen.

Windvane politics

ES WAR EINE SÜNDE WERT

Windvane politics

Windvane politics

ES WAR EINE SÜNDE WERT

Windvane politics

SV Marianne – Ben Schaschek GER

A SONG DEDICATED TO PETER FOERTHMANN

This song is dedicated to the best helmsman in the world. Thank you Peter Foerthmann from Windpilot for steering us effortlessly around the world!
Ben Schaschek
Beyond Elements first official music video release…’Vogelfisch’ written by Claudio Oster.

SV Marianne – Ben Schaschek GER

A SONG DEDICATED TO PETER FOERTHMANN

This song is dedicated to the best helmsman in the world. Thank you Peter Foerthmann from Windpilot for steering us effortlessly around the world!
Ben Schaschek
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La Rochelle: Die Türme. Die Tide. Wie plötzlich das Wasser unter Levje weg war.

Seit Mitte Mai bin ich von Sizilien aus einhand unterwegs, um 
für mein neues Buchprojekt um die Westküste Europas zu segeln. 
Nach den Balearen, Gibraltar und Portugal erreichte ich  
von der Küste Nordspaniens aus die französische Atlantikküste. 

Die Türme der Hafeneinfahrt in den Vieux Port von La Rochelle. Sie zieren jeden Prospekt von La Rochelle, sie stehen auf fast jeder touristischen Webseite. Ich hatte das Bild der beiden Türme im Kopf, als ich mich im Mai von Sizilien aus auf die Reise machte. Ich habe sie nicht vergessen. Ich wollte dorthin, wollte zwischen dem größeren Tour St. Nicolas und dem kleineren Tour de la Chaine hindurchfahren. Bilder lösen etwas aus. Bilder motivieren.

Nun war ich dort. Auch wenn ich die beiden kleineren Leuchttürme rechts daneben im ersten Moment übersah: Es war ein guter Moment. Zufrieden drehte ich meine Runde. Und kehrte dann eine Seemeile zurück, in den Port de Minimes, die eigentliche Marina von La Rochelle, der auch ein Steg im Vieux Port untersteht.

Der Port de Minimes, zu dem ich durch den Kanal im dichten Samstagsverkehr entlang der Spundwände motorte, wartet gleich mit mehreren Superlativen auf. Erstens ist er mit 3.600 Liegeplätzen wohl der größte der Freizeithafen nicht nur in Frankreich, sondern auch in Europa. Und zweitens steht La Rochelle mit fünf Metern Tidenhub auf meiner Liste ganz an der Spitze. War jahrelang mein Rekord in Venedig und den Lagunen von Grado bei 1,70 Meter, hatten mich seit Gibraltar eigentlich immer zwei Meter Tidenhub begleitet. Doch fünf Meter sind noch einmal etwas anderes, auch wenn Royan an der Gironde, der Hafen aus dem ich gekommen war, schon der erste Hafen gewesen war, in den man nicht mehr so mir-nichts, Dir-nichts einlaufen konnte, wie ich wollte. Sondern erst die Flut abwarten musste, über die vor dem Hafen liegenden Flachs drüberzukommen.

Doch mit der Tide macht man ständig neue Erfahrungen. Als ich am nächsten Morgen am Kanal entlang spazierte und dieselben beiden Motive noch einmal aufnahm, sahen Kanal, Betonwand und die Türme in der Ferne ganz anders aus:

Von der breiten Wasserfläche war nichts anderes übrig als das schmale Rinnsal, auf dem sich nur noch ein Schlauchboot bewegte. Auch die Türme ragten nun viel höher.

Fünf Meter Höhenunterschied machten sich auch auf meinem Steg bemerkbar. Gelangte man bei Flut zu Fuß fast eben über die Brücke auf die Pier, an der Levje vertäut lag, so sah dieselbe Landschaft sechs Stunden später ganz anders aus.

Vorher:


Nachher (vom gleichen Standort aus 6 Stunden später aufgenommen):

Die Brücke war plötzlich eine steile Rampe, die sichtlich Mühe kostete und dazu zwang, Anlauf zu nehmen, wenn man ein Fahrrad hinaufschieben wollte.

Doch meine Abenteuer mit der Tide waren damit noch keineswegs zu Ende. In der Nacht am Steg weckten mich ungewöhnliche Geräusche an Bord. Ein Knacken, das aus dem Salon kam. Dann Stille. Vielleicht hatte ich mich getäuscht? Dann war das Knacken wieder da. Ich stand auf, um nachzusehen. Da war nichts. Alles ok. Ich hob die Bodenbretter an. Alles trocken. Ich wollte schon wieder zurück ins Bett, als sich das Knacken ein drittes Mal meldete. Was war da bloss los? 

Ich sah auf die Uhr. Halb zwei. Ob die Tide das war? Levje hat zwei Meter Tiefgang, den ich beim Check-In im Hafen auch angegeben hatte. 

Ich schaltete den Tiefenmesser an, sicherheitshalber. Er brauchte einen Moment. Dann erschienen drei Zahlen im Display: Die 1. Die 3. Die 0. 1,30 Meter??? Dann fehlen ja siebzig Zentimeter, wo Levje doch zwei Meter Tiefgang hat?!? Voller Grausen beugte ich mich über die Bordwand. Tatsächlich. Levjes Festmacher führten steil nach unten und hielten den kleinen Schwimmsteg nach oben. Das war doch nicht möglich?

Ich spurtete nach draußen, wie ich war. Levjes Bug ragte über dreißig Zentimeter aus dem Wasser in die Luft. Levje schwamm nicht mehr, sie stand im Wasser. Ihr Kiel hatte sich 70 Zentimeter, soweit er konnte, in den Schlick des Hafengrunds gebohrt. Nackt, wie ich war, rannte ich in der Dunkelheit unter dem Neumond zu den anderen Booten rings um mich, alles Segelyachten in Levjes Größenordnung. Mindestens zwei von ihnen ragten ebenfalls mit straff gespannten Festmachern aus dem Wasser. Hatten die Marineros mir den falschen Liegeplatz gegeben?

Als erstes taucht in einem solchen Moment reflexartig der Gedanke auf, einfach den Motor zu starten und aus dem Schlammassel rauszufahren. Blödsinn. Doch bemerkenswert, wie sich in so einer Situation Fluchtreflexe einstellen. Ich überlegte. Rief auf dem Smartphone den Tiedenkalender auf. Tatsächlich. Für 1 Uhr 26 war der Pegel tatsächlich auf Null. Nicht auf 1,20 Meter darüber wie sonst meist auch.

Des Rätsels Lösung: Der Mond war schuld. Genauer gesagt: Der Neumond. Neumond bedeutet, dass der Mond zwischen Sonne und Erde steht, was seine Anziehungskraft verstärkt genauso wie bei Vollmond, wo die Erde zwischen Sonne und Mond steht. Bei Vollmond und bei Neumond entsteht die Springtide – eine vom normalen Tidenhub stark abweichende Tide.

Da blieb nur eins. Einfach warten. Und hoffen, dass sich der Kiel nicht im Schlamm festsaugte und diesmal die Erde Levje festhielt. Ich wartete einfach. Das Knacken war nicht mehr zu hören. Das Wasser stieg wieder. Eine Stunde später war Levjes Bauch fast wieder im Wasser.

Die Tide: Ich hatte mir alle möglichen Gedanken gemacht. Aber auf den Mond zu achten: Das hatte ich nicht. 

Die Türme: Ich besuchte sie am nächsten Tag. Neben einem herrlichen Rundblick auf den Hafen und heranziehende Regenschauer kann man von ihnen vor allem eines tun: Einen Blick von oben herunter werfen. Auf die Tide.